Erdoğan vertreiben, Liebig34 verteidigen!
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan kommt am 28.09 und 29.08. als offizieller Staatsgast nach Berlin, um sich mit der deutschen Bundesregierung zu treffen. Hierzu wird eine breite Protestbewegung mobilisiert. Auch wir als Anarcha-queer-feminist*innen begreifen uns als Teil dieser Bewegung. Wir verurteilen Erdoğans Werte und Politik. Wir begreifen diese auf verschiedenen Ebenen als Angriff auf emanzipatorische, antipatriarchale, ökologische und demokratische Werte. Wir verurteilen die deutsche Bundesregierung einen Diktator willkommen zu heißen und sich darüber hinaus -unter der Prämisse der Verbesserung der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen- zu seiner Handlangerin zu machen. Der Erfahrung nach können wir durch das Treffen mit nicht mehr als einer Ausweitung der Repression gegenüber in Deutschland lebenden kurdischen, türkischen Oppositionellen und solidarischen Menschen sowie mit weiteren Waffendeals rechnen.
Erdoğans Innen- und Außenpolitik
Seit die AKP 2002 an die Macht kam, hat sich die Türkei verändert. Sie wurde jeden Tag konservativer und repressiver. Recep Tayyip Erdoğan stellte die Religion wieder an erste Stelle und regiert die Türkei inzwischen als Autokrat nach der Devise „Teile und Herrsche“. Er gaukelt ein Bild vom türkischen Nationalstaat vor, mit einer türkischen Nation und ein Bild vom binären Geschlechterbild, mit einer „natürlich“ gegebenen klassischen Rollenverteilung. (15)
Die Situation von allen, die nicht in das Bild von Erdoğan passen, hat sich seit dem Putschversuch 2016, der Verhängung des Ausnahmezustandes und der Ausweitung von Erdoğans Macht drastisch verschlechtert. Es kam immer wieder zu Massenverhaftungswellen und zur Ermordung von Menschen innerhalb und außerhalb der Türkei durch den türkischen Staatsapparat. Die sich verschärfende Repression und Verfolgung traf und trifft insbesondere politisch Oppositionelle, Angehörige von Minderheiten sowie queere Menschen: So wird die jährlich in Istanbul stattfindende Trans-Pride und die LGBTIQ-Pride-Parade seit 2016 versucht durch die Behörden zu unterbinden (3), genauso wie andere LGBTIQ-Veranstaltungen (5). Gleichermaßen wird bis heute fast jedes Jahr und in allen Städten das kurdische Neujahrsfest Newroz untersagt (21). Zwischen Juli 2015 und Februar 2018 wurden 11.631 Mitglieder der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP festgenommen. Das ist ein Drittel aller Mitglieder der Partei (17).
Erdoğan plädiert für die Wiedereinführung der Todesstrafe und für ein Abtreibungsverbot (15). Er provoziert gesellschaftlich einen faschistoiden Trend. Wer nicht gläubig ist, anders denkt oder anders lebt, hat es mittlerweile schwer in der Türkei. Trans-Menschen berichten von einer alltäglich spürbaren Transfeindlichkeit(4). Es werden mehr und mehr Mordfälle registriert wie beispielsweise der Mord in Istanbul an der Transfrau, Sexarbeiterin und LGBTIQ-Aktivistin Hande Kader (1) und der an dem schwulen syrischen Geflüchteten Muhammed Wisam Sankari (2). Die Nichtregierungsorganisation „Transgender Europe“ zählt in dem Land die höchste Zahl an ermordeten Trans-Menschen in Europa. Zwischen 2008 und 2015 wurden in der Türkei 41 Menschen umgebracht, die transgender oder genderdivers sind. (1)
