Warum wir uns nicht auf den Staat verlassen dürfen: Der Fall Lützerath

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Beitrag dazu, dass wir nicht immer wieder auf die Wohltätigkeit von Gerichten und Staat hoffen können. Gerichtsprozesse können Dinge verlangsamen aber nicht aufhalten. Für den selbstorganisierten Widerstand von unten!

Der Artikel ist etwas älter, einige Zeit späer haben die Gerichte genauso entscheiden wie wir es befürchtet hatte... Zeit für einen Wandel in der Klima"gerechtigkeits"bewegung. Ihr findet diesen und andere Artikel auch auf unserm Blog: https://anarchistsinluetzi.blackblogs.org/2022/02/16/warum-wir-uns-nicht...

 

Anarchists in Lützerath, 16.02.22

Es ist kalt im Rheinland. Wir haben Anfang Januar, der Winter ist da und die Kälte zehrt seit Wochen an den Kräften.1 In wenigen Tagen ist es Vollmond und der Nebel hängt tief über Lützerath. Aber die Nächte sind still, zu still. Es schlafen noch alle und es ist ruhig, es dauert noch bis die Sonne da ist und die Zeit fürs Frühstück kommt, aber ein Geräusch lässt mich nicht zur Ruhe kommen… Die Grube töst und brummt so laut wie selten zu hören ist. Denn es regnet heute Nacht nicht und es ist auch kein Wind in dem Baumkronen zu sehen.
Also geh ich die wenigen Meter zum Wall und rüber zur Grube. Ich schaue mich um ob ich die Scheinwerfer der Security Autos erspähen kann. Nichts zu sehen, also geh ich bis auf wenige Meter an den Rand der Mine. Ich kenne den Anblick, aber er lässt mich jedes mal erstarren. Anders als einige es erwarten würden ist es nicht leblos und leer dort unten. Es erstrahlen hunderte Lichter, hauptsächlich gelb. Es ist laut. Maschinen um Maschinen agieren zusammen als eine zerstörerischen Einheit. Weit unter mir liegt der Kern der Gewalt, welcher jetzt erst richtig sichtbar ist. Denn wenn es hell ist sehen wir zwar bei jedem Sonnenaufgang die Schatten der Bagger an der Kante der Mine, wie sie einige Dutzend Meter entfernt die Erde umwälzen und mit ihren Auto-großen Schaufel Unmengen an Erde zerschlagen.
Es ist sehr surreal, es fühlt sich nicht so an als wäre ich noch auf der Erde, sondern als wäre ich in einer dystopischen Geschichte gefangen. Der Anblick wirkt für mich wie eine Basis auf einem fremden Planeten. All das durch getaktete „Funktionieren“ da unten wirkt sehr befremdlich. Immer das gleiche. Immer zur gleichen Zeit. Immer wieder, immer wieder… Die Mine scheint zu leben, denn sie arbeitet ohne Pause und bewegt sich langsam aber tötend weiter.
Ich bleibe noch einige Minuten stehen, ich will mich nicht setzen oder länger hier bleiben. Mir wird immer wieder bewusst, warum ich in Lützerath bin, wenn ich hier stehe. Die Zerstörung des Kapitalismus ist so enorm, dass ich sie schwierig in Worte fassen kann. Hier manifestiert sie sich in der Form einer riesigen Mine, die seit Jahrzehnten durch die Landschaft wandert.
Der Weg zurück zum Camp ist schwerer als der Hinweg, es fühlt sich so an als wäre etwas großes erdrückendes hinter mir her. Nicht das es mich einholen will, eher dass es mich verfolgt. Wie ein zu schwerer Rucksack, der mich zu Boden drücken will. Wenige Stunden später geht die Sonne über der Mine auf, der Nebel verflüchtigt sich langsam. Der morgendliche Frost glänzt im Sonnenschein, dabei fängt er langsam an zu schmelzen. Es tropft von den Bäumen und den Strukturen. Menschen stehen zum Frühstück an. Und die ersten Plena und Arbeiten fangen an. Leben! Das Dorf und die Natur hier lebt. Noch.

