GATS: Heute noch umsonst, morgen schon unbezahlbar

Tina, The Great GATSby 02.10.2002 22:31 Themen: Bildung Globalisierung Soziale Kämpfe Weltweit
Eigentum verpflichtet - auch bei den GATS-Verhandlungen

Das GATS, zu deutsch etwa Allgemeines Abkommen über Handel von Dienstleistungen, wird ohne demokratisches Mitspracherecht nach Wünschen von Konzern-Lobbyisten und WTO eingeführt.Was das bedeutet? Heute noch zum großen Teil selbstverständliche Dinge wie Bildung, Wasser- und Gesundheitsversorgung werden bald zum Luxus.
[ www.gats.de ] -[ www.gats-kritik.de ] -[ stoppgats.at ] -[ www.gatswatch.org ] -[ Education is not for sale ]
Massive Streiks und Demonstrationen gegen die Bildungspolitik || Wasser ist keine Ware

Aktuell:
PISA - ein Ablenkungsmanöver?
Hintergrund:
- Was ist GATS?
- GATS: Wer jetzt nicht handelt, wird verkauft!
- GATS: European Services Forum
- Globalisierung - von 1947 bis GATS
- G8, WTO (inkl. GATS, GATT + TRIPS) und IWF
- GATS: das ist was ganz fieses
- GATS-Protestaktion: Beispiel Kolumbien
- GATS? Studiengebühren? Aktionstag gegen Bertelsmann!
- STOP THE GATS ATTACK!
- GATS-Bildung: EU fordert doch Liberalisierung
- Monopolisierung der Trinkwasserversorgung
- WTO plant Abschaffung parlamentar. Kontrolle

Eigentum verpflichtet - auch bei den GATS-Verhandlungen: Wie Konzerne sich um Mitspracherecht bei der Liberalisierung des Welthandels mit Dienstleistungen gar nicht erst bemühen müssen.

13-15 November 2002 WTO-Gipfel:
WTO in Sydney || a href="http://sydney.indymedia.org/"target="_blank">Sydney Indymedia || Sydney Social Forum || N14 Mailingliste

1999, Seattle, Sieg von 50 000 Menschen gegen WTO und GATS-Vormodell MAI:
>1<</a> || >2<</a> ||>3<</a>
GATS? Nie gehört!

Die Vertretung von Konzerninteressen auf dem Weltmarkt für Dienstleistungen scheint nicht allzu schwer zu sein. Während die meisten Menschen der 144 WTO-Staaten (WTO = World Trade Organisation) noch nichts von den internationalen GATS-Verhandlungen (General Agreement on Trade in Services) wissen, geschweige denn sich den möglichen Konsequenzen daraus für ihr Leben bewusst sind, betreiben Konzerne eifrig Lobbyarbeit.


Wasserrechnung nicht bezahlt? Tut uns Leid!

Wenn Dienstleistungen liberalisiert und öffentliche Grundversorgungen wie Wasser, Gesundheit und Bildung dem Diktat des freien Markts unterworfen werden, muss man selbstverständlich in den Prozess miteinbezogen werden. Schließlich weiß man selbst am besten, wie die eigenen Interessen lauten. Jetzt gilt es sie rechtzeitig gut zu vertreten, um ein großes Stück vom Dienstleistungskuchen abzubekommen. Das haben auch Unternehmen wie Allianz, ARD, Bertelsmann AG, Commerzbank, Daimler Chrysler, Deutsche Post und Telekom, IBM und Vivendi Universal verstanden. So haben sie sich mit 34 weiteren Unternehmen sowie 37 Verbänden der Dienstleistungsindustrie im September 1998 zum "European Services Forum" zusammengeschlossen.


Wir wissen was Ihnen teuer ist!

Auf seiner Website (http://www.esf.be/) beschreibt sich das ESF 1 folgendermaßen: "Das ESF ist ein Netzwerk von VertreterInnen aus dem europäischen Dienstleistungssektor mit dem Ziel ihre Interessen im eur. Dienstleistungsbereich wahrzunehmen und den Dienstleistungsmarkt in Zusammenhang mit den GATS2000 Verhandlungen weltweit zu liberalisieren."