Kurd*innen erleben einen alltäglich spürbaren Rassismus. So muss noch immer jedes Kind bei der Geburt einen türkischen Namen annehmen (6) und Unternehmen untersagen ihren Mitarbeitenden sich auf kurdisch zu unterhalten (22). Als im Oktober 2015 das türkische Militär Bakur (Nordkurdistan, Südosttürkei) überfiel, gab es keinen Aufschrei in der Türkei. Das Militär zerstörte dort ganze Städte wie Sur, Silopi, Nusaybin oder Cizre, nahm die Bürgermeister*innen fest und stellte die Städte unter Zwangsverwaltung. Allein in Cizre kamen bei den Angriffen und der Belagerung 179 Menschen ums Leben. Begründet wurde dieser Krieg mit der Elimination von Mitgliedern der kurdischen Arbeiterpartei PKK, die den Kampf um Selbstbestimmung für alle Identitäten fordert. (18, 19)
Im Januar 2018 befehligte Erdoğan dann unter dem Namen ‚Operation Olivenzweig‘ den völkerrechtswidrigen Einmarsch der türkischen Armee im syrisch-kurdischen Kanton Afrin in Rojava. Daran beteiligten sich islamistische Banden, welche Erdoğan bereits in den Vorjahren mit Waffen ausgestattet hatte, um seinen ideologischen Feind, die kurdische Freiheitsbewegung, in Rojava militärisch zu vernichten (24). Mit dem gleichen Ziel kam es vergangene Woche zu türkischen Luftangriffen auf die Şengal-Region in Südkurdistan. (31)
In Rojava und im Şengal findet eine Revolution statt, die Erdoğans Ideal entgegen steht und er versucht durch seine Expansionspolitik zu unterdrücken. Die Revolution gestaltet sich antistaatlich, antikapitalistisch, ökologisch und antipatriarchal. In Rojava werden jeden Tag und in jedem Bereich des Lebens Kämpfe geführt, um die lange verlorene Freiheit zurück zu erlangen, den tief verwurzelten gesellschaftlichen Sexismus abzubauen und patriarchales Gedankengut durch eine gesellschaftliche Wissenschaft zu ersetzen. So wird die Geschichte von feministischen Widerständen und Freiheitskämpfen im Laufe der Menschheit ans Licht gebracht und in ihre heutige Praxis eingebettet. Durch die militärische Eroberung Afrins durch den türkischen Staat wurden die emanzipatorischen Errungenschaften von Selbstbestimmung und Selbstverwaltung gegen den Zwang der Unterwerfung unter den Mann* und die Religion durchgesetzt.
Die Politik der deutschen Bundesregierung
Die Motivation des Besuches Erdoğans ist die Stärkung der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei. Deshalb scheut die Bundesregierung auch nicht davor zurück ihm Finanzhilfe für die Türkei zum Überwinden der aktuellen Finanzkrise anzubieten. (25) Zum einen stellt die Türkei für Deutschland einen wichtigen Partner in der eigenen Abschottungspolitik gegenüber Menschen auf der Flucht dar (umgesetzt durch den sogenannten „Flüchtlingsdeal“). Zum anderen ist sie einer der relevantesten Abnehmer deutscher Rüstungsgüter. (27) Trotz des türkischen Angriffskrieges auf Afrin erteilte die Bundesregierung im Jahr 2018 bereits 39 Ausfuhrgenehmigungen für Rüstungsgüter in Höhe von 10,1 Millionen Euro an die Türkei. Die exportierten Leopard2 Panzer wurden unter anderem durch die türkischen Truppen in Afrin verwendet. Sie werden durch die Rüstungsfirmen Rheinmetall und KMW produziert.(26)
Es ist davon auszugehen, dass -unter der Prämisse der Verbesserung der Beziehungen- bei dem Treffen über die Ausweitung der Repression gegenüber in Deutschland lebenden kurdischen und türkischen Oppositionellen gesprochen wird. Der Erfahrung nach häuften sich immer vor und nach jedem Treffen zwischen Merkel und Erdoğan Razzien und Festnahmen gegenüber vermeintlichen Aktivist*innen von TKP, DHKP-C, PKK und anderen Gruppen. Die strafrechtliche Legitimation hierzu liefert der interpretierbare §129b „Mitglied einer terroristischen Vereinigung im Ausland“. (13) Damit einher geht ein variables Fahnenverbot. Je nach Bundesland und Veranstaltung werden Fahnen mit Abbildern von Abdullah Öcalan, den vom türkischen Geheimdienst ermordeten