"Wenn ein Volk inmitten einer Pandemie auf die Straße geht, ist es, weil die Regierung gefährlicher ist als der Virus" - Zum jetzigen Aufstand in Kolumbien
Generalstreik, Massenproteste, Blockaden, harte Konfrontationen zwischen Protestierenden und den Bullen, Brandstiftungen, zahlreiche Plünderungen. Die Bevölkerung Kolumbiens befindet sich im Aufstand. Was sich zunächst als Generalstreik und Protest in den großen Städten gegen eine neue Gesetzesreform entzündete, hat sich nun zu einer landesweiten Erhebung entwickelt.
Aufgrund des Mangels an eigenen Informationsmöglichkeiten erhebe ich keinen Anspruch auf Vollständigkeit und vollkommene oder chronologische Richtigkeit. Zudem ist mein Blickwinkel wegen der Distanz stark beschränkt und möglicherweise von eurozentrischem Denken beeinflusst. Trotzdem gab ich dem Impuls nach, die deutsche Linke aus zwei verschiedenen Gründen zu informieren. Erstens: Indem ich darüber schreibe werde ich, wenn auch nur begrenzt, Teil des Widerstands. Zweitens: Aus den Entwicklungen der letzten eineinhalb Jahre lässt sich gut analysieren, wie es zu diesem Aufstand kam. Aus einer aufständischen Analyse können wir Schlüsse für unsere eigene Theorie und Praxis ziehen, trotz starker gesellschaftlicher Differenzen. Deswegen hier ein kurzer Bericht und der Versuch einer vorsichtigen Einordnung aus der Ferne.
Alles begann mit der Ankündigung einer neuen Steuerreform, genannt "reforma tributaria", welche die Kosten der Pandemie deckeln und die Wirtschaft stabilisieren soll. Vor allem sollte dieses Geld durch die stärkere Besteuerung der mittelständischen Unternehmen und des Einzelhandels sowie durch die Herabsetzung der Einkommensgrenze zur Steuererhebung erlangt werden. Weiter sollte die Mehrwertsteuer erhöht und auf weitere (Grund-)Güter ausgeweitet werden, wie Wasser, Gas, Elektrizität, Bestattungen und Elektrogeräte. 73% der zusätzlichen Einnahmen für das Vorhaben sollten von der Bevölkerung kommen, die restlichen 27% von privaten Unternehmen.
Dieses Vorhaben stieß auf großen Widerstand und entfachte die Wut vieler Bürger*innen. Es kommt zu einer Zeit, in der die soziale Situation in Kolumbien durch die Pandemie besonders katastrophal ist. Viele Menschen haben ihre Arbeit verloren, die Armut hat sich verschärft. 2019 lebten in Kolumbien insgesamt 33,7% der Bevölkerung, also 17 Millionen Menschen in Armut. Heute sollen es ca. 45% sein. Die Anzahl derer, die unter oder gerade so an der Existenzgrenze leben ist weiter gestiegen. Viele Arbeiter*innen gehen unregistrierten Arbeiten als fliegende Händler*innen nach, die nicht besteuert werden müssen. Als es im Frühjar 2020 coranabedingt zum Lockdown kam, gingen viele von ihnen auf die Straße. Sie skandierten, dass wenn sie das Virus nicht umbringt, dann der Hunger. Die neue Gesetzesreform trifft vor allem die Mittelklasse Kolumbiens. Aber auch die prekären Schichten der Bevölkerung sind in ihrer ohnehin misslichen Situation existenziell davon betroffen. Der ausgerufene Generalstreik für den 28.04. entfachte das soziale Pulverfass, das sich in Jahrzehnten kapitalistischer, neoliberaler und oligarchischer Herrschaft gefüllt hat. Trotz der höchsten Infiziertenzahlen seit Beginn der Pandemie.