 

Und nun? Wieder ein normaler Tag in Lützerath? Die gleichen Gespräche, die gleichen Bauprojekte? Ich kann es schon lange nicht mehr sehen, weiter in diesem System von elitärem, privilegiertem Aktivismus gegen Wände zu rennen. Ich will endlich ausbrechen. Was neues, besseres schaffen. Alles niederreißen und was neues aufbauen. Ich will alles verändern. Aber wo sind die Gefährt*innen mit denen ich nicht immer wieder aufs Neue die gleichen Diskussionen führen muss. Die ich liebe, die mich lieben. Denen ich blind vertrauen kann, die mir blind vertrauen. Die genau wie ich nur noch die Angst vor den kommenden Aufständen kennen, aber keinen Respekt mehr vor Cops, Staat und Kapitalismus haben. Denn ich will keine Aufstände, ich will nichts anzünden, ich will nicht zurück schlagen. Ich will mit allen Menschen in Frieden leben. Ich will das wir alle Hippies sind. Aber das wird leider nicht passieren…

An anderer Stelle werden FLINTA*s2 oder BIPoCs3 unterdrückt, ausgegrenzt oder sogar ermordet. Ich bin davon nicht direkt betroffen, da ich weiß und mit männlichen Privilegien sozialisiert wurde, welches ich beides versuche abzulegen. Ich fühle mich aber bei diesen und anderen Themen verantwortlich und es erdrückt mich emotional jedes mal wenn diese Sachen mir begegnen. Ich will all das bekämpfen, das Patriarchat, den Antisemitismus und Rassismus zerschlagen. Die Grenzen einreißen. Die Jobcenter und Copsstationen in Wohnraum für Wohnungslose verwandeln…
Es ist schwierig, all diese Sachen sind schwierig, überall, aber auch in Lützerath. Denn es ist keineswegs so, als wäre Lützerath die Utopie, frei von all dem Scheiß der mich aus der konservativen Gesellschaft vertrieben hat. Ich bin geflüchtet aus meinem Leben dort und tue es jedes mal wieder wenn ich dann doch mal in die Stadt muss. Aber wohin flüchte ich?

Hier gibt es viele gute Prozesse, aber auch viele die nicht bedacht und nicht angegangen werden. Wir stecken fest, die Klimabewegung steht an einem wichtigem Punkt. Sie bezeichnet sich gerne als Klimagerechtigkeitsbewegung. Aber wo ist denn die Gerechtigkeit? Reicht es aus die Kämpfe die wir führen intersektional4 und global zu denken und hier und da mal eine Solidaritätsaktion für Menschen in Ländern, welche durch die Klimakrise sterben, zu machen?
Mal wieder einen sexistischen oder rassistischen Überriff aufzuarbeiten, dabei aber nicht die Ursache zu bekämpfen. FLINTA*s werden dann wieder traumatisiert. Die cis endo5 Männern verfallen dann in Selbstmitleid, machen dann mal barmherzig doch eine Reproschicht und ändern dann doch wieder nichts. Alles wie immer…
Oder wie sieht es mit dem sogenanntem „system change“ (deutsch: Systemwandel) aus? Reicht es aus wenn wir antikapitalistisch denken, Essen aus den Mülltonnen der Supermärkte retten oder hier und da mal was klauen, was wir sonst nicht kaufen könnten? Ich glaube nicht. Wir müssen uns von den Fesseln des Kapitalismus lösen. Dabei müssen wir zu aller erst anerkennen, dass wir den Klimawandel nicht aufhalten können, er ist schon da. Wir können nur alles dafür geben, dass es nicht schlimmer wird. (siehe readdesert.org) Danach müssen wir unsere antikapitalistische Denkweise auch anfangen in die Tat umzusetzen: Der Kapitalismus wird durch den Staat aufrecht erhalten. Sind wir also antistaatlich! Immer, überall und vor allem auch in Lützerath, denn der Kampf dort ist so wichtig und richtungweisend.

 

Und so kommen wir zum Thema. Immer wieder ersticke ich in Diskussionen in denen ich mir jedes mal aufs neue anhören muss warum es wichtig ist den laufenden Prozess der Anwohnenden aus Lützerath gewinnen zu müssen. Dafür muss alles getan werden. Schöne Pressefotos und sympathische Videos. Lützerath muss freundlich wirken und bürgernah erscheinen. Es darf auf keinen Fall aussehen als würden hier nur sogenannte Linksautonome leben die nur Krawall wollen. Weg mit den ACAT5 Bannern… Klar sind die Menschen hier für einen „system change“, die Meisten aber natürlich nur in einem passendem Rahmen bitte. Dieser soll nicht über Klagen, Petitionen, Demos, zivilem Ungehorsam oder dem „sich räumen lassen“ hinaus gehen. Das bedeutet also „system change“ heißt hier innerhalb der Möglichkeiten, die in einem Staat mit repräsentativer/repressiver Demokratie halt möglich sind, zu agieren? Und damit dieser Weg funktioniert wir alles versucht sich an dieses zerstörerische, unterdrückende System anzubiedern. Cops werden nicht weggeschickt sondern auf Kaffee eingeladen und die Barrikaden werden nicht geschlossen wenn Cops zum Quatschen kommen. Es wird versucht mit Klagen das schlimmste zu verhindern oder im aktuellen Fall eher zu verschieben; bitte lieber Staat mach das Dorf doch nicht kaputt, es ist doch so schön und wir müssen doch Klimaschutz machen…

