Grundrechte-Report 2023 – eine Rezension!
Seit 1997 dokumentieren verschiedenste Bürgerrechtsorganisationen in ihren Jahresberichten den zweifelhaften Umgang des Staates mit den Grundrechten. Vor wenigen Wochen erschien des Jahresbericht 2023 und bezeugt in 38 Beiträgen wie staatliche Institutionen, Gerichte und Politik mit verfassungsrechtlich verbürgten Grund- und Menschenrechten verfahren, diese aushöhlen und immer und immer wieder brechen.
Verfassungsrechtliche Theorie
Wer einen unbedarften Blick in das Grundgesetz wirft, stellt fest, es gibt zahlreiche Grundrechte: angefangen bei der Menschenwürdegarantie des Artikel 1 Grundgesetz (GG), über das Recht auf Leben in Freiheit in Art. 2 GG, dem Recht auf Asyl in Art. 16a GG und viele mehr. Alle staatlichen Gewalten, d.h. Exekutive, Judikative wie auch Parlamente, sind verpflichtet diese Grundrechte zu achten und es ist ihnen untersagt sie zu verletzen.
In ihren sogenannten „Verfassungsschutzberichten“ dokumentieren der Bund wie auch die 16 Bundesländer aus staatlicher Sicht, wie zivilgesellschaftliche Akteur*innen z.B. aus der politischen Linken sich angeblich verfassungswidrig verhalten. Mit ihren Jahresberichten wollen die Herausgeber*innen des Grundrechte-Reports und die sie tragenden Bürgerrechtsorganisationen wie die Humanistische Union, das Komitee für Grundrechte und Demokratie, Pro Asyl und andere, dieser staatlichen Perspektive eine zivilgesellschaftliche Sicht und Haltung entgegenstellen. Sie dokumentieren, wie nicht nur in Einzelfällen, sondern durchaus auch systematisch die Grundrechtspositionen der Menschen in diesem Land ausgehöhlt werden.
Die Praxis vor Gericht, in Verwaltungen und Parlamenten
Aus den 38 Einzelbeiträgen, die allesamt ebenso lesenswert wie informativ sind, möchte ich nur fünf herausgreifen. Das Unterschreiten des Existenzminimums bei der Grundsicherung, die tödliche Polizeigewalt gegen Menschen in psychischen Krisensituationen, die Abschiebehaft zur Gefahrenabwehr, die Hessische Bonuszahlungen an Polizist*innen, sobald diese behaupten angegriffen worden zu sein, sowie schließlich das fortdauernde PKK-Verbot.
Die 1982 geborene Rechtsanwältin Sarah Lincoln arbeitet in ihrem Beitrag über die Verletzung des Artikel 1 GG („Die Würde des Menschen ist unantastbar“) heraus, wie die hohe Inflation im Jahr 2022 dazu geführt hat, dass das verfassungsrechtlich notwendige Existenzminimum unterschritten wurde. Aber auch das zum 1.1.2023 eingeführte Bürgergeld, so die Autorin, habe keine strukturelle Verbesserung bewirkt, nach wie vor unterschreite der Betrag eklatant das Existenzminimum.
Ging es in dem Bericht von Lincoln darum, wie Menschen durch Vorenthalten von staatlichen Geldleistungen in existenzgefährdende Situationen geraten, widmet sich die für das Komitee der Grundrechte und Demokratie tätige Referentin Michèle Winkler tödlicher Polizeigewalt, wenn also die Polizei (aktiv) Menschen tötet!
„Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“, so steht es in Art. 2 GG, aber die Autorin dokumentiert mehrere Fälle tödlicher Polizeigewalt in Deutschland und ordnet diese dann in einen internationalen Kontext ein. Am 2.5.2022 starb in Mannheim der 47-jährige P., nachdem sein Arzt wegen möglicher akuter Eigengefährdung des Herrn P. die Polizei rief. Ein Video dokumentiert, wie Polizeibeamte auf ihm kniend Faustschläge gegen den Kopf versetzen. Mittlerweile hat die Staatsanwaltschaft, was sonst fast nie geschieht, Anklage gegen beide Polizisten erhoben. So wie auch im Fall des am 8.8.2022 in Dortmund von Polizeikräften erschossenen 16-jährigen Geflüchteten Mouhamed. Er lebte in einer Jugendeinrichtung und war akut suizidal, weswegen ein Betreuer die Polizei rief. Die Polizei streckte Mouhamed mit Schüssen aus einer Maschinenpistole nieder. Lincoln führt aus, dass Menschen in psychischen Ausnahmesituationen besonders Gefahr liefen in Deutschland von der Polizei getötet zu werden und nimmt dabei auch Bezug auf die Polizeigewalt in den USA.