Leben Sie, wir kümmern uns um den Rest

Die VertreterInnen des ESF treffen sich regelmäßig mit der 133er-Kommission (bestehend aus der EU-Kommission und den Handels- bzw. WirtschaftsministerInnen der EU-Mitgliedstaaten), die unter Ausschluss der Öffentlichkeit die Liberalisierungsforderungen an andere Länder ausarbeitet. Solche Forderungen bilden die Basis bei den GATS-Verhandlungen. Die WTO-Mitgliedstaaten sollten ihre Forderungen bis zum 30.06.02 formulieren. Die EU, die für ihre Mitgliedsländer verhandelt, stellte insgesamt 109 Liberalisierungsforderungen an andere Länder. Diese wurden im Detail nie veröffentlicht. In einer Pressemitteilung des ESF vom 4. Juli 2002 heißt es interessanterweise, "Die europäische Dienstleistungsindustrie hat aktiv an den offenen Beratungen der EU-Kommission und deren Mitgliedstaaten teilgenommen und wird die (Dienstleistungs-)Verhandlungen auch weiterhin eng verfolgen. Herr Buxton (Vorsitzender des ESF und der Bank Barclays PLC) sagte, dasser den offenen Prozess begrüße, in welchem die Kommission allen Betroffenen die Gelegenheit gibt, ihre Meinung zu äußern."


Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß

Während die Parlamentsabgeordneten der EU-Staaten sowie des Europäischen Parlaments lediglich ausgewählte unvollständige Informationen erhielten, wird und wurde das European Services Forum nach eigener Aussage aktiv mit in den Prozess einbezogen. Der Organisation Corporate Europe Observatory (CEO) wurden Papiere zugespielt, aus denen deutlich hervor geht, dass die EU das European Services Forum stets über die laufenden GATS-Verhandlungen informiert hat.2 Doch viele Dokumente, die die Kontakte und Zusammenarbeit belegen, bleiben unter Verschluss. Ein von 90 Organisationen unterschriebener offener Brief an Pascal Lamy (EU-Handelsminister) und die Regierungen der EU-Mitgliedsländer mit der Aufforderung, die Forderungen an andere Länder publik zu machen, blieb bis heute unbeantwortet.


Herr Direktor sie haben was liegen lassen, "Abschaffung von kostenfreier Bildung" ?

Wenigstens scheint es ein paar undichte Stellen zu geben, so das hin und wieder Dokumente an die Öffentlichkeit geraten, die nicht für sie bestimmt sind. So findet ihr einige "GATS Requests" auf http://www.gatswatch.org/requests-offers.html .Bis zum 31.03.03 soll jeder WTO-Mitgliedstaat sein Verhandlungsangebot auf der Grundlage der an ihn gerichteten Forderungen erarbeiten. Auch über die Forderungen, die bislang an die EU gerichtet wurden, wird nur ungenaues bekannt.3 Fest steht aber, dass u.a. Forderungen eingegangen sind, den Schutz des öffentlichen Bildungssektors im Bereich "Höhere Bildung" und "Erwachsenenbildung" aufzugeben. Mit einer solchen Forderung war zu rechnen. Schließlich bietet es sich für Bildungsanbieter nicht gerade an, einen Standort zu wählen, der aufgrund eines konkurrenzlos günstigen da öffentlichen Bildungsangebot kaum zahlungsgewillte Kundschaft bereithält.4


Che: Para Studiengebühren siempre! "Autonome" Hochschulen entfesselt?

Die strebsamsten Unternehmen schaffen sich natürlich nicht nur auf internationaler Ebene Gehör, was ihre Wünsche angeht. Die Bertelsmann Stiftung beispielsweise agiert auch auf nationaler Ebene. Ein eigens gegründetes "gemeinnütziges und unabhängiges" Centrum für Hochschulentwicklung (http://www.che.de) fordert Studiengebühren und macht Hochschulrankings, die dann das Bertelsmann-Magazin "Stern" publiziert. "Als Leitbild dient (dem CHE) die Idee der "entfesselten Hochschule". Sie ist autonom, wissenschaftlich, profiliert und wettbewerbsfähig, wirtschaftlich, international und neuen Medien gegenüber aufgeschlossen." (http://www.che.de/html/ziele.htm)


Bertelsmann: Willkommen im Club! / Wollt Ihr den totalen Markt? / Ihre Schule wurde Ihnen präsentiert von...

