(B) Die Zeit steht nicht still – Achtsamer Protest in Zeiten von Corona und Ausnahmezustand

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Am 28.3.2020 sind wir am Kottbusser Tor zusammengekommen, um in Zeiten von Corona und Ausnahmezustand auf angepasste Art zu protestieren. Denn die Zeit steht nicht still. Zwangsräumungen, Abschottung an den Grenzen, soziale Missstände etc. gehen weiter, verschieben und verschärfen sich. Unsere politische Verantwortung bleibt bestehen. Deshalb wollen wir neue Konzepte des Aktivismus miteinander ausprobieren.

 

Hintergrund und Motivation

Wir sind Menschen verschiedenen Alters, mit und ohne Vorerkrankungen, aus Risiko und nicht-Risiko-Gruppen. Wir sind Menschen aus verschiedenen politischen Kontexten und mit verschiedenen politischen Schwerpunkten, die neben ihrer sozialen Verantwortung gesundheitlich aufeinander Acht zu geben, auch die Verantwortung sehen, auf politische Missstände (u.a. zu dem Thema "Gesundheit für alle") aufmerksam zu machen. Während derzeit "Social Distancing" als wichtigste Form der sozialen Verantwortungsübernahme gewertet wird, denken wir, dass es weiterhin Protest auf der Straße braucht. Wir wollen unsere politische Verantwortung nicht abgeben, sondern sie weiterhin wahrnehmen – gerade in unsicheren Zeiten wie diesen.

Regierungen drücken derzeit innerhalb weniger Tage neue Maßnahmen durch, welche Grundgesetze aushebeln. Dazu gehören Kontakt- und Ausgangssperren, Überwachungsmaßnahmen, Grenzschließungen und Versammlungsverbote. Repression nimmt durch Präsenz, Kontrollen und Anzeigen durch Polizei zu. Lockerung des Datenschutzes, Kurzarbeit und Kündigungen sind nur einige der Folgen. Immer mehr Menschen sind von Armut betroffen und wissen nicht wie sie Ihre Miete bezahlen sollen. Doch Quarantäne "zu Hause" und Hamstereinkäufe können sich nicht alle Menschen leisten bzw. haben keinen Zugang dazu. Viele Menschen haben dieses "zu Hause" nicht, genauso wenig eine Krankenversicherung. Das Gesundheitssystem innerhalb der kapitalistischen Ordnung hat Profit anstatt dem Wohl und der Gesundheit aller als Ziel. Aktuell sehen wir, dass diese Ordnung in Dynamiken gerät, deren Verlauf in alle Richtungen gehen kann und diejenigen, die sich nicht in ihren warmen Wohnungen isolieren können oder für die "zu Hause" keine Sicherheit darstellt, trifft es umso härter. Häusliche Gewalt nimmt zu und schutzbedürftige Frauen* können der Gewalt schwerer entkommen, Beratungen und Frauen*häuser werden immer rarer. Menschen in Knästen und Altersheimen werden isoliert, Notunterkünfte geschlossen. Zahlreiche Sammelunterkünfte werden nach außen hin abgeriegelt und sich selbst überlassen - ohne medizinische Versorgung, ausreichend sanitäre und hygienische Ausstattung. Gleiches gilt für die Lager an den Außengrenzen Europas. Und während Menschen an diesen Grenzen durch Polizei- und Militäreinsätze sterben, wurde und wird aus Deutschland weiterhin abgeschoben, Resettlementverfahren ausgesetzt, Asylverfahren auf vielen Ebenen erschwert.

Die genannten Beispiele zeigen, dass neben medizinisch notwendigen auch unnötige, menschenverachtende und politisch motivierte Maßnahmen durchgesetzt werden. Und sie zeigen, dass es dabei nicht um Gesundheit und "Sicherheit" aller, sondern die einiger weniger geht. Darauf gilt es aufmerksam zu machen!

Für uns gibt es keine individuellen Lösungen in der Vereinzelung. Wir sehen unsere soziale und politische Verantwortung nicht vorrangig im physischen uns Distanzieren und die Füße stillhalten. Dem wollen wir entgegentreten und neue kreative Arten des Zusammenkommens und Aktivwerdens ausprobieren. Wir wollen weiter auf die Straße gehen, denn Protest lässt sich nicht auf den digitalen Raum auslagern! Dabei achten wir auf unsere Gesundheit und die von anderen. Wir wünschen uns Gesundheit und Gesundheitsversorgung für alle Menschen. Doch wir wünschen uns auch Freiheit für alle.

