Beitrag zu den Diskussions- und Chaostagen: Über die Bedeutung der Begriffe „Chaos“ und „Chaostage“

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Einen Monat vor den in Berlin angekündigten Diskussions- und Chaostagen werden die ersten Diskussionen bereits geführt. Meistens im eher kleinen Kreis aber auch bei einer Vollversammlung im Mehringhof wurden verschiedene Assoziationen mit den Begriffen „Chaos“ und „Chaostage“ deutlich. Nicht wenige Menschen finden die Verbindung von Diskussion und Chaos im Aufruf zu der Veranstaltungsreihe im Mai problematisch.
Grund genug für einen Versuch den Begriff genauer zu definieren.

Das Chaos (von altgriechisch χάος cháos) ist ein Zustand vollständiger Unordnung oder Verwirrung (Wirrwarr) und damit der Gegenbegriff zu Kosmos, dem griechischen Begriff für die (Welt-)Ordnung oder das Universum. Etymologisch hängt das Wort mit dem griechischen Verb χαίνω chainō („klaffen, gähnen“) zusammen, bedeutet also ursprünglich etwa „klaffender Raum“, „gähnende Leere“, „Kluft“. Das Wort χαίνω wird ebenso wie deutsch gähnen auf eine vermutete Wortwurzel der Indogermanischen Ursprache *ghen- zurückgeführt.
Chaos heißt auch eine tiefe Bergschlucht auf der Peloponnes, vergleichbar der Ur-Schlucht Ginnungagap („gähnende Kluft“) der nordischen Mythologie. In der Theogonie des griechischen Dichters Hesiod (ca. 700 v. Chr.) ist das Chaos der Urzustand der Welt: „Wahrlich, zuerst entstand das Chaos und später die Erde …“ (Vers 116). Das Chaos besitzt in diesem kosmogonischen Mythos Ähnlichkeit mit dem Nichts und der Leere. Kinder oder Abkömmlinge des Chaos bei Hesiod sind Gaia (die Göttin der Erde), Nyx (die Göttin der Finsternis, der Nacht), Erebos (der Gott der Finsternis in der Unterwelt), Tartaros (die Unterwelt, Ort und Person zugleich) und Eros (der Gott der Liebe). Alle fünf Götter sind zeitgleich aus dem Chaos entstanden. So zumindest die wissenschaftliche Definition.

Seit dem 17. Jahrhundert bezeichnet Chaos in der Alltagssprache die Unordnung, das Gewirr, das Durcheinander (etwa eines unaufgeräumten Zimmers). Seit Anfang der 1980er Jahre wurde die Bezeichnung Chaot in der Regel abwertend und polemisch als Kampfbegriff von Politiker*innen und ihnen ergebenen Medien verwendet. Die Notwendigkeit dafür ergab sich aus dem Unwillen der Herrschenden, ihre Feinde – also uns – mit deren selbstgewählten Namen zu benennen. Man ging davon aus, dass es auf weniger Sympathie in der Öffentlichkeit stoßen würde, wenn nicht Autonome, Hausbesetzer, Anarchisten oder Punx etwas gemacht hatten, sondern eben Chaoten.

In der Sprache der Eliten, die sie versuchten auch ihren Untertanen einzutrichtern, betrieben Chaoten lediglich eine Sache, nämlich das Chaos und dieses eben nur mit Gewalt. Wahlweise im Auftrag Moskaus, der RAF, oder im Zustand von Drogen- und Alkoholexzessen, entweder als bezahlte Agenten oder als hirnlose Kreaturen. Diese Darstellung gefiel der rebellischen Jugend der 80er Jahre ausserordentlich. Beim Nachrichten schauen im TV oder der Lektüre der Zeitungen wurde sich halb totgelacht, vor allem weil die beabsichtigte Wirkung dieser orwellschen Wortverdrehung für die Herrschenden nach hinten losging.
Für Jugendliche war es eben cooler, Chaot als Bulle zu sein und wer sich auf der intellektuellen Ebene mit dem Thema beschäftigte, wusste, dass weder die so bezeichnete Personengruppe noch das Wort Chaos für Gewalt stehen.