Das durch steuerliche Entlastungen vergrößerte Kapital der Bertelsmann AG kommt der Stiftung zu Gute " was wiederum Steuern spart. Mit Mitteln gut ausgestattet wird sich auf das Politikfeld begeben und schnell werden eigene Ideen verwirklicht. Das Bildungsministerium als Joint-Venture Partner von Bertelsmann " in NRW und anderen Bundesländern längst Realität.
Das im Juni ausgelaufene Projekt "Wirtschaft in die Schulen!" 4, 5, organisiert von Bertelsmann- , Heinz Nixdorf und Ludwig-Erhard-Stiftung "in Kooperation mit dem Ministerium für Schule, Wissenschaft und Forschung" NRW, sorgt schon mal dafür, dass die Akzeptanz und Alternativlosigkeit zum derzeitigen Wirtschaftssystem möglichst früh eingebläut werden. So gibt es z.B. Unterrichtsmaterial, mit dem anhand des Beispiels "Popmusik" gezeigt werden soll, wie toll Kapitalismus funktioniert. Ziel ist wohl auch, das Denken in Marktgesetzen wirksam auf weitere gesellschaftliche Bereiche auszuweiten. Deutlich wird das auch bei der zunehmenden Betrachtung der Schule als Unternehmen.
Durch das im August 2002 an zunächst 238 Schulen in NRW angelaufene Modellvorhaben "Selbständige Schule" 6 von Bildungsministerium und Bertelsmann-Stiftung, wird einmal mehr deutlich, welche Entwicklung die bislang öffentlichen, halbwegs demokratisch organisierten Schulen einschlagen. Die betroffenen Schulen sollen in 5 Arbeitsbereichen modellhaft demonstrieren, dass Schulen quasi als unternehmensähnliche Einrichtungen besser funktionieren, wenn SchulleiterInnen Dienstvorgesetzte der LehrerInnenschaft sind, wenn Schulen Personal- und Sachmittelbewirtschaftung in Eigenregie betreiben können, wenn die LehrerInnenschaft weniger Mitbestimmungsrechte hat, Unterricht dauerevaluiert wird (wobei die Kriterien der Evaluation hauptsächlich extern gesetzt werden sollen) und Schulen in einen Wettbewerb auf einem 'Bildungsmarkt' untereinander eintreten. Wesentliche Merkmale des Modellvorhabens sind zum einen das jeweils eigene Budget der Schulen, das ihnen erlaubt, für ihr Geld entweder neue LehrerInnen einzustellen oder Sachmittel oder Renovierungen etc. zu finanzieren. Angesichts chronisch geleerter öffentlicher Kassen besteht die Gefahr, dass Budgets nur zu halten sind, indem private Sponsoren an Land gezogen werden. Die Projektleitung des Modellvorhabens übernimmt die Bertelsmann-Stiftung. Nach sechs Jahren findet eine (von mehreren) Evaluationen statt und "erfolgreiche" Umstrukturierungsmaßnahmen und Änderungen sollen daraufhin NRW-weit übernommen werden.



1 Das ESF über sich selbst und seine Ziele: http://www.esf.be/f_e_abou.htm#topDie Mitglieder des ESF: http://www.esf.be/f_e_memb.htm#top
Das us-amerikanische Gegenstück zum ESF ist die United States Coalition of Services Industries (USCI): http://www.uscsi.org
Infos über weitere Lobbyverbände findet ihr z.B. auf http://www.transnationale.org/anglais/dossiers/institutions/europe.htm und http://www.transnationale.org/anglais/dossiers/institutions/commerce.htm
Bericht "GATS 2000: Corporate Power at Work" vom Transnational Institute auf http://www.tni.org/reports/wto/wto4.pdf
2 http://www.gatswatch.org/ECaccess.html
3 Forderungen der EU an andere Länder:http://www.attac-netzwerk.de/gats/summary-gats-requests-eu.rtf
Forderungen an die EU:http://www.attac-netzwerk.de/gats/summary-gats-forderungen-an-eu.rtf
4 Mehr Hintergründe zu der Thematik in folgendem Artikel: http://education.portal.dk3.com/article.php?sid=194
5 http://www.ioeb.de/de/projekte/wis
6 http://www.selbststaendige-schule.nrw.de

Aktuelle Infos über GATS findet ihr auf www.gatswatch.org oder www.gats-kritik.de.Auf www.gats-kritik.de könnt ihr auch GATS-Postkarten bestellen.
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Ergänzungen

Werbung.. nich böse sein!!!