Auf das Gericht zu hoffen, dass es uns „rettet“ ist ein Weg der immer, auf die eine oder andere Weise, in einer Sackgasse endet. Die Herrschenden6 werden uns immer nur so viel geben um uns ruhig zu stellen, dass wir mit dem Happen den sie uns geben zufrieden sind. Aber das System was all diese toxischen, tödlichen Probleme schafft und unsere Umwelt zerstört, wird sich immer versuchen am Leben zu halten und niemals aufhören mehr und mehr zu Profit machen zu wollen. Das System der Ausbeutung wird sich nicht selbst abschaffen.
Wie unsere Gefährt*innen aus Wuppertal/Osterholz schrieben7:

Aber hey, auch wenn wir die Bemühungen von Anwohner*innen begrüßen auf alle ebenen für den Erhalt vom Osterholz Wald zu kämpfen, wir halten eh nichts von ein Rechtssystem, das nur dazu da ist, den bestehende Verhältnisse zu zementieren.
Verhältnisse die, ohne Rücksicht auf Verluste, unsere Lebensgrundlage zerstören.“

Es wird uns niemals gelingen das herrschende System abzuschaffen, wenn wir es nicht schaffen uns von ihm zu lösen, wenn wir nicht aufhören mit ihm zu interagieren. Das bedeutet das wir nicht auf Gerichte warten oder den Staat um etwas bitten oder auf Politiker vertrauen können. Wir müssen unsere eigenen Strukturen schaffen und diese offensiv verteidigen.8 Wir müssen uns lösen von dem was uns immer wieder zurück zieht in unsere Sozialisierung der konservativen Gesellschaft. Lassen wir die Strukturen in den Städten, die uns immer wieder aufhalten, hinter uns, sie sind zu toxisch um eine revolutionäre, progressive Bewegung zu starten. Wir müssen uns von all den Diskriminierungen lösen und uns kritisch hinterfragen, reflektieren und weiter entwickeln.

So gern ich euch einen Leitfaden dafür geben würde. Es gibt ihn nicht und es wird ihn auch nie geben. Denn dieser Wandel, der uns von Staat, Kapitalismus und Unterdrückung befreit ist einer, den wir nur gemeinsam in einem Lernprozess begehen können. Wir werden dabei Streiten und uns intensiv austauschen müssen. Wir werden viel Kraft brauchen und dafür müssen wir solidarisch miteinander sein. Lasst uns also mutig sein, werfen wir alles was wir haben in den Topf und schauen was raus kommt, es kann nur besser werden als es jetzt ist. Umarmt euch!

Wagen wir den Schritt und scheißen auf Staat, Politik, Cops, Gerichte oder die sogenannte öffentliche Meinung. Sie werden uns nie helfen die Welt zu verändern, denn sie wollen ihre Macht und Profit um jeden Preis erhalten. Last uns nicht weiter zuschauen wie sie Tote in kauf nehmen… Machen wir Lützerath zu einer echten Grenze, die wir auch umsetzen können und zwar eine Grenze für das System Kapitalismus!

Heute wird einiges passieren im Dorf und das ist gut so. Und nein ich rede nicht von einer riesigen Struktur, die hochgezogen wird und auch nicht der Kram der auf der FFF Bühne passiert, vermeintliche Sprecher:innen einer Bewegung im glitzernden Kameralicht… Haut ab!

