Das Leipziger Landdogma und der wirkliche Artikel 9 Absatz 1 Grundgesetz

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Artikel 9 Grundgesetz

Gestern hat das Bundesverwaltungsgericht über eine Klage gegen das Verbot von linksun­ten.indymedia verhandelt und – nach mehreren Stunden Beratungszeit auch gleich das Er­gebnis verkündet. Das Gericht kam dabei zu dem – zumindest vertretbaren – Ergebnis, der HerausgeberInnen-Kreis sei ein Verein im Sinne des Vereinsgesetzes gewesen. Zumindest vertretbar ist dieses Ergebnis angesichts der Weite des vereinsgesetzlichen Vereinsbegriffs: „Verein im Sinne dieses Gesetzes ist ohne Rücksicht auf die Rechtsform jede Vereinigung, zu der sich eine Mehrheit natürlicher oder juristischer Personen für längere Zeit zu einem gemeinsamen Zweck freiwillig zusammengeschlossen und einer organisierten Willensbil­dung unterworfen hat.“

  •  „Mehrheit“ meint hier „Mehrzahl“, also mehrere Leute: Das ist nicht unwahrscheinlich angesichts der Vielzahl von Artikeln und Kommentaren, die zu moderieren waren.
  • für längere Zeit“ mag – angesichts des mehrjährigen Erscheinens – ebenfalls vorlie­gen; allein eine etwaige starke Fluktuation der Mitglieder könnte diesbezüglich für Zweifel sorgen.

  • zu einem gemeinsamen Zweck“: zu dem Zweck, die internet-Zeitung linksunten.in­dymedia herauszugeben.

  • freiwillig zusammengeschlossen“: Davon, daß sie zu dieser Tätigkeit nicht gezwun­gen wurden, kann wohl auch ausgegangen werden.

  • einer organisierten Willensbildung unterworfen“: ‚Unterwerfung‘ hört sich nun aller­dings nicht so richtig autonom-linksradikal, nach Basisdemokratie und Konsensprin­zip an. Aber lassen wir dies hier dahinstehen.

So weit, so vertretbar. Nun…

 

die abstruse These des Bundesverwaltungsgerichts

 

Schon seit Jahrzehnten – schon zu der Zeit, als das Bundesverwaltungsgericht seinen Sitz noch nicht in Leipzig hatte (insofern ist die Arti­kel-Überschrift etwas ungenau) – vertritt das Bundesverwaltungsgericht das Dogma: Nur Vereine seien gegen Vereinsverbote klagebefugt:

 

  • Wohl zuletzt vor dem gestrigen Urteil entschied das BVerwG mit Beschluß vom 10.01.2018 zum Az. 1 VR 14.17: „Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundes­verwaltungsgerichts ist zur Anfechtung des Verbots einer Vereinigung regelmäßig nur die verbotene Vereinigung befugt.“ (https://www.bverwg.de/100118B1VR14.17.0, Textziffer 11)

 

Warum nenne ich diese These abstrus?

 

Die Befugnis zur klageweisen Anfechtung von Verwaltungsakten, z.B. Vereinsverboten, ist in § 42 Absatz 2 Verwaltungsgerichtsordnung geregelt: „Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist die Klage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwal­tungsakt oder seine Ablehnung oder Unterlassung in seinen Rechten verletzt zu sein.“

Wenn ein Verein gegen sein Verbot klagt, dann prüft das Bundesverwaltungsgericht, ob die Verbotsgründe des Artikel 9 Absatz 2 Grundgesetz vorliegen: „Vereinigungen, deren Zwe­cke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfas­sungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten.“

Klagen dagegen Mitglieder gegen dieses Verbot, dann weigert sich das Bundesverwal­tungsgericht, diese Prüfung vorzunehmen.

Nimmt das Gericht diese Prüfung vor (weil der Verein selbst geklagt) und verneint das Bun­desverwaltungsgericht das Vorliegen der Verbotsgründe, dann ist Artikel 9 Absatz 1 Grund­gesetz das verletzte Grundrecht und das Vereinsverbot wird aufgehoben1.

Nun habe ich immer noch nicht erklärt, worin das Abstruse liegt. Es liegt darin, daß Artikel 9 Absatz 1 Grundgesetz wie folgt lautet: „Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Ge­sellschaften zu bilden.“

Angeblich sind nur Vereine befugt, gegen die Verletzung von Artikel 9 Absatz 1 GG durch ein – von Artikel 9 Absatz 2 GG nicht gedecktes – Vereinsverbot zu klagen; aber in Artikel 9 Absatz 1 GG sind gar nicht die Vereine, sondern „alle Deutschen“ die GrundrechtsträgerIn­nen. Wenn ein Verein zu Unrecht verboten wird, dann sind zweifelsohne die Vereinsmitglieder in ihrem Recht, ebendiesen Verein „zu bilden“2, verletzt – nur nach ‚Leipziger Landrecht‘ ist es anders...