02.10.2002 - 23:23
Der neue "Störi" is raus, also macht euch auf die Socken!! Hotrats und BWA (in Magdeburg) haben ihn aufjedenfall. Ansonsten auch unter: www.black-red.de

http://www.gats.de

03.10.2002 - 13:07

GATS reader

Education is not for sale 04.10.2002 - 11:30
Auf  http://www.education-is-not-for-sale.org (deutschsprachige seiten) könnt ihr den GATS-reader (Artikeln über GATS und Bildung) vom Asta Bochum downloaden. Die pdf datei hat 67 seiten und 2.32 MB groß.

Da habt ihr's!

Montesquieu 04.10.2002 - 18:24
Unter www.gats.de kann man nachlesen:

"Die Einwilligung zu GATS hat die Europäische Union stellvertretend für ihre Mitgliedsländer gegeben. . Jedoch wurde diese Verpflichtung eingegangen, ohne jemals eine öffentliche Diskussion darüber zu führen, obwohl nahezu alle Teile der Bevölkerung von den direkten Auswirkungen von GATS betroffen sind."

Eben. Weil Europa (noch) nicht demokratisch funktioniert. Vor allem muß man das Vetorecht abschaffen und dem EU-Parlament die gesetzgebende Gewalt erteilen.
Sonst wird so was immer öfter vorkommen.

@montesquieu

helgoland 04.10.2002 - 19:13
naja, was soll das bringen? in deutschland gibts auch ein parlament und trotzdem ist es hier nicht schön. sieh mal, die, die die mehrheit im bundestag haben stellen auch den wirtschaftsminister und der hat spaß bei den gats verhandlungen. was will das parlament da machen? ist in der mehrheit doch eh die gleiche parteienkonstellation im bundestag wie in der regierung. außerdem sind parlamente doof. ich gebe keinem die macht, über mein leben zu bestimmen. und wenn wir das alle nicht tun würden, gäbe es keine dummen parlamente und regierungen.

@helgoland

Montesquieu 04.10.2002 - 20:44
"ich gebe keinem die macht, über mein leben zu bestimmen."

Ein stolzes Wort!

Aber mit den Typen, die dir das Trinkwasser und den Strom etc. ins Haus liefern sollen (und dafür arbeiten und Geld ausgeben), mit denen mußt du dir schon in der einen oder anderen Weise einig werden, nicht?
Und wenn du die gesellschaftliche Mehrheit gegen dich hast, dann liegt das nicht am parlamentarischen System.
Die Schwierigkeit, liebes helgoland, deinen Egoismus mit den Egoismen der anderen irgendwie abstimmen zu müssen und dabei auch Grenzen und Pflichten zu akzeptieren, wird dir immer erhalten bleiben - egal ob mit Parlament oder ohne.

@monte

helgoland 05.10.2002 - 02:51


"Aber mit den Typen, die dir das Trinkwasser und den Strom etc. ins Haus liefern sollen (und dafür arbeiten und Geld ausgeben), mit denen mußt du dir schon in der einen oder anderen Weise einig werden, nicht?"

gebe ich ihnen damit macht, über mein leben zu bestimmen?