 

Aktion

Am Samstag kamen wir allein oder zu zweit am Kottbusser Tor zusammen, um unseren aktuellen und diversen politischen Anliegen Ausdruck zu verleihen. Dazu gehörten unter anderem die Forderungen zum Ende des Mietenwahnsinns und die Vergesellschaftung von Wohnraum, die sofortige Auflösung der skandalösen Lager für Geflüchtete auf den griechischen Inseln, die Schaffung sicherer Fluchtwege nach Europa, die Beschlagnahmung von leerstehendem Wohnraum für Obdachlose, eine bessere Bezahlung für Pflegekräfte, ein Ende rassistischer Polizeikontrollen und der Erhalt bedrohter alternativer Projekte.

Die Aktion war so geplant, dass -vor dem Hintergrund der aktuellen Corona-Pandemie- das Infektionsrisiken ausgeschlossen bzw. minimiert werden sollte. Wir riefen dazu auf, dass Menschen alleine oder zu zweit kommen, mindestens 2 m Abstand zueinander halten sollten und Schutzmasken und Sonnenbrillen tragen sollten. Diese Maßnahmen sollten auch der Unkenntlichmachung der Personen dienen. Menschen konnten Transparente, Schilder, Megaphone und Lautsprecherboxen mitbringen. Das Zeitfenster legten wir auf 30 min (14-14.30 Uhr) fest. Die Mobilisierung geschah nur über Mundpropaganda und über Signalnachrichten an Einzelpersonen.

Pünktlich um 14 Uhr begannen etwa 200 Menschen sich rund um das Kottbusser Tor auf den zahlreichen Flächen zu verteilen. Einige der Kleingruppen gingen auf die Straße und blockierten somit den Verkehr. Ab etwa 14:15 Uhr wurde ein Polizeiaufgebot zusammengezogen. Die Bullen brauchten einige Zeit sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen. Sie fingen zunächst an Beteiligte der Protestaktion zu filmen und drängten sie anschließend durch verbale Aufforderungen auf einen kleinen Bereich zwischen Kottbusser Damm und Reichenberger Straße zusammen. Dort erfolgte die Durchsage, dass die Demonstrierenden gegen das Infektionsschutzgesetz verstießen und sich somit strafbar machten. Gegen 14:30 Uhr verließen die Kleingruppen in alle Richtungen das Kottbusser Tor.

Im Anschluß an die Protestaktion wurden mindestens 9 Menschen in nah und fern gelegenen Seitenstraßen von den Bullen gestoppt. Nachdem sie sich bis zu einer Stunde im Polizeigewahrsam befanden, wurde ihnen mitgeteilt, dass gegen sie ein Strafverfahren wegen Verstoß gegen das Infektionsschutzgesetz und der Teilnahme an einer verbotenen Versammlung eingeleitet worden sei. Teilweise wurden die Festgehaltenen durchsucht und durch extra herbeigeschaffte Polizeifotografen unter Androhung von Zwangsmitteln fotografiert.

Sowohl während der Polizeimaßnahmen am Kottbusser Tor als auch bei den darauf folgenden polizeilichen Zwangsmaßnahmen gegen Einzelne gingen (größtenteils nicht einmal mit Mund- und Nasenschutz versehene) Polizeieinheiten immer wieder bewusst in direkten körperlichen Kontakt mit den Demonstrierenden. Ihre Forderungen nach Abstand wurden konsequent ignoriert.

 

Auswertung der Aktion

Die Aktion am Samstag war ein Versuch dazu, wie wir in der aktuellen Situation unseren Protest und Widerstand weiter auf die Straße tragen können. Deswegen finden wir es wichtig, die Aktion auszuwerten und einen Austausch darüber zu schaffen, was gerade gute Strategien und Konzepte sein können und was wir verbessern könnten.

Auch wenn wir Kritikpunkte haben, glauben wir, dass die Aktion sehr erfolgreich war. Es waren viele Menschen da, welche sich über einen kurzen Zeitraum hatten mobilisieren lassen. Wir haben viel Eigeninitiative der einzelnen Gruppen gesehen z.B. durch zahlreiche kreative Banner und Schilder. Wir hatten das Gefühl, dass alle Beteiligten aktiv Verantwortung für die Aktion übernahmen. Die mitgebrachten Anliegen und Forderungen waren divers und es kamen Menschen aus verschiedensten Kontexten zusammen. Eine für uns positiv überraschende Feststellung war, dass das Konzept pünktlich um 14 Uhr anzufangen, super aufging. Direkt am Anfang haben alle sich rund um den Kreisverkehr verteilt. Die Demonstrierenden, von denen viele einen Mund-, Nasen- und Augenschutz trugen, hielten ausreichend Abstand zueinander.

