Silvester 19/20 – Eine Nacht der Barrikaden! // Ein Jahresrückblick

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Spoiler: 2019 war lang und zäh. Einiges hat sich verbessert, aber wir sind immer noch in der Defensive. Lasst uns 2020 mit einem feurigen und widerständigen Moment beginnen!

Es ist Ende November und in der Glotze laufen schon die ersten Jahresrückblicke. Überall ist das Gleiche zu sehen: Herrschende, die sich die Hände schütteln. Herrschende, die überrascht und schockiert sind von den „Tragödien“ und „Katastrophen“, die sie selbst produziert haben. Herrschende bei PR-Aktionen wie sie diese Krisen „lösen“. Wir - Anarchist*innen, Autonome, Widerständige - kommen in diesen Rückblicken nicht vor. Deshalb schreiben wir unseren Eigenen.

 

 

 2019 – Das Jahr der Entscheidungen in Berlin?

 

Was hatten wir uns vor 2019 gefürchtet, was hatten wir uns erhofft. Die rassistischen Hetzjagden in Chemnitz im August 2018 ließen Schlimmes erahnen, dazu liefen Neujahr die Verträge des anarchaqueerfeministischen Hausprojekts Liebig34, der Kollektivkneipe Syndikat und der autonomen Jugendzentren Potse & Drugstore aus. Später sollten sich G17A und Meuterei dazugesellen. Kämpfe, die die Szene wieder vereinen konnten oder ihr wichtige Orte nehmen konnten. Kämpfe, die uns in die Defensive zwangen, aus der wir rauskommen wollten. Doch 2019 wurde nicht das Jahr der Entscheidungen.

Einen Jahresrückblick aus anarchistischer Sicht zu schreiben fällt uns nicht leicht. Die Auswahl der Ereignisse bleibt subjektiv, die Kritik von einzelnen Momenten oder Dynamiken verkürzt. Deshalb seht ihn als Anstoß an, nicht als Chronik. Viele Aktionen (und Reaktionen) fehlen, auch weil unsere eigene Geschichtsschreibung zu oft vergessen wird und nicht kontinuierlich bearbeitet wird.

2019 war anders als die beiden Jahre zuvor. Der G20-Gipfel in Hamburg bestimmte 2017 die Planung vieler Individuen und Gruppen, 2018 stellte die Verteidigung des Hambis ein ähnliches Großereignis dar, wenn auch völlig anders. 2019 gab es diesen Höhepunkt nicht, vielleicht auch „zum Glück“? Die Konzentration auf einzelne Massenmobilisierungen mit Eventcharakter lässt lokale Organisierung häufig in den Hintergrund fallen. 2019 also als Möglichkeit neue Wege zu gehen? Zum Teil.

Die Kiezkommune arbeitete weiter am Aufbau, Hände weg vom Wedding ging neue Wege hin zu einer Rätestruktur und der Jugendwiderstand löste sich (offiziell) endlich auf. Vom Aufkauf durch neue Eigentümer*innen bedrohte Häuser organisierten sich, meist leider nur um sich anschließend an den Hals von Bürgermeister*innen zu werfen und um staatlichen Vorkauf zu betteln. Die Rote Hilfe hat dank Seehofers Kriminalisierungsversuchen mehr Mitglieder denn je, die FAU wächst dagegen weiterhin nur langsam, das Frauen*streikkommitee hat seine Arbeit aufgenommen.

 

Einiges anders im standardisierten autonomen Kalender

 

Auch auf der Straße gab es einige Veränderungen: Der 8. März wurde in der BRD erstmals wieder zum Frauen*streiktag erklärt. Tausende FLINT* beteiligten sich und organisierten eine Breite von Aktionen, einige abseits der typischen autonomen Aktionspfade. Zwei Monate später brachte auch der 1. Mai Veränderungen: Nach frustrierenden Jahren im entpolitisierten Saufgelage in Kreuzberg 36 zog die „Revolutionäre“ unangemeldet durch Friedrichshain. Zwar blieb ein Kontrollverlust für die Bullen leider aus, trotzdem empfanden viele den Schritt als richtig.
Die Silvio-Meier-Demo fand wie schon 2018 nicht statt. Das ist zwar gelogen, aber die bürgerliche „Antifa heißt Liebe“-Demo, dessen Anmelder sich von militantem Antifaschismus distanzierte, möchten wir nicht mit dem was die Demo bis 2017 war gleichsetzen.

