Still not Loving Amazon & Cyber Valley: Geheimdienstforschung und Gesichtserkennung

 

Zugegeben: Nach dem Beschluss des Tübinger Gemeinderates im vergangenen Dezember, für eine halbe Millionen Euro ein Grundstück an die Reisch GmbH zu verkaufen, damit die für Amazon ein Entwicklungszentrum auf der „oberen Viehweide“ in Tübingen baut, sind die Aktivitäten der Bewegung gegen Amazon und das Cyber Valley erstmal in Stocken geraten. Jedenfalls soweit man das beurteilen kann. Denn bereits in den Monaten vor der Entscheidung haben die lokalen Medien sich über den Widerstand ausgeschwiegen. Gerade über „militantere“ Aktionen, wie ein unangemeldetes Konzert mitten im Technologiepark auf dem für Amazon reservierten Gelände („Baufeld 13“, https://de.indymedia.org/node/37584) oder Grafitys am provisorischen Büro der Amazon-Forscher*innen wurde nur auf der lokalen Informationsplattform www.tueinfo.org/cms berichtet – die mittlerweile seit Monaten offline ist.

 

 

Auch das „Bündnis gegen das Cyber Valley“, das öffentlich in Erscheinung tritt, schien-abgesehen von einigen Pressemitteilungen- zwischen den Jahren erstarrt und danach aus dem Winterschlaf nicht mehr so richtig aufzuwachen. Als offene Struktur, die ihre Aktivitäten in öffentlich angekündigten Treffen plant, war sie natürlich von den Corona-Kontaktbeschränkungen in besonderer Weise betroffen. Dies gilt umso mehr, als daran einige Personen beteiligt sind, die den persönlichen Austausch deutlich mehr schätzen, als den digitalen oder letzteren ganz ablehnen und deshalb nicht diskriminiert werden sollen. So oder so: Vom „Bündnis gegen das Cyber Valley“ war einige Zeit nur wenig zu hören. Trotzdem gibt es Neuigkeiten, die berichtenswert sind.

 

 

 

US-GEHEIMDIENSTE FORSCHEN MIT

 

 

Im April 2020 berichtete die Informationsstelle Militarisierung, dass eine Forschungsgruppe des Cyber Valleys u.a. Gelder von der US-Agentur für Geheimdienstforschung erhält. Auch mehrere Start-Up-Unternehmen von Tübinger Wissenschaftler*innen wurden dort als „Related Startups“ genannt, aber nach dem Erscheinen des Berichts schnell von der Homepage genommen (https://www.imi-online.de/2020/04/21/cyber-valley-forschungsgruppe-von-us-geheimdiensten-finanziert/). Das „Bündnis gegen das Cyber Valley“ (https://nocybervalley.de/), die Linke Gemeinderatsfraktion (https://www.tuebinger-linke.de/geheimdienste-raus-aus-dem-cyber-valley-zivilklausel-jetzt/) und das Friedensplenum/Antkriegsbündnis Tübingen kritisierten das daraufhin in Pressemitteilungen. Es dauerte einige Zeit, dann reagierten zunächst der Reutlinger Generalanzeiger (https://www.gea.de/neckar-alb/kreis-tuebingen_artikel,-zivilklausel-im-t%C3%BCbinger-cyber-valley-verletzt-oder-nicht-_arid,6265643.html) und die junge Welt (https://www.jungewelt.de/artikel/377959.wissenschaft-und-industrie-beteuerungen-entpuppen-sich-als-heuchelei.html), später auch der SWR mit einer insgesamt ausgewogenen Berichterstattung (https://www.imi-online.de/2020/05/25/iarpa-forschung-trotz-zivilklausel/). Dadurch in Zugzwang gebracht, berichtete zuletzt auch das Schwäbische Tagblatt (https://www.tagblatt.de/Nachrichten/Forscht-in-Tuebingen-der-Geheimdienst-458046.html).

 

 

Die Informationsstelle Militarisierung hat kurz darauf eine ausführliche Analyse zum IARPA-Projekt veröffentlicht (https://www.imi-online.de/2020/05/15/cyber-valley-mpi-und-us-geheimdienste/). Aus dieser geht hervor, dass es sich nicht um eines von vielen Forschungsprojekten am Cyber Valley handelt, sondern um einen Ansatz, der von einer überschaubaren „Clique“ von KI-Forscher*innen um das Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik verfolgt und von der IARPA finanziert wird. Dabei geht und ging es darum, unter Kontrolle der US-Geheimdienste und mit Unterstützung von Amazon, sogenannte „künstliche neuronale Netze“ weiterzuentwickeln, um diese für die Zwecke der beiden zu nutzen (wie z.B. der des Amazon-Cloud-Service AWS oder der Vorhersage von Krisen durch die Geheimdienste).

 

 

GESICHTSERKENNUNG, CROWDS & GROUPS

 

 

Vor wenigen Tagen dann veröffentlichte das „Bündnis gegen das Cyber Valley“ vor dem Hintergrund der Black-Lives-Matter-Bewegung und der Entscheidung von IBM, die Forschung an Gesichtserkennung einzustellen, ebenfalls eine Pressemitteilung, auf die es bislang wenig Resonanz gab – außer einer Mail mit Links zur Tübinger Forschung zur Gesichtserkennung.