Der Aufstand kam aber nicht so plötzlich wie in Chile, sondern kündigte sich bereits im Herbst 2019 an, als Massenproteste gegen die rechts-konservative Regierung von Ivan Duque ausbrachen. Anlass damals waren eine Arbeits-und Rentenreform, wogegen die Gewerkschaften einen Generalstreik ausriefen, der von verschiedenen sozialen Bewegungen unterstützt wurde und überraschender Weise zu einer starken Dynamik führte. Der Massenprotest richtete sich aber gegen weitaus mehr als die neue Reform. Unmut erzeugte das allgemeine politsche Klima und die soziale Ungleichheit im Land. Mobilisiert wurde von LGBTQI's, indigenen und afrokolumbianischen Gruppen, Frauen, der Bauernschaft, Student*innen und Arbeiter*innen. Sie gingen auf die Straße gegen Privatisierungen, die weit verbreitete Korruption, die Rücknahme des Friedensvertrags von Havanna mit der FARC-Guerilla und nicht zuletzt gegen die zahlreichen Morde an Anführer*innen von sozialen Bewegungen, Organisationen und Kollektiven. Allein 2020 wurden etwa 320 "lideres sociales" [1] in Kolumbien ermordet. Viele von ihnen entstammen indigenen Bevölkerungsgruppen, die für ihre Rechte kämpfen. Kurzum - sie alle forderten ein Leben in Würde und Frieden. Es kam zu heftigen Auseinadnersetzungen zwischen den Aufstandsbekämpfungseinheiten der "ESMAD" und den Protestierenden. Seit Jahrzehnten war es nicht zu derart massivem Widerstand aus der kolumbianischen Bevölkerung gekommen.
Diese Entwicklung im Herbst 2019 darf nicht losgelöst von den vielen Ereignissen in Lateinamerika betrachtet werden. Damals erfasste eine Welle von Unruhen zahlreiche lateinamerikanische Staaten, unter anderem Bolivien, Chile, Ecuador, Nicaragua, Mexico, Puerto Rico. Viele Protestierende in Kolumbien zogen eine Analogie zu Chile und solidarisierten sich mit dem kämpfenden chilenischen Volk. Dort weiteten sich die Proteste gegen die Erhöhung der Kosten für den öffentlichen Nahverkehr in einen generalisierten Aufstand aus. Unterbrochen wurden die anhaltenden Kämpfe aber durch die Corona-Pandemie im Frühling 2020. In Kolumbien gingen wie schon erwähnt zu dieser Zeit zahlreiche Menschen gegen den Lockdown auf die Straße.
Im September 2020 brannten nächtelang die Straßen, zahlreiche Polizeistationen wurden angezündet. Epizentrum der Krawalle war die Hauptstadt Bogota. Grund war die Tötung eines Mannes bei einer Festnahme durch die Bullen in eben dieser Stadt. Wie George Floyd rief Javier Ordoñez, er könne nicht atmen, bevor er dann mit dem Elektroschocker traktiert wurde und anschließend im Krankenhaus starb. Die Wut brach sich in vielen Vierteln Bogotas Bahn, expandierte aber auch in andere Städte und richtete sich vor allem gegen die Schweine. Die Krawalle wurden blutig niedergeschlagen, mindestens 12 Menschen verloren ihr Leben.
Zurück zu den Ereignissen der letzten Tage: Der Generalstreik am 28.04. entfachte erneut das lodernde Feuer der letzten eineinhalb Jahre, welches durch Corona zusätzlich geschürt wurde. In der drittgrößten Stadt des Landes, Cali, entfaltete sich die Wut am stärksten. Während mittags Tausende friedlich demonstrierten, eskalierte die Situation am Abend. Symbole von Staat und Kapital wurden verwüstet und teilweise in Brand gesetzt. Es kam zu Konfrontationen mit den Bullen, Barrikaden wurden errichtet, Statuen von Kolonialherren gestürzt, Verkehrskameras zerstört und zahlreiche Läden geplündert. Mehrere Busse und Metrostationen wurden ebenfalls in Brand gesetzt. Die Bullen verloren nicht nur an diesem Abend die Kontrolle über die Stadt. Die Proteste und Auseinandersetzugen hielten die nächsten Tage über an, der Generalstreik wurde landesweit erhalten. Es kam zu Demonstrationen im ganzen Land. Unruhen wurden anfangs in den Großstädten Bogota, Cali und Medellin registriert. Die Regierung Duques entsandte das Militär in die Städte um die Aufstandsbekämpfungseinheiten zu unterstützen.