 

Drei Kampagnen zum Preis von einer

 

Während wir zurückblättern, uns durch die Tiefen von Indy arbeiten, fällt uns auf, dass 2019 ganz und gar kein ruhiges Jahr der Organisation war. Vielmehr haben wir das Gefühl, dass wir an tausend Fronten gekämpft haben. Gekämpft gegen die Käfige um uns, dass wir sie immer mal wieder aufgebogen haben, dass wir sie aber nie zerbrechen konnten. Wir hecheln von Käfigwand zu Käfigwand, manche bleiben an einer kleben, wir werden weniger. So sieht zumindest unsere Chronik aus.

Das erste Highlight des Jahres war wohl die Demo gegen den Polizeikongress in Berlin. Eine kämpferische Demo, über die unerklärlicherweise jedoch nicht mal in Berliner Lokalmedien berichtet wurde. Nach 8M und vor dem 1. Mai gab es schließlich Anfang April ein Highlight auf der Straße. Die Mietenwahnsinn-Demo zog tausende auf die Straße, schließlich wurde am Rand der Strecke der ehemalige Bizzim Bakkal wiederbesetzt. Gleichzeitig startete die „Deutsche Wohnen aufkaufen“-Kampagne. Der Laden wurde geräumt, die Kampagne läuft. Der kapitalistische Staat bekämpft nur Gegner*innen, die ihm gefährlich werden. Oder eher einen gefährlichen Ansatz wagen.

Nicht geräumt wurde bis heute der am 25. Mai besetze DieselA, heute Sabot Garten, ein Wagenplatz in der Rummelsburger Bucht. In der gleichen Nacht brannten Barrikaden am Dorfplatz, die einreitenden Bullen wurden mehrmals vorsorglich mit Steinen eingedeckt. Widerständige Orte und Momente, die uns Hoffnung schenkten.

Hoffnung, die uns bei anderen Kämpfen zur Zeit fehlt. Die Blockaden bei Zwangsräumungen werden gefühlt nicht stärker sondern nehmen eher ab, so wurde im August schließlich die Dubliner 8 zwangsgeräumt. Und spätestens mit den groß organisierten TuMalWat-Tagen ging uns - neben vielen optimistischen Dingen - der Glaube an erfolgreiche Besetzungen verloren.

Verloren waren wir auch am 20. September, als wir während des globalen Klimastreiks vergeblich den antikapitalistischen Block suchten. Nicht, weil er zu klein war sondern der Rest der Großdemo von FridaysForFuture zu groß. Wenn eine dezidiert linke Bewegung 2019 sichtbar war und Relevanz hatte, dann FFF. In vielen Ortsgruppen finden antikapitalistische Positionen immer mehr Zulauf. Die Herrschenden haben durch ihre Untätigkeit längst dafür gesorgt, dass auch die Verbindung mit antifaschistischen und antikapitalistischen Protesten wie Ende Gelände enger wird. Gleichzeitig müssen wir uns fragen, ob klimabewegte Bürgi-Kids wirklich das revolutionäre Subjekt sein werden.

Die Proteste in Chile schwächen unsere Zweifel nur ein klein wenig, hier lösten Schüler*innen, die sich Fahrkartenkontrollen widersetzten, militante Massenproteste aus. So sehr, dass die rechte Regierung um Piñera den Ausnahmezustand ausrief und das Militär die Straßen kontrollieren ließ. https://de.indymedia.org/node/42573 Auch unsere Gefährt*innen in Exarchia (Athen) haben zunehmend mit der Repression des Staates zu kämpfen, ebenso die Gilets Jaunes in Toulouse, Paris und den vielen anderen Orten. Immer wieder kam es in Berlin zu militanten Solidaritätsaktionen, wie dem Angriff auf das griechische Konsulat. Schließlich gab es auch in Berlin breite internationalistische Proteste – nach dem Einmarsch der türkischen Armee in Rojava. Immer wieder gehen seitdem tausende Kurd*innen und Freund*innen der Freiheit auf die Straße oder ziehen nachts los um die Profiteur*innen des Krieges anzugreifen. 

In dieser Zeit traf es auch die Profiteur*innen der Verdrängung. Die Interkiezionale zog aus Kreuzberg in den Nordkiez zur Liebig34. Schon auf dem Weg dahin musste die Baustelle von CG in der Rigaer Einiges einbüßen, vieles davon landete schließlich auf den Bullen. Für einen kleinen Augenblick waren sie es, die weg rennen mussten. Zwei Wochen später biss sich der Staat das zweite mal die Zähne an der Liebig34 aus: Erst musste ein Brandsatz im Gericht sichergestellt werden und schließlich lief der Prozess gegen die Bewohner*innen so außer Kontrolle, dass der Termin auf den 13.12. verschoben werden musste.

