Ein Raunen geht durch Connewitz
CN:
Der folgende Text bezieht sich auf die Taten von S.W. (im Folgenden W. genannt) – ehemaliges Barpersonal der Zwille in Leipzig Connewitz – und dem Umgang mit ihnen.
TW:
sexualisierte Gewalt, psychische Gewalt, emotionale Gewalt, physische Gewalt, Victim Blaming, Rape Culture, Manipulation
Ein Raunen geht durch Connewitz: Wie kann es sein, dass ein Mann, der nach außen als aufgeklärt, reflektiert und intellektuell gilt – jemand, der in einem der sozialen Epizentren Connewitz verkehrt – nun mehrfach der sexuellen Übergriffe und Gewalt gegenüber Frauen beschuldigt wird?
Ein Raunen geht durch Connewitz: Wie kann es sein, dass ein Mann, der nach außen als aufgeklärt, reflektiert und intellektuell gilt – jemand, der in einem der sozialen Epizentren Connewitz verkehrt – nun mehrfach der sexuellen Übergriffe und Gewalt gegenüber Frauen beschuldigt wird?
Diese Frage, die aktuell an W. gestellt wird, erinnert stark an die, die vor einigen Jahren an R. gestellt wurde. Auch R. war tief eingebunden in die soziale und politische Szene Connewitz. Auch damals sorgten die Vorwürfe für Erschütterung.
Doch das Raunen betrifft nicht nur die Tatvorwürfe selbst. Es betrifft auch den Umgang mit ihnen.
Denn wieder gibt es Zweifel. Wieder wird die Glaubwürdigkeit der Betroffenen hinterfragt – nicht nur aufgrund der Vorwürfe selbst, sondern auch auf Grund zugeschriebener persönlicher Eigenschaften, die als „instabil“ oder „unglaubwürdig“ eingeordnet werden. Doch wie sieht eine glaubwürdig betroffene Frau denn eigentlich aus? Wie hat sie zu sein? Wie hat sie sich zu verhalten?
Das Infragestellen der Betroffenen lässt sich als Just False Disbelief kategorisieren:
- Just False Disbelief bezeichnet die verbreitete gesellschaftliche Haltung, Aussagen über sexualisierte Gewalt grundsätzlich anzuzweifeln, solange keine „objektiven Beweise“ vorliegen – obwohl solche Beweise in den meisten Fällen weder realistisch noch ohne erhebliche Eingriffe in die Privatsphäre der Betroffenen erbracht werden können. Quelle: Deborah Tuerkheimer (2021): Credible: Why We Doubt Accusers and Protect Abusers. HarperCollins.
Es ist also ein gängiges und gesellschaftlich internalisiertes Muster die traumatisierenden Erfahrungen der Opfer in Frage zu stellen.
Doch viel schlimmer noch:
Den Opfern wird nicht nur nicht geglaubt – sie werden aktiv ausgeschlossen, ihnen wird eine Mitschuld an den Übergriffen zugeschrieben, sei es implizit oder explizit. Dieses Muster lässt sich als Victim Blaming benennen:
- Victim Blaming (dt. Täter-Opfer-Umkehr) beschreibt die Tendenz, Betroffenen von Gewalt eine (Mit-)Verantwortung für das Geschehene zuzuschreiben – etwa durch die Bewertung ihres Verhaltens, ihres Aussehens, ihrer psychischen Verfassung oder ihrer Lebensweise.
Quelle: Banyard, Ward, Cohn (2007): Unwanted Sexual Contact on Campus: A Comparison of Women’s and Men’s Experiences, Violence and Victims, 22(1), S. 52–70.
Doch auch dieses Muster ist nicht neu.
Denn ein etwaiges Raunen geht seit Jahren durch Connewitz – aber noch nie zugunsten der Betroffenen.
Wie erklärt ihr euch euer Zweifeln an den Betroffenen auf Grund von zugeschriebenen zweifelhaften Persönlichkeitsattributen, während ihr durch diese Brille den Täter nicht in der Glaubhaftigkeit seiner selbsterklärten Unschuld anzweifelt?
Das so etwas möglich war und ist, ist nicht zuletzt den manipulativen Fähigkeiten von W. geschuldet – und einem tiefen Missverständnis oder gar Missbrauch des Konzepts der Definitionsmacht:
- Definitionsmacht (oft abgekürzt als DefMa) meint das feministische Prinzip, dass Betroffene von Gewalt das Recht haben, ihre Erfahrung zu benennen und zu definieren – ohne dass Außenstehende sie relativieren, umdeuten oder in Frage stellen. Ursprünglich als Schutzraum gedacht, wird dieses Konzept dann wirkungslos, wenn es von Tätern umgekehrt wird – wenn sie es nutzen, um Deutungshoheit über das Erlebte anderer zu beanspruchen.
Quelle: Anne Wizorek (2014): Weil ein #Aufschrei nicht reicht, Fischer Verlag, sowie Konzeptentwicklungen u. a. durch feministische Gruppen wie das AK Definitionsmacht (Berlin, 2005 ff.).
W. ist in Connewitz präsent – nicht nur als Teil des sozialen-szenischen Umfelds, sondern auch als Tresenkraft in der Zwille.