Mittlerweile hat Duque einen Rückzieher gemacht und die Gesetzesreform zurückgenommen, nachdem er vergeblich zum Dialog aufgerufen hatte. Aber die Unruhen gehen weiter und es könnte der Punkt erreicht sein, an dem man nicht mehr von einer sozialen Protestbewegung, sondern von einem generalisierten Aufstand reden kann. Denn der Widerstand zielt wie 2019 schon nicht nur gegen die Reform, sondern gegen die allgemeine soziale Lage und die politische Herrschaft. Die Erhebung in den Städten ist auf die ländlichen Gebiete übergesprungen. Die Unruhen haben sich ebenfalls von den Großstädten auf mittelgroße Städte ausgeweitet, Plünderungen werden sogar in Kleinstädten gemeldet. Nationale Haupverkehrsadern werden blockiert, Straßen und Zugänge in die Städte werden versperrt. LKW's stauen sich kilometerlang auf den Landstraßen und in manchen Städten wie Cali kommt es bereits zu Versorgungsengpässen. Kolumbien scheint paralysiert zu sein, während seine Bevölkerung elektrisiert und in Bewegung ist.
Von anfang an reagierte die rechts-konservative Regierung mit massiver Repression. Neben dem üblichen Einsatz von Tränengas und Schockgranaten wurde vielerorts scharfe Munition durch die Polizei eingesetzt. In Cali, wo der Wutausbruch der Bevölkerung am heftigsten war, wurden allein in einer Nacht 9 Menschen durch die Aufstandsbekämpfungseinheiten getötet. Es gibt auch Meldungen, dass von den Aufständischen scharf geschossen wird. Insgesamt sollen bis jetzt 26 Personen durch die Regierungskräfte getötet worden sein, Hunderte Demonstrant*innen wurden verletzt, ein Polizist wurde totgeprügelt. Die Regierung setzt wie immer auf die Diffamierung der Proteste indem sie behauptet, diese seien durch Kräfte der FARC und ELN infiltriert, die die Gewalt eskalieren lassen. Gängige Vorwürfe. die zurückgewiesen werden. Stattdessen werden Regierung und Sicherheitskräfte stark für die zahlreichen Toten kritisiert.
Die starke Repression, die Rücknahme der Reform und der Rücktritt des Finanzministers haben zuletzt nicht die gewünschte Wirkung erzielt. Die Wut ist geblieben, der Widerstand hat sich ausgeweitet. Ob er sich weiter generalisiert, wird sich in den nächsten Tagen zeigen. Sicher ist aber, dass die Menschen in Kolumbien momentan ihre unwürdigen Lebensverhältnisse nicht mehr hinnehmen. Sie werden sich auch nicht von der Pandemie aufhalten lassen. Die kolumbianische Bevölkerung ist aufgewacht und hat sich erhoben. Es bleibt abzuwarten, ob der Funke wie 2019 auf andere Länder Lateinamerikas überspringt.
Solidarität mit dem kämpfenden kolumbianischen Volk! Nieder mit der Regierung!
Es lebe der Aufstand!
Resistencia!
[1] Meistens sind ultra-rechte paramilitärische Truppen für diese Morde verantwortlich. Entstanden als Bürgerwehren gegen linke Guerillas stehen sie schon seit langem in Verdacht für rechtskonservative Politiker*innen und die multinationalen und Großunternehmen zu arbeiten. Die Verbindungen sollen von lokalen Ämter bis in das Nationalparlament und sogar bis zu (ehemaligen) Präsidenten reichen. Wie ihr Name schon andeutet agieren sie als zusätzlicher Arm kapitalistischer Herrschaft neben dem Militär. Zahlreiche Massaker, Erpressungen, Landvertreibungen und Hinrichtungen gehen auf ihr Konto.