kurdischen Widerstandskämpfer*innen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez (11) sowie den Verteidigungseinheiten YPG und YPJ verboten. Die Verbote dienen auch als Grundlage für Hausdurchsuchungen und Festnahmen: Erst vergangene Woche (14.8.), gab es Razzien in München,bei denen zwei kurdischen Aktivist*innen, die mit dem Zeigen von Flaggen begründet wurden. (16) Darüber hinaus ermittelt derzeit die Staatsanwaltschaft Hamburg gegen die Ko-Vorsitzende der Hamburger Fraktion DIE LINKE, Cansu Özdemir, weil sie auf Twitter ein Foto geteilt hat, auf dem u.a. eine Fahne der PKK zu sehen ist. (29) Auch kurdische Vereine und Verlage wurden durchsucht, wobei u.a. Kurdischbücher beschlagnahmt wurden (14). Des Weiteren gab es Razzien in Einrichtungen und Wohnräumen deutscher Linker, welche sich mit der kurdischen Befreiungsbewegung solidarisieren oder gegen Waffenexporte an die Türkei engagierten. (12)
Derzeit sitzen in Deutschland allein wegen des Vorwurfs Mitgliedschaft und Unterstützung der PKK 9 kurdische Gefangene in Straf- oder Untersuchungshaft (13). Gegen sie wurden Gefängnisstrafen zwischen zwei und dreieinhalb Jahren verhängt. Die konkreten Tatvorwürfe sind Teilnahme an und Organisation von angemeldeten Demonstrationen, Sammeln von Spendengeldern für Menschen auf der Flucht und ähnliches. (30) Dieses Jahr wurde auch in Deutschland durch die Polizei versucht Newroz in Hannover zu verbieten, wegen vermeintlicher PKK-nähe. (20, 23)
Für die Ausweitung der Repression ist auch der Ausbau der Geheimdienstbeziehungen unabdingbar. Bereits jetzt wird davon ausgegangen, dass etwa 6000 MIT-Agent*innen in Deutschland aktiv für den türkischen Staat spionieren (7). Wie im Mordfall von Paris vom 9.Januar 2013 (11), schreckt der MIT auch in Deutschland nicht davor zurück politisch Oppositionelle auszuschalten. So wurden vergangenes Jahr zwei Fälle von MIT-Geheimdienstagenten bekannt: Mehmet Fatih S. spionierte in Bremen als Journalist getarnt den kurdischen KCDK-E Ko-Vorsitzenden Yüksel Koç aus und plante einen Mordkomplott gegen ihn. Mustafa K. war in kurdischen Vereinsstrukturen in Hamburg aktiv und spionierte für Mordpläne an der ehemaligen kurdischen BDP-Abgeordneten und Frauenbeauftragten Sevahir Bayindir. (9) In beiden Fällen wurden die MIT-Aktivitäten und -Mordaufträge durch die kurdischen Strukturen enttarnt und an die deutschen Sicherheitsbehörden übermittelt. Doch in beiden Fällen wertete die Generalbundesanwaltschaft die Mordversuche als kurdisch-türkischen Konflikt und erhob keine Anklage wegen versuchtem Mord. (8)
All diese Vorfälle sind nichts neues und exemplarisch für das, was in Deutschland schon seit Jahrzehnten passiert. Die Praxis des deutschen Staates unterscheidet sich kaum von der des türkischen, sie ist nur weniger offensichtlich. Die Bundesregierung führt Erdoğans Politik in Deutschland fort. Tadelnde Worte Merkels gegenüber Erdoğan wirken in diesem Zusammenhang geradezu höhnisch. Die Bundesregierung und ihr nahestehende Medien sind darum bemüht, ein Bild von ihr zu zeichnen, welches das Unterdrücken und Morden durch den türkischen Staat verurteilt und eine klare Position gegenüber Erdoğan bezieht. So wird versucht ihr offensichtliches Zutun zu Erdoğans Politik zu verschleiern. Gleichzeitig wird der anklagende Blick in Richtung Türkei gerichtet und die eigene Überwachungs- und Unterdrückungspraxis gegenüber antistaatlichen, antikapitalistischen und antipatriarchalen Strukturen in Deutschland nicht thematisiert. Faschismus, Rassismus und Sexismus setzen sich in Deutschland gesellschaftlich und staatlich fort.