Als die Bullen kamen, blieben die Menschen und die Cops waren offensichtlich mit der Situation überfordert. Da sie erst 15 min nach Anfang eintrafen, ist davon auszugehen, dass sie nichts im Vorhinein von der Aktion mitbekommen hatten. Sie brauchten ein paar Minuten, um sich eine Übersicht zu verschaffen und wirkten zunächst relativ hilflos. Wir sahen, dass sie Bedenken zum Körperkontakt mit den Demonstrierenden hatten, was eventuell neue Möglichkeiten eröffnet.

Den Bullen gelang es unter Aufforderung eine große Gruppe von Menschen auf die Fläche bei der Reichenbergerstr. zu drängen. Als Grund dafür sehen unter anderem, dass Menschen die Vereinzelung bei Protestaktionen nicht gewöhnt sind und es schwieriger sein kann alleine oder zu zweit den Bullen stand zu halten. Durch diese zusammengedrängte Situation, war es für die Cops leichter die Übersicht wiederzukommen, doch auch das Konzept der Aktion zur Vermeidung von Infektionen ist nicht mehr aufgegangen. Selbstkritisch denken wir, dass es besser gewesen wäre die Aktion zu dem Zeitpunkt zu beenden, als das Konzept der Bullen aufzugehen schien. Denn ein Ziel war wirklich die Vermeidung der körperlichen Nähe und somit des Infektionsrisikos. Ebenfalls wären vielleicht die Kontrollen Einzelner im Nachhinein nicht möglich gewesen.

 

Wir hatten viel Spaß letzten Samstag, freuen uns über mehr kreativen und angepassten Widerstand. Lasst uns zusammen neue Aktionsformen ausprobieren :)

 

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Ergänzungen

Videos und Fotos und eine Erklärung, dass die Polizei das Ansteckungsrisiko gefährdet hat:
https://de.indymedia.org/node/74764
https://twitter.com/IL_Berlin/status/1243920927651495936

 

Ja, das war eine gute, mutmachende kollektive Aktion! Es sollte nicht die letzte gewesen sein. Viele Inhalte und nette Menschen auf der Straße.
Wie wäre es, wenn wir ähnliches wiederholen? Und am 1. Mai könnten wir was größeres planen mit allen Gruppen und Bündnissen.

 

 

Auch und gerade in Zeiten von Corona:

 

Politischer Protest ist notwendig und muss möglich sein!

 

 Hunderte Aktivist*innen protestieren in Berlin trotz Polizeischikanen erfolgreich für eine solidarische Gesellschaft. Polizeimaßnahmen führen dabei zu einem erhöhten Ansteckungs-risiko für die Beteiligten.

 Pressemitteilung, Berlin, 02.04.2020

 

Am vergangenen Samstag, 28.03.2020, internationaler Aktionstag für das Recht auf Wohnen, demonstrierten ab 14 Uhr deutlich über 200 Menschen rund um das Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg für eine solidarische Gesellschaft. Darunter waren Menschen verschiedenen Alters, mit und ohne Vorerkrankungen, aus Risiko und nicht-Risiko-Gruppen, Menschen aus verschiedenen politischen Kontexten und mit verschiedenen politischen Schwerpunkten.

 

Auf zahlreichen Schildern und Transparenten wurden verschiedene politische Forderungen in die Öffentlichkeit gebracht, darunter ein Ende des Mietenwahnsinns und die Vergesellschaftung von Wohnraum, die sofortige Auflösung der skandalösen Lager für Geflüchtete auf den griechischen Inseln, die Schaffung sicherer Fluchtwege nach Europa, die Beschlagnahmung von leerstehendem Wohnraum für Obdachlose, eine bessere Bezahlung für Pflegekräfte, ein Ende rassistischer Polizeikontrollen und der Erhalt bedrohter alternativer Projekte.