In dem dritten hier ausgewählten Beitrag aus dem Grundrechte-Report widmet sich die Dortmunder Professorin Christine Graebsch dem sich aus dem Art. 3 GG ergebenden Verbot der Diskriminierung von Menschen, die abgeschoben werden sollen und in Abschiebehaft landen, welche dann oftmals in regulären Gefängnissen vollzogen wird, obwohl dies nach EU-Recht untersagt ist. Unter dem Stichwort „Pre-Crime Unterbringung“ für Migrant*innen, skandalisiert die Autorin die Praxis der deutschen Justiz Menschen zu inhaftieren, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen.
Lukas Theune, Rechtsanwalt und Strafverteidiger, bespricht die schon 2021 im Hessischen Beamtenrecht eingeführte Regelung des §40 Absatz 7 Hess. Beamtenversorgungsgesetzes. Seitdem erhält jede*r Polizist*in Hessens einen pauschalen Bonus in Höhe von 2.000€, wenn sie/er angegriffen worden ist. Wer vermeldet angegriffen worden zu sein und deshalb Dienstunfall erlitten zu haben, darf sich über diese „Angriffsentschädigung“ freuen – wohlgemerkt die Polizist*innen, nicht etwa die von Polizeigewalt betroffenen Menschen in Hessen! Theune führt aus, dass solch eine Bonuszahlung Polizeikräften einen erheblichen Anreiz biete, noch mehr als schon bislang, angebliche Angriffe zu melden, was dann auch in den Statistiken zu steigenden Zahlen führen dürfte.
Der Heidelberger Rechtsanwalt Martin Heiming greift schließlich unter dem Stichwort „Alle Deutsche haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden“, so lautet Art. 9 GG, das seit nunmehr 30 Jahren geltende PKK-Verbot kritisch auf. Seit November 1993 ist die Kurdische Arbeiterpartei PKK in Deutschland verboten, Verstöße gegen das Verbot werden strafrechtlich hart geahndet und selbst Verlage, die Weltliteratur auf Kurdisch und CD‘s mit kurdischer Musik verlegen, wie der Mezopotamien-Buchverlag, werden als Teilorganisation eingestuft, verfolgt, enteignet und verboten. Heiming kommt zu dem resignierenden Schluss, dass Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit für kurdische Menschen in der BRD auf der Strecke bleiben würden.
Resümee
Wer hat heute noch die Zeit, sich täglich in aller Tiefe über die staatlichen Angriffe auf verfassungsrechtlich verbürgte Positionen zu informieren? Wohl die wenigsten. Meistens dürfte ein Überblick über das Geschehen in der eigenen Bubble zwar gegeben sein, aber der Gesamtüberblick droht im medialen Überangebot verloren zu gehen. Hier bietet das vorliegende Buch eine hervorragende Übersicht und Sammlung von relevanten und besorgniserregenden Entwicklungen. Jeweils versehen mit Fundstellen auf weiterführende Literatur sowie Querverweise. Das Stichwortverzeichnis verdient besondere Erwähnung und Lob, denn es ist erfreulich ausführlich und ermöglicht einen schnellen Zugriff auf bestimmte Artikel.
Bevor es des Lobs zu viel wird: die geäußerte Kritik der Autor*innen verbleibt meist innerhalb des (engen) staatlichen Korsetts. Es handelt sich folglich um konservative und nicht um eine emanzipatorische Kritik. Es wird eine gegebene Praxis als nicht in Übereinstimmung mit bestimmten Normen skandalisiert, meist ohne in den Blick zu nehmen, weshalb diese Normen gerade die hier kritisierten Praktiken letztendlich bedingen und wie nicht nur die Praktiken, sondern auch die entsprechenden Normen überwunden werden können, oder auch überwunden werden müssen.
Dies mindert schlussendlich nicht den Wert des Grundrechte-Reports, denn dieser lenkt, verbunden mit überregionaler Berichterstattung, deutlich den Blick auf elementare Grundrechtsverletzungen durch staatliche Institutionen!
Bibliografische Angaben zu dem rezensierten Buch:
Titel: „Grundrechte-Report 2023 – Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland“
Hrsg.: Derin, Gössner, Judith, Linkcoln, u.a.
Seiten: 222
Verlag: FISCHER Taschenbuch
ISBN: 978-3-596-70882-6
Preis: 14€
Rezensent:
Thomas Meyer-Falk, z.Zt. Justizvollzugsanstalt (SV),
Hermann-Herder-Str. 8, 79104 Freiburg