Deshalb darf sich unsere Kritik nicht nur an Erdoğan richten, sondern auch an Merkel, Seehofer und Konsorten. Wir vertrauen nicht auf die Politik der Herrschenden und erachten es als unsere Pflicht, uns klar gegen ihre Politik zu positionieren. Wir wünschen uns eine vielfältige, herrschaftsfreie, solidarische und ökologische Gesellschaft, ohne Kriegstreiberei, Mord und Unterdrückung. Wir solidarisieren uns mit antipatriarchalen Kämpfen weltweit. Wir verurteilen die Repression und Kriminalisierung von emanzipatorischen Bewegungen – sei es in der Türkei, in Deutschland oder anderswo. Die Revolution in Rojava stellt für uns einen wichtigen Bezugspunkt für eine gelebte Utopie dar.
Wir werden ein klares Zeichen setzen, dass wir mit den Zuständen nicht einverstanden sind. Der Diversität an Ausdrucksformen zur Unmutsbekundung sind dabei keine Grenzen gesetzt. Wichtig ist die klare Nachricht zu transportieren: Es reicht! Wir rufen zu einem kreativen und widerständigen Tag X auf! Kommt zur Demo um 12 Uhr am Alexanderplatz und zur Demo um 18 Uhr am Wismarplatz. Lasst uns gemeinsam auf den Demos und außerhalb Raum erkämpfen unsere Wut zu zeigen!
Jin, Jiyan, Azadî!
Erdoğan NOT WELCOME!
Samstag 29.09. | 12:00 Uhr | Neptunbrunnen | Alexanderplatz | Berlin |
https://erdogannotwelcome.wordpress.com/
LIEBIG34 BLEIBT!
Samstag 29.09. | 18:00 Uhr | Wismarplatz Friedrichshain | Berlin |
Aktionscamp „Rheinmetall entwaffnen. Krieg beginnt hier“
Darüber hinaus wird das Camp “Rheinmetall entwaffnen. Krieg beginnt hier” in Unterlüß ein Ort zur Beteiligung sein. Der Konzern Rheinmetall übernimmt bei der Herstellung des Leopard2 panzers die Produktion entscheidender Teilsysteme, wie die der 120 mm Glattrohrkanone.
https://rheinmetallentwaffnen.noblogs.org/camp/
29. August. – 04. September | Unterlüß
Quellen:
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https://lgbtinewsturkey.com/2016/08/03/syrian-gay-refugee-killed-in-istanbul/
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https://ze.tt/du-fuehlst-jeden-tag-stress-und-anspannung-so-geht-es-jungen-queeren-in-der-tuerkei/
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https://ze.tt/tuerkei-verbietet-lgbt-filmfestival-in-ankara/
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https://www.nadir.org/nadir/initiativ/isku/hintergrund/sakinefidanleyla/index.htm
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https://nadir.org/nadir/initiativ/azadi/presse/2018/180726.html
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https://anfdeutsch.com/hintergrund/yildiz-aktas-in-berlin-inhaftiert-4237
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https://nadir.org/nadir/initiativ/azadi/presse/2018/180310.html
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https://anfdeutsch.com/aktuelles/fast-ein-drittel-aller-hdp-mitglieder-festgenommen-3073
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https://www.heise.de/tp/features/Tuerkei-Militaerischer-Angriff-auf-Nusaybin-3224744.html
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https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/allen-verboten-zum-trotz-wir-werden-newroz-feiern-2945
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https://revoltmag.org/articles/newroz-2018-die-repression-geht-uns-alle/
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https://anfdeutsch.com/kurdistan/zusammenarbeit-von-tuerkei-is-und-al-nusra-zugegeben-1820
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https://anfdeutsch.com/aktuelles/erneutes-ermittlungsverfahren-gegen-cansu-Oezdemir-2941
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http://civaka-azad.org/politischer-vernichtungsfeldzug-gegen-kurden-in-deutschland/
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https://anfdeutsch.com/kurdistan/Sengal-tuerkischer-luftangriff-auf-zivilfahrzeug-6131
Ergänzungen
@mods: bezügl. Spaltungsversuchen
Richtig ist, dass die Bewohner*innen die Leute aus dem damaligen Xbeliebig geworfen haben. Ihre Gründe waren und sind mehr als nachvollziehbar.
Hier die 2 Statements der Hausbewohnis
http://liebig34.blogsport.de/2017/11/21/statement-of-liebig34-to-kick-ou...
http://liebig34.blogsport.de/2017/11/26/second-statement-from-members-of...