 

Ganz vergessen hätten wir in dieser Aufzählung fast den Antifaschismus. Dabei gab es hier durchaus positive Seiten: Im Vergleich zu den Vorjahren gab es wesentlich weniger rechte Aufmärsche. Der „Hessmarsch“ fiel ganz aus, Bärgida trägt wesentlich seltener ihre rassistische Scheiße auf die Straßen Moabits und WfD ist auch nicht mehr das, was sie mal waren. Die IB ließ sich gar nicht erst blicken. „Kein Raum der AfD“ sorgte dafür, dass die AfD für ihren Landesparteitag wirklich keinen Raum fanden.

Gleichzeitig gehen Formen direkter antifaschistischer Intervention weiter verloren. Die Erkenntnis, dass standardisierte Sitzblockaden in Berlin von den Bullen einfach geräumt werden, hat sich noch nicht durchgesetzt. Es ist an uns, neue alte Formen antifaschistischen Widerstands zu (be)leben. Damit 2020 nicht jeder Aufruf mit „Antifa heißt Angriff“ enden muss.

 

Raus aus der Ohnmacht!

 

Also, wie wird uns 2019 in Erinnerung bleiben? Das Lückenjahr, bevor die Räumungen kamen? Das Jahr der neuen Wege? Der Anfang vom Ende oder das Ende vom Anfang neuer Versuche?

Vielleicht ist es auch der Herbst-Blues, vielleicht auch nur unser subjektiver Blick. Aber wenn wir an 2019 denken bleibt vor allem Ohnmacht.

Wie oft haben wir auf die Fresse bekommen, wenn wir für unsere Freiheit kämpften. Wie oft wollten wir etwas tun aber guckten nur ohnmächtig zu. Wie oft konnten wir agieren und wie oft blieb uns nur das reagieren.

 

In einem schlauen Text, den wir leider nicht mehr finden, hat jemand geschrieben, die linke Szene verwalte die vergangenen Aufstände und Revolutionen. Sie sei nicht die Kraft, aus der Neue enstehen. Manchmal müssen wir dem Recht geben. Wozu brauchen wir unsere Hausprojekte, wenn wir gesellschaftlich marginalisiert und unbedeutend geworden sind. Wozu brauchen wir unsere riesige Infrastruktur, wenn zu unseren Kundgebungen und Demos nur wir selber kommen. Wozu unsere aufs Feinste ausgearbeiteten Kampagnen, wenn wir die Wut der Menschen nicht verstehen, mit denen wir kämpfen wollen.

Wir haben kein fertiges Konzept, wie wir uns aus unserer schon tausend mal beschriebenen Krise befreien können. Doch wir finden, dass wir uns noch so ein Jahr wie 2019 nicht leisten können. Unterbrechen wir unsere aufwändigen Defensivkämpfe und nehmen uns die Zeit, wirklich revolutionäre Strukturen aufzubauen. Diskutieren wir, mit wem wir kämpfen wollen. Lernen wir die Menschen kennen, für die wir so oft angeben zu kämpfen. Machen wir uns mit ihnen gemein. Glauben wir an das revolutionäre Potential in der Bevölkerung. Erarbeiten wir Organisationsformen, die uns weiterbringen.

 

Fight your local suppressor!

 

Doch vorher laden wir euch ein. Zeit für ein bisschen Aufstandsromantik! Ein autonomer Jahresabschluss kann nur auf der Straße stattfinden. Also: Zeit, die Ohnmacht zu überwinden! Wir wissen, dass wir mit unseren Raketen keine bösen Geistern verjagen müssen um ein besseres Leben zu haben. So oft wurden wir klein gemacht, verletzt, ausgegrenzt. Egal ob Arbeitsamt, Burschenschaftshaus oder Amazonbüro, Ziele haben wir genug. Lasst uns für eine Nacht unregierbar sein! Lasst uns die Feuer, die letztes Jahr am Hambi brannten nach Berlin und überall tragen!

 

Ein Riot ersetzt keine langfristige politische Strategie, aber ein Moment des Widerstands kann uns allen gut tun! Schmiedet Pläne, verbindet unsere Kämpfe und sorgt für brennende Barrikaden im Herzen der Bestie!

Merry Crisis and a happy new fear!

 

 

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Ergänzungen

Hier gibt es alle mit Berlin getaggten Artikel von Indy von neu nach alt: "Berlin"
(Der Artikel hier ist als "Berlin [B]" leider wie viele andere so getaggt, dass man ihn so nicht finden wird.)

Aktionistisch gehts hier durchs Jahr: https://chronik.blackblogs.org/?tag=berlin

"In einem schlauen Text, den wir leider nicht mehr finden, hat jemand geschrieben, die linke Szene verwalte die vergangenen Aufstände und Revolutionen."

Könnte das dieser hier sein? https://dasgrossethier.wordpress.com/2019/11/04/wozu-ist-die-linke-szene...