 

Was die – vom Bundesverwaltungsgericht ignorierte – Rechtswissenschaft sagt

 

In der rechtswissenschaftlichen Literatur – auf die das Bundesverwaltungsgericht in noch keiner einzigen seiner zahlreichen Entscheidungen zur Frage der Klagebefugnis gegen Ver­einsverbote eingegangen ist – wird dies sehr wohl erkannt:

„Der Schutz der Vereinigungsbildung umfasst in einem weiten [Sinne …] Verhaltensweisen […], die der Ermöglichung und Aufrechterhaltung der organisierten Verfasstheit der Mitglieder in Bezug auf die Vereinigung selbst dienen.“

(Kluth, in: Friauf/Höfling [Hg.] Berliner Kommentar zum Grundgesetz, 32. Erg-Lfg. VI/2011, Art. 9, RN 72 – Hv. hinzugefügt)

„Maßnahmen gegen die Vereinigungen selbst [treffen] regelmäßig zugleich auch die Mitglieder dieser Vereinigung“.

(Bauer, in: Horst Dreier, Grundgesetz. Bd. I, 20133, Art. 9, RN 54)

„Wird [z.B.] ein Verein, dessen Zweck gegen den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet ist, auf­gelöst und verboten, so liegt darin ein“ – wegen Art. 9 II GG: allerdings zulässiger – „Eingriff in das durch Art. 9 I prima facie gewährleistete Recht, einen Verein mit solcher Zielsetzung zu bilden.“
(Höfling, in: Sachs [Hg.], Grundgesetz, 20188, Art. 9, RN 41)

„Angesichts des Schutzumfanges der Vereinigungsfreiheit des Art. 9 Abs. 1 GG, der auch das sich Vereinigen und den Verbleib des Einzelnen in einer konkreten Vereinigung umfasst, und der Gefahr, dass den Mitgliedern bei der Aufrechterhaltung oder einer ersetzenden Neugründung des Vereins die Strafbarkeit nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 [Vereinsgesetz] oder § 85 StGB droht, ist ihre Klagebefugnis […] zu bejahen (ähnlich Bauer [a.a.O.], Rn. 54; Planker [Das Vereinsverbot gem. Art. 9 Abs. 2 GG §§ 3 ff. VereinsG, 1996], 152 f.)

(Groh, in: Das Bundesrecht, 1095. Lfg., Sept. 2010, § 3 VereinsG, RN 46 – Hyperlinks hinzugefügt)

 

Eine Ehrenrettung für das Bundesverwaltungsgericht

 

Zur Ehrenrettung des Bundesverwaltungsgericht sei gesagt, daß es die auch AnwältInnen der gestrigen KlägerInnen unterließen, das Bundesverwaltungsgericht auf diese Literatur­stellen hinzuweisen – und statt dessen (erfolglos) an anderen Stellen herumschraubten.

 

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1 § 113 Absatz 1 Satz 1: „Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf.“

 

2 Das Wort „bilden“ in Artikel 9 I Absatz 1 GG umfaßt nicht nur den einmaligen Akt des Gründens, vielmehr ist „bilden“ auch eine Dauertätigkeit (bzw. ein Dauerzustand); siehe insb. Bedeutungsangabe Nr. 4 des Duden:

„[durch Form, Gestalt, Anordnung, Organisation] darstellen, ausmachen“

(https://www.duden.de/rechtschreibung/bilden)

Anwendungsbeispiele:

  • „die Begrenzungsmauern bilden ein Quadrat“ – die Begrenzungsmauern machen dies solange, bis sie eingeris­sen werden (und nicht nur im Moment ihrer Errichtung).

  • „diese Länder [Serbien und Montenegro] haben zusammen die Bundesrepublik Jugoslawien gebildet“ – die in Rede stehenden Länder bildeten die Bundesrepublik Jugoslawien nicht nur im Moment der Gründung dieser Re­publik, sondern solange diese bestand – nämlich bis 2003.

  • „etwas bildet die Grenze, den Hintergrund, den Höhepunkt“ – wiederum handelt es sich nicht um ein einmaligen Akt, sondern um einen – mehr oder minder lange – andauernden Zustand.

Die Mitglieder eines Vereins bilden ihn solange, bis sie selbst den Verein auflösen oder der Verein zwangsweise vom Staat aufgelöst wird.

Erfolgt die vom Staat angeordnete Auflösung des Vereins zu Unrecht, so ist das Recht der Vereinsmitglieder aus Artikel 9 I GG, diesen Verein zu bilden, dasjenige Recht, das durch die rechtswidrige Auflösungsverfügung verletzt wird – und folglich das Recht („in seinen Rechten verletzt“), dessen Verletzung gemäß § 42 Absatz Verwaltungsgerichtsordnung klagebefugt macht.

Eigentlich einfach zu verstehen, nicht wahr? Nur das Bundesverwaltungsgericht versteht es nicht…

 

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