 

Vor dem Hintergrund der aktuellen Corona-Pandemie wurde penibel darauf geachtet, das Ansteckungsrisiko für alle Beteiligten zu minimieren. Die Demonstrierenden, von denen viele einen Mund-, Nasen- und Augenschutz trugen, hielten ausreichend Abstand zueinander und zu den Passant*innen und verteilten sich deshalb rund um das Kottbusser Tor auf den zahlreichen Flächen. Viele Passant*innen äußerten ihre Unterstützung für die Protestaktion.

 

Ab etwa 14:15 wurde ein großes Polizeiaufgebot zusammengezogen. Die Beamten drängten alle Beteiligten der Protestaktion auf einem kleinen Bereich zwischen Kottbusser Damm und Reichenberger Straße zusammen, und erhöhten damit durch die erzwungene räumliche Nähe die Ansteckungsgefahr. Die Protestaktion wurde gegen 14:30 beendet.

 

Im Anschluß an die Protestaktion wurden mindesten neun Menschen an verschiedenen Orten im Umfeld des Kottbusser Tores durch Polizeieinheiten festgesetzt. Nach dem sie sich bis zu einer Stunde im Polizeigewahrsam befunden hatten, wurde ihnen mitgeteilt, dass gegen sie ein Strafverfahren wegen Verstoß gegen das Infektionsschutzgesetz und der Teilnahme an einer verbotenen Versammlung eingeleitet worden sei. Teilweise wurden die Festgehaltenen durchsucht und durch extra herbeigeschaffte Polizei-Fotografen unter Androhung von Zwangsmitteln fotografiert.

Sowohl während der Polizeimaßnahmen am Kottbusser Tor als auch bei den darauf folgenden polizeilichen Zwangsmaßnahmen gegen Einzelne gingen (größtenteils nicht einmal mit Mund- und Nasenschutz versehene) Polizeieinheiten immer wieder bewußt in direkten körperlichen Kontakt mit den Betroffenen. Forderungen der Betroffenen nach Abstand wurden konsequent ignoriert.

 

 

Wir stellen fest:

 

 

 

  • Auch und gerade in Zeiten des Corona-Ausnahmezustandes ist politischer Protest wichtig, notwendig und auch möglich. Solange grundlegende Menschenrechte radikal beschnitten werden und besonders sowieso von Ausgrenzung und Armut betroffene Menschen unter den Maßnahmen leiden, werden wir weiter auf die Straße gehen. Wir werden, bei allem Verständnis für notwendige Maßnahmen zur Einschränkung der Pandemie, der Entwicklung zu einem autoritärem polizeilichem Überwachungs- und Represssionssstaat unseren Widerstand und unsere Solidarität entgegensetzen.

  • Die derzeitige Beschwörung von „Solidarität“ seitens der politischen und ökonomischen Eliten sehen wir mit Verwunderung und Unbehagen. Wo war die viel gepriesene Solidarität, wenn Menschen mit brutaler Polizeigewalt aus ihren Wohnungen geräumt wurden, weil sie sich die explodierenden Mieten nicht mehr leisten konnten? Als Menschen in Krieg und Tod abgeschoben wurden? Als große Teile des Gesundheitssystems privatisiert wurden, um die Profite privater Konzerne zu erhöhen? Als sich Europa als Festung abschottete, mit tausenden Toten jedes Jahr an den Grenzen als Folge?

  • Wir fordern die sofortige Einstellung aller Strafverfahren, die im Rahmen der Protestaktion am letzten Samstag gegen mutmaßliche Aktivist*innen eingeleitet wurden. Wir fordern die umgehende Löschung aller während und nach der Aktion vom letzten Samstag durch die Polizei erhobenen Daten (Foto- und Videoaufnahmen etc.).

  • Wir werden weiter für eine solidarische Gesellschaft, in der alle Menschen auf der Erde ein Leben in Würde und ohne Angst leben können, kämpfen. Wir werden weiter auf die Straße gehen. Wir fordern den rotrotgrünen Berliner Senat auf, auf repressive und gefährliche Polizeimaßnahmen gegen notwendige politische und soziale Proteste in Zukunft zu verzichten und sich zu den Polizei-Aktionen vom vergangenen Samstag zu positionieren.

 

Netzwerk solidarischer Aktivist*innen Berlin

 

Foto-Eindrücke der Aktion vom 28.03. finden sich u.a. bei Twitter, etwa unter den hashtags #b2803 und #kreuzberg.

Für Rückfragen schicken Sie gerne eine Mail an activistnetworkberlin / at / riseup.net.