Ganz offiziell wurde 1982 mit Aufrufen zu Chaostagen, u.a. in Wuppertal und Hannover, von einigen Punx dieser Begriff der Sprache der rechten Spießer und Aufstandsbekämpfer entwendet und propagandistisch aufgeladen. Nun reichte die Ankündigung von Chaostagen aus, damit sich Innenstädte verbarrikadierten und nach Polizeischutz verlangten. Der Auslöser für diesen Diebstahl war der Versuch von Stadtverwaltungen, bestimmten Jugendgruppen, meistens den Punx, bestimmte Plätze als Aufenthaltsort zu verbieten.
Alle Stadtverwaltungen scheiterten damit und verloren auch noch die Diskurshoheit so weit, dass sie nach den Chaostagen 1995 in Hannover anfingen, ihre eigenen Versagen mit dem feindlichen Wort zu bezeichnen: Chaostage bei der SPD wegen einer verlorenen Abstimmung, Chaostage bei Bayern München wegen einem verlorenen Fußballspiel, plötzlich wurde jeder Skandal als Chaostage bezeichnet.

Diskussions- und Chaostage:

Manche Stimmen behaupten nun, dass der Zusatz „Chaos“ einige Menschen und Gruppen davon abhalten würde, sich an den Diskussionstagen zu beteiligen. Sei es aus Angst oder weil an der Ernsthaftigkeit einer inhaltlichen Perspektive gezweifelt würde. Diese Stimmen reduzieren den Aufruf auf Krawall, der den Rest in den Schatten stellen soll. Mit dieser Argumentation wird nicht nur die o.g. wissenschaftliche Definition des Wortes ad absurdum geführt, sondern auch die Entwicklung des Chaos als Kampfbegriff nicht verstanden, sogar der Definition der Gegenseite auf den Leim gegangen.

Was ist an einem Zustand vollständiger Unordnung oder Verwirrung auszusetzen? Ist das Chaos nicht vielmehr Voraussetzung zur Überwindung der bestehenden Verhältnisse. Und ist nicht die Ordnung, die diese Verhältnisse garantiert, in der Gewalt ausübenden Position? Chaos kann durch eine Meute Steine werfender Punx entstehen, aber auch durch viele andere Interventionen. Wer sich das nicht vorstellen kann, leidet an einer Phantasielosigkeit, die wir häufig im gegenwärtigem Politikbetrieb der linksradikalen Szene wahrnehmen.
Im Übrigen waren auch schon in Zeiten der „echten“ Chaostage in Hannover die Beziehungen zwischen Punx und Autonomen teilweise angespannt. Denn auch damals fiel es Leuten schwer, sich den Untergang der herrschenden Ordnung vorzustellen. Dieser kann nur unter einer derartigen Gewalttätigkeit von statten gehen, dass unsere Vorstellung von Chaos danach nicht mehr ins Gewicht fällt.

Das Video

Seit einigen Wochen wird ein Video auf internationalen Seiten verbreitet, dass nicht aus dem Vorbereitungskreis kommt, von dem dieser sich aber auch nicht distanziert.

https://vimeo.com/261495156

Getreu dem DIY Konzept haben hier Einige ihre Interpretation der Mobilisierung erzeugt. Ähnlich wie das Wort „Chaos“ im Aufruf wird das Video in Diskussionen mit ähnlichen Argumenten kritisiert. In dem Video ist tatsächlich jedoch kein Chaos zu sehen sondern eher Selbstverteidigung eines bestimmten Stadtteils gegen Bereitschaftspolizei. Diskussionen, aus denen inhaltliche Entwicklungen entstehen können, vielleicht auch etwas ganz neues, sind Voraussetzungen zunächst für eine Selbstverteidigung des eigenen Raumes, als auch für einen späteren Übergang zum Angriff auf den vermeintlichen gesellschaftlichen Konsens, dass alles beim Status Quo bleiben soll.

In welcher Gewichtung an welchen Orten daran gearbeitet werden soll, vor dieser Frage drückt sich die Szene rum. Den Macher*innen des Videos als auch dem Vorbereitungskreis wird von manchen unterstellt, es würde nur um Randale im Nordkiez gehen. Wir denken, dass das Gegenteil der Fall ist. So verstehen wir die Diskussions- und Chaostage als den Versuch, einer thematischen und örtlichen Einkreisung zu entgehen und begrüßen den Aufruf zu den Tagen. Gegen jede konzentrierte Repression hilft nur ein Loskommen von der Kampagnenpolitik, ein Ende der falschen Gleichsetzung von Militanz mit Gewalt, ein Aufgehen im städtischen Raum mit allen, die sich diese Stadt in den letzten Jahren zum Feind gemacht hat (dazu finden wir den Namen des Blogs passend https://gegenstadt.blackblogs.org/ ) und das, was wir vorzuschlagen haben.

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