Nein ich mein was am anderen Ende dieser Straße passiert. Zu lange war der Hof neben dem Haus der Unbekannten in der Hand von RWE. In den letzten Tagen haben wir uns getroffen, geplant und geträumt: eine FLINTA*-Aktion braucht das Dorf war das Ergebnis. Und heute dann treffen sich verschiedene Teams an verschiedenen Stellen und werden sich den Hof nehmen, daran hab ich keinen Zweifel, denn wir sind Mutig und unsere Herzen schlagen im gleichen Takt zusammen. Wir werden klettern und rennen. Wir werden schnell und entschlossen sein. Ich freue mich schon auf die verdutzen Gesichter der Cops, wenn ein weiteres Haus besetzt wurde. Das Dorf gehört uns! RWE und Cops raus aus Lützerath!
Und wir haben hier noch viel mehr vor, das ist erst der Anfang, da bin ich mir sicher! Machen wir unsere Träume wahr…

Bijî berxwedana Lützerath !

i see that you are hurting i see that you’ve been beaten
i see they cut you deep into your very existence
if you need to take some time
if you need to get away
we can all work together to find somewhere warm and dry to stay
cause this will never be safe
and this will never be easy
and we will need to call our parents to let them know we’re still breathing
but if we hold each other near every step of the way
then maybe it’ll be better, maybe it will be better

so lets tell each other that we love them whenever we can
lets keep each other safe as we possibly can
be careful keep quiet most important of all
dont push the ones you love far enough for them to fall
cause when we fall we cant stick together
and we have to stick together
– cistem failure released December 14, 2015

 

 

1) Kälte ist relativ. Wenn ich über Kälte rede ist diese nichts gegenüber dem was die Menschen an der polnisch-belarusischen Grenze durch machen. Ich kann und will mir nicht vorstellen was Kälte und das ewige frieren mit den Menschen dort macht.
Solidarität mit allen Menschen die aufgrund von Grenzen leiden. Alle Grenzen abschaffen!

2) FLINTA steht für Frauen, Lesben, inter, nicht-binäre, trans und agender Menschen. Dies umfasst einen Großteil des vom Patriarchat unterdrückten und betroffenen Menschen. Diese Gruppen sind oft von toxisch (männlicher), geschlechtlich orientierteroder anderer Gewalt betroffen.
Informiert euch weiter über den umfassenden Sammelbegriff FLINTA, wir können hier keine umfassende Aufarbeitung dazu leisten. Checkt beispielweise: UNTER PALMEN oder AS:IM…

3) BIPoC steht für Black and Indigenous People of Colour, deutsch: Schwarze, Indigene und Menschen die nicht weiß sind und somit unter dem Rassismus der Gesellschaft leiden und an vielen Stellen, wie auch in der sogenannten linken Szene, massiv unterdrückt werden und starke Gewalt erfahren.

4) Intersektionalität ist ein Konzept von Kimberlé Crenshaw und bedeutet „sich überschneiden“. Es beschreibt wenn Menschen von verschiedenen Diskriminierungen betroffen sind. So sind Schwarze trans* Frauen zum Beispiel intersektional betroffen, weil sie von Sexismus, Trans*feindlichkeit und Rassismus betroffen sind, anstatt zum Beispiel nur von Sexismus.

5) cis geschlechtlich steht für Menschen, die sich mit dem, bei ihrer Geburt zugeschriebenen Geschlecht identifizieren. Endo-geschlechtlich ist das Gegenteil von inter-geschlechtlich und bedeutet, dass eine endo-geschlechtliche Person mit ihrem Körper in eine eindeutige medizinische Norm von männlich beziehungsweise weiblichen Körpern passt.

6) ACAT: all cops are targets (deutsch: alle Polizisten sind Ziele), wird als alternative zu ACAB genutzt, da das Wort Bastard einen christlichen und sexistischen Hintergrund hat. Siehe dazu: rotehilfegreifswald.blogsport.de/2012/12/13/warum-a-c-a-b-scheisse-ist/
ACAB: all cops are bastards (deutsch: alle Polizisten sind Bastarde)

7) Herrschenden sind in unsrem Verständnis Menschen die vom Kapitalismus profitieren und ihre Macht gegenüber anderen Menschen ausüben und diese ausbeuten, sowie Politiker die nicht für Menschen sondern für Lobby- und Privatinteressen agieren.

8) jederbaumzaehlt.noblogs.org/post/2022/01/11/vorbereitungen-auf-allen-seiten/

9) Leseempfehlung für alle, aber besonders für Menschen die sich auf Lützerath beziehen:
Wohin gehen wir und was wollen wir eigentlich? – Über die Klimabewegung und wo sie hin kommen kann
hausderunbekannten.blackblogs.org/2022/01/22/wohin-gehen-wir-und-was-wollen-wir-eigentlich/

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