Er war es, der den Raum hatte. Der Zeit hatte. Der die Möglichkeit nutzte, seine Version der Geschichte wieder und wieder zu erzählen. Er saß hinter oder vor dem Tresen – einem Ort der Vernetzung, der Gespräche, der Meinungsbildung. Und er nutzte diesen Ort gezielt, um sich selbst als das Opfer darzustellen, andere zu beeinflussen und davon abzulenken, sich mit der Perspektive der Betroffenen auseinanderzusetzen. Durch seine Position hatte er strukturell mehr Gehör, mehr Zugang, mehr Deutungsmacht – und richtete diese gegen diejenigen, die ihm etwas vorwarfen.
Diese manipulativen Vorgänge fanden und finden jedoch nicht nur im Rahmen seiner Bar-Tätigkeit statt.
Sie setzen sich fort – subtil, aber konsequent – in privaten Gesprächen, in engen sozialen Kreisen, in Kontakten mit Menschen, die er zu manipulieren weiß. Immer wieder versucht er, andere davon zu überzeugen, dass er das Opfer sei, dass ihm Unrecht geschehe, dass er nicht der Täter sei.
Diese Dynamik entfaltet sich nicht zuletzt auch in seinen intimen Beziehungen – mit Sexualpartnerinnen und Ex-Freundinnen.
Gerade dort, wo Nähe besteht oder bestand, wirken diese Strategien besonders stark: durch emotionale Nähe, durch Schuldumkehr, durch subtile oder offene Selbstinszenierung als verletzlicher, missverstandener Mann.
Wie mittlerweile selbstverständlich sein sollte: Gewalt beginnt nicht erst mit physischen Übergriffen.
Emotionale und psychische Gewalt – insbesondere in privaten Räumen, hinter verschlossenen Türen – ist oft schwerer greifbar, aber nicht weniger real.
Sie äußert sich in Kontrolle, in Einschüchterung, in Manipulation, in systematischer Verdrehung von Wahrnehmung. Gerade weil sie so wenig sichtbar ist, bleibt sie oft unkommentiert – und kann ungestört weiterwirken.
- Die WHO definiert Gewalt als: „Der absichtliche Gebrauch von physischer Kraft oder Macht, angedroht oder tatsächlich ausgeübt, gegen sich selbst, eine andere Person oder gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, der entweder zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklungen oder Deprivation führt oder mit hoher Wahrscheinlichkeit führen kann.“
Quelle: World Health Organization (2002): World Report on Violence and Health, Kapitel 1.
Und mit all diesem Wissen stellt sich eine entscheidende Frage:
Wird das Raunen nach all den Jahren des Missbrauchs, der Verletzungen, des Traumas endlich dort laut, wo es hingehört – gegenüber der Person, die all das verursacht hat?
Oder wird weiter nur gemurmelt, gezweifelt, relativiert – und das Misstrauen wieder und wieder auf die Opfer projiziert?
Die Zwille und das Black Label haben Konsequenzen gezogen. Aber was ist mit dem Rest?
Was ist mit den Bands, den Festivalverbänden in denen er Mitglied ist, den Veranstaltungsorten und den anderen Kneipen?
Was ist mit denen, die mit ihm zusammenwohnen, mit ihm abkumpeln, mit ihm konsumieren, mit ihm seit Jahren befreundet sind?
Was macht ihr – jetzt, wo all das nicht mehr nur raunt, sondern klar und laut ausgesprochen wird?
Was machen wir als politische und idealistische Szene, die sich als aufgeklärt, antisexsistisch, ja gar als feministisch begreift oder ganz grundlegend als menschlich, mit dem Wissen, dass das, was jetzt öffentlich wird, vielleicht längst als Gerücht durch unsere Kreise ging?
Als Flüstern, das wir nicht hören wollten, als Andeutung, die wir nicht nachverfolgt haben, als Schläge, die lediglich intimes Beziehungsdrama waren?
Was machen wir mit dem Schweigen, das wir gepflegt haben, weil all das doch nicht in unserer reflektierten, politisch aufgeklärten Blase passieren kann?
Ein Othering ist schon lange nicht mehr möglich.
Die Vorstellung, dass sexualisierte Gewalt nur „bei den Anderen“ vorkommt – bei den Ungebildeten, Rechten, Konservativen, Unreflektierten – schützt uns nicht vor der Realität in unseren eigenen Räumen.
- Othering bezeichnet den Prozess, bei dem Menschen oder Gruppen als „anders“, „fremd“ oder „nicht zugehörig“ markiert werden – meist, um sich selbst als „besser“, „zivilisierter“ oder „überlegen“ zu positionieren. Es schafft künstliche Abgrenzung und verhindert echte Selbstkritik. Quelle: Gayatri Chakravorty Spivak (1985); vgl. auch Said, Edward (1978): Orientalism.
Fangen wir endlich an, vor unseren eigenen Haustüren zu kehren.
Wir solidarisieren uns hiermit ausdrücklich mit den Opfern, die den Mut hatten all das, was seit Jahren vor unseren Augen passiert, öffentlich anzusprechen. Danke!