"Und wenn du die gesellschaftliche Mehrheit gegen dich hast, dann liegt das nicht am parlamentarischen System."

was sind bitte mehrheiten? in der kapitalistischen medienlandschaft gibts immer genau zwei seiten zu einem thema - gut und böse eben, ist ja schön einfach. und ich sage, dass ein dieses parlamentarische system ein kapitalistisches ist (anders könnte es höchstens in der theorie sein)

"Die Schwierigkeit, liebes helgoland, deinen Egoismus mit den Egoismen der anderen irgendwie abstimmen zu müssen und dabei auch Grenzen und Pflichten zu akzeptieren, wird dir immer erhalten bleiben - egal ob mit Parlament oder ohne."

aber mit parlament ist die kraft zur durchsetzung von interessen oder zur durchsetzung des egos eben immer ungleich. und DANN passiert sowas wie gats. übrigens ist der satz "sonst passiert sowas demnächst häufiger" komisch. "sowas" ist in kapitalistischen systemen immer passiert, es gehört dazu. wenn alle plötzlich aufhören nach vorteilen und profit zu streben, würde sich damit das system selbst widersprechen. aber das passiert eh nie. umgekehrt muss das system, um sich selbst zu erhalten, konsequent neue märkte erschließen usw. deshalb kommt ja auch nicht plötzlich gats vom himmel geregnet. es ist nur ein schritt in einer langen kette, die nicht erst jetzt anfängt. es gibt keinen guten kapitalismus, der eingegrenzt und von parlamenten geregelt wird.

GATS und Bildung - Seminar auf dem ESF

Ole 06.10.2002 - 01:04
im Rahmen des ESF haben wir heute auf dem europaeischen Vorbereitungstreffen in Barcelona das Seminar zu GATS und Bildungsprivatisierung abschliessend besprochen.

Redner fuer "Education is not for sale!" ist Faz Velmi aus Grossbritannien, beteiligt sind zahlreiche SchuelerInnen udn Studierendenorganisationen aus ganz Europa.

Zudem wird es eine erneutes europaweites Vernetzungs-treffen im Rahmen des ESF geben.

Wird ´ne spannende Sache, also kommt mit nach Florenz...

ESF ist nicht ESF

06.10.2002 - 15:47
nur nicht verwechseln, ESF (S = Service) und ESF (S = Social).

gats mag pisa

j.a. 07.10.2002 - 03:56
artikel zur pisa-studie, die sich auch auf gats beziehen, findet ihr auf
 http://www.indymedia.de/2002/10/31006.shtml und
 http://www.indymedia.de/2002/10/31031.shtml

interessant ist auch folgender artikel zu pisa und der oecd:  http://www.links-netz.de/K_texte/K_klausenitzer_oecd.html

Bertelsmann und die Rechtschreibung

hektor 11.10.2002 - 13:56
Wer mit den Hintergründen der sogenannten Rechtschreibreform näher vertraut ist, weiß auch, daß Bertelsmann sehr aktiv die Rechtschreibreform vorangetrieben hat.

Dazu eine sehr bezeichnende Pressemitteilung vom 3.10.1997:

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Bonn (AP) Mit einer neuen Aktion werben deutsche Schulbuchverlage bei Bundestagsab­geordneten für die Rechtschreibreform. Den Parlamentariern wurde das Buch „Wider­worte: Lie­ber Herr Grass, Ihre Aufregung ist unbe­gründet“ zugestellt. Wie der AOL-Ver­lag am Mitt­woch in Bonn ferner mitteil­te, enthält die Publikation Antworten an Gegner und Kritiker der Rechtschrei­b­reform.
In diesem Jahr hätten AOL und Bertelsmann Wörter- und Rechtschreib­bücher an alle 40.000 Schulen verschickt, erklärte ein Verlagssprecher. Der AOL-Verlag habe mit eige­nen Büchern so­wie durch Koproduktionen mit den Verlagen Bertelsmann und Rowohlt dafür gesorgt, daß alle Schulen seit April 1996 regelmäßig und mehrfach Arbeitsbücher, Nachschlagewerke sowie Lehr- und Lernmittel zur neuen Rechtschreibung erhielten. Mit der Zusendung des neuen Buches wur­den die Bundestagsabgeordneten aller Parteien ge­beten, „die Geschichte der Rechtschreibreform und die Gegenargumente zu den Angrif­fen der Reformgegner zur Kenntnis zu nehmen und zu ge­wichten“.
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Anmerkung: Das hier genannte AOL hat mit dem Onlinedienst gleicher Abkürzung nichts zu tun.