 

 

--- GESICHTSERKENNUNG AUCH IM CYBER VALLEY BEENDEN ---

 

Pressemitteilung des 'Bündnis gegen das Cyber Valley' vom 12.6.2020

 

 

Nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd und den dadurch induzierten Massenprotesten gegen rassistische Diskriminierung hat der US-amerikanische Technologiegigant IBM angekündigt, nicht nur aus dem Geschäft mit Gesichtserkennung auszusteigen, sondern auch jegliche Forschung hierzu einzustellen. Als Grund nennt das Unternehmen die damit einhergehenden Möglichkeiten zur Massenüberwachung und die dabei immer wieder auftretende Diskriminierung von Minderheiten. Dies berichten zahlreiche US-amerikanische Medien übereinstimmend und hierzulande u.a. das Redaktionsnetzwerk Deutschland (https://www.rnd.de/digital/usa-tod-von-george-floyd-ibm-beendet-geschaft...). Auch Amazon hat nun offenbar vorübergehend die Anwendung seiner Gesichtserkennungs-Software 'ReKognition' durch die US-Polizei „untersagt“ (https://www.tagesschau.de/ausland/amazon-gesichtserkennung-101.html).

 

 

Das Bündnis gegen das Cyber Valley begrüßt den überraschenden Schritt von IBM und fordert, dass auch in den am Cyber Valley beteiligten Institutionen die Forschung zur Gesichtserkennung eingestellt wird. Die Landesregierung Baden-Württemberg als Impulsgeber für die Forschungskooperation Cyber Valley führt aktuell einen Pilotversuch zur 'intelligenten Videoüberwachung' am Mannheimer Hauptbahnhof durch. Amazon als einer der wichtigsten Industriepartner des Cyber Valleys gilt als Pionier und treibende Kraft der automatischen Gesichtserkennung und baut aktuell in Tübingen ein Entwicklungszentrum für maschinelles Lernen. In unmittelbarer Nähe hierzu soll in Kürze ein weiteres solches Entwicklungszentrum des Unternehmens Bosch entstehen. Auch Bosch ist in der Sparte Gebäudetechnik mit der Übernahme von Anteilen des israelischen Unternehmens 'Anyvision' 2018 groß in das Geschäft mit der Gesichtserkennung eingestiegen. An der Universität Tübingen werden u.a. am Lehrstuhl für Kognitive Systeme im Fachbereich Informatik Systeme zur Gesichtserkennung optimiert (z.B. http://www.cogsys.cs.uni-tuebingen.de/forschung/terminiert/face_tracking...). Dabei kommen häufig sog. 'Künstliche Neuronale Netzwerke' zum Einsatz, wie sie am Cyber Valley u.a. mit Mitteln der US-Geheimdienste weiterentwickelt werden (s. http://www.imi-online.de/2020/05/15/cyber-valley-mpi-und-us-geheimdienste/).

 

 

Das Bündnis gegen das Cyber Valley hat wiederholt darauf hingewiesen, dass hier insbesondere Forschung zum maschinellen Sehen und zur Situationserkennung betrieben wird und dass damit auch neue Überwachungstechnologien entwickelt werden, die zur Diskriminierung von Minderheiten neigen und u.a. bei Militär, Grenzschutz und Polizeien zur Anwendung kommen. Während immer wieder auf die vermeintlichen Europäischen Werte verwiesen wurde, müssen wir feststellen, dass zumindest bei der Gesichtserkennung die ethische Debatte in den USA viel weiter ist. Dort haben schon mehrere Großkonzerne darauf hingewiesen, dass man der Entwicklung und Anwendung solcher Technologien Grenzen setzen müsse. Die jetzige Entscheidung von IBM solle man sich im Cyber Valley zum Vorbild nehmen, anstatt munter draufloszuforschen und jede Verantwortung für den Einsatz solcher Technologien von sich zu weisen. Außerdem sei der Ausstieg von IBM aus der Gesichtserkennung ein klares Indiz dafür, dass eine diskriminierungsfreie Anwendung solcher Überwachungs- und Kategorisierungssysteme schlicht nicht realisierbar ist.

 

 

--- MAIL ZUR GESICHTSERKENNUNG IN TÜBINGEN ---

 

Schon richtig, dass am Lehrstuhl Zell manche Leute was mit Gesichtserkennung machen. Relevanter auch in Bezug aufs Cyber Valley dürfte jedoch die Abteilung Perceiving Systems am MPI für Intelligente Systeme unter Amazon Scholar Michael Black sein (https://ps.is.tuebingen.mpg.de). Da gibt es dann auch den Forschungsbereich "Seeing and Understanding People" (https://ps.is.tuebingen.mpg.de/research_fields/seeing-understanding-people), wo auch Arbeiten zur Personenerfassung mittels Drohnenschwärmen erscheinen (https://ps.is.tuebingen.mpg.de/uploads_file/attachment/attachment/544/51...). Ein anderer Forschungsbereich heißt "Behavior, Goals, Action" (https://ps.is.tuebingen.mpg.de/research_fields/behavior-goals-action": Walking-Drinking-Sitting-Fainted.

 

An der Uni gibt es außerdem den SonderForschungsBereich 1233 „Robustheit des Sehens“ (https://uni-tuebingen.de/en/research/core-research/collaborative-researc...), u.a. mit einer Nachwuchsforschungsgruppe "Holistische Szenenmodellierung", die wiederum unter Black beim MPI IS angesiedelt ist (https://ps.is.tuebingen.mpg.de/person/stang). Da wird dann u.a. zu "Groups and Crowds" geforscht (https://ps.is.tuebingen.mpg.de/research_projects/groups-and-crowds). Da findet sich dann z.B. eine Arbeit von Michael Black u.a. zum "Customized Multi-Person Tracker", der mit dem unschuldigen Satz beginnt: "Tracking multiple people in unconstrained videos is crucial for many vision applications, e.g. autonomous driving, visual surveillance, crowd analytics, etc." (https://ps.is.tuebingen.mpg.de/uploads_file/attachment/attachment/469/05...)

 

 

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