Eine neue Rechtschreibung erzeugt neue Nachfrage. Viele Eltern kaufen ängstlich neue Kinder- bzw. Jugendbücher für ihre Sprößlinge, weil der Bestand des heimischen Bücherschranks sie ja womöglich an die "veraltete" Rechtschreibung gewöhnen könnte und ihnen dann Zensuren verhagelt! Oh je, bloß das nicht, die schulische Laufbahn des lieben Kindes wird einem doch wohl die eine oder andere Neuanschaffung wert sein! Außerdem nutzt Bertelsmann die Reform, um Duden die Marktführerschaft in Sachen Wörterbücher streitig zu machen (die Marke "Wahrig", die Bertelsmann dazu erwarb, wurde für ein Rechtschreibwörterbuch genutzt, das dem Duden-Pendant schon äußerlich bemerkenswert ähnlich sieht). Die angebliche Vereinfachung der Rechtschreibung durch die sogenannte Reform ist vielfach widerlegt (siehe z. B. Diskussionsforum auf www.rechtschreibreform.com), die große Mehrheit der Bevölkerung ist dagegen (siehe  http://www.rechtschreibreform.com/Seiten2/Wissenschaft/101Umfrageergebnisse.html,  http://www.ifd-allensbach.de/news/prd_0207.html), so gut wie alle namhaften deutschsprachigen Schriftsteller lehnen sie ausdrücklich ab (siehe auch "Frankfurter Erklärung" anläßlich der Buchmesse von 1996,  http://www.tu-berlin.de/fb1/AGiW/Cricetus/SOzuC1/SOVsRSR/ArchivSO/FfmErkl.GIF).

Zitat aus "Regelungsgewalt" vom Rechtschreibreformkritiker Professor Theodor Ickler:

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Der Bundeselternrat führte im Oktober 1997 zur Unterstützung der gefährdeten Reform eine Anzeigenkampagne in zahlreichen großen Zeitungen durch, die mehrere hundert­tausend Mark gekostet haben muß. Der Vorsitzende Peter Hennes wollte auf Befragen nicht mit­teilen, wer die Kampagne bezahlt habe. Dem Vernehmen nach war es „eine Verlags­gruppe“. Im August und September 1998 führte der Verband der Schulbuch­verleger eine 400.000 DM teure Kampagne zur Beeinflussung des Volksentscheids in Schleswig-Holstein durch.
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Dieser Volksentscheid war seinerzeit dennoch erfolgreich und installierte folgende Gesetzespassage, die willkürliche Änderungen an der Schriftsprachnorm über die Hintertür des Schullehrplans ausschließen sollte:

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In den Schulen wird die allgemein übliche Rechtschreibung unterrichtet. Als allgemein üblich gilt die Rechtschreibung, wie sie in der Bevölkerung seit langem anerkannt ist und in der Mehrzahl der lieferbaren Bücher verwendet wird.
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Stimmzettel:  http://www.rechtschreibreform.de/VolksIBE/RRStimmzettel.gif

Abstimmungsbeteiligung: 76,4%
Für die Vorlage der Volksinitiative stimmten: 56,4%
Für die Vorlage des Landtags stimmten: 29,1%
Für die Ablehnung beider Vorlagen stimmten: 14,6%

Das entspricht in etwa auch den demoskopischen Bild, das Allensbach noch dieses Jahr ermittelt hat.

Im September 1999, also kaum ein Jahr später, beschloß der schleswig-holsteinische Landtag EINSTIMMIG, diese per Volksentscheid eingeführte Gesetzespassage zu streichen! Bahn frei für eine künstliche Änderung der Verschriftungsnorm gegen das Mehrheitsurteil der Wähler. Tolle Demokratie, gell? Ein bedenklicher Präzedenzfall für etwaige künftige Sprachänderungen a la Orwells "Neusprech" (man beachte, daß auch die Rechtschreibreform mit ihren Änderungen schon in Bereiche der Grammatik und Semantik eingreift; am schwersten in Bereichen, die nachweislich der natürlichen Sprachentwicklung zuwiderlaufen!).

Die Presse und anderen Medien, in denen es nur noch wenige Schwergewichte gibt, die nicht von Bertelsmann und Co. dirigiert werden, leistet seit der Umstellung der Nachrichtenagenturen 1999 ihren Beitrag, die sogenannte Reform als unabänderliches Schicksal darzustellen.