Hamburg - Wir nehmen uns die Straße zurück - Denn jeder Tag ist feministischer Kampftag!

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In der Nacht zum 8. März wurden in Hamburg Wilhelmsburg mehrere Straßen, die nach cis-männlichen Aristokraten und Unternehmern benannt sind, kurzerhand in Ehren von feministischen Kämpfer*innen umbenannt. In diesem Stadtteil sind nahezu 90% der Straßen nach Cis**-Männern benannt, das stößt uns gehörig auf und wir finden, dass FLINTA*s zu Unrecht unterrepräsentiert sind. Dabei haben FLINTA*-Personen in der Geschichte Beeindruckendes geleistet. Erzählt werden aber meist nur die Geschichten von Cis-Männern – zum Beispiel über die Ehrung in Form von Straßennahmen. Deswegen wollten wir am internationalen feministischen Kampftag uns die Straße zurücknehmen und Sichtbarkeit für FLINTA*s, ihre Geschichten und Errungenschaften schaffen. Da die Umbenennungen nur von kurzer Dauer waren - nicht mal 24 Stunden konnte es ertragen werden, die Namen dieser Menschen im Straßenbild zu sehen – wollen wir die Aktion im Netz verewigen und andere inspirieren, es uns nach zu machen. Denn jeder Tag ist feministischer Kampftag!

Wir wählten 5 verschiedene FLINTA*s aus, die alle in Hamburg gelebt haben, von verschiedenen Diskriminierungsformen betroffen waren und unterschiedliche Kämpfe geführt haben. Dabei gäbe es noch sehr viel mehr Personen, auf die wir gerne aufmerksam machen würden, die Auswahl beansprucht keine Vollständigkeit oder Repräsentanz aller Personengruppen oder Kämpfe für sich.

* FLINTA ist eine Abkürzung. Sie steht für Frauen (das meint meist spezifisch cis hetero Frauen), Lesben, Inter Menschen, Nichtbinäre Menschen, Trans Menschen und Agender Menschen.

** Cis bezeichnet jene, die sich mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde, identifizieren und dieses Geschlecht auch ausagieren.

 

SEMRA ERTAN

Semra Ertan wurde am 31.5.1956 in Mersin, Türkei, geboren und kam 1972 im Alter von 15 Jahren mit ihren sechs Schwestern nach Deutschland, weil ihre Eltern hier als ausländische Arbeiter*innen lebten. Sie arbeitete als Dolmetscherin und technische Bauzeichnerin, betätigte sich politisch gegen Rassismus und für Frauenrechte. Semra Ertan war Lyrikerin und schrieb mehr als 350 Gedichte. Aus Protest gegen den alltäglichen Rassismus und Diskriminierung verbrannte sie sich am 24.5.1982 öffentlich und starb zwei Tage später an den schweren Verbrennungen. Am 23.5.1982 kündigte Semra Ertan ihren Freitod in Anrufen an den NDR und das ZDF an und forderte: „Ich möchte, dass Ausländer nicht nur das Recht haben, wie Menschen zu leben, sondern, dass sie auch das Recht haben, wie Menschen behandelt zu werden.“

 

HEIDI BURMEISTER

Heidi Burmeister wurde am 4.11.1944 in Bad Doberan geboren. Als Tochter einer Arbeiterfamilie, lernte sie früh Diskriminierung kennen. Für die Eltern kam eine höhere Schulausbildung für die Tochter nicht in Frage. In der Lehre zur Einzelhandelskauffrau kämpfte sie gegen traditionelle Weiblichkeits-vorstellungen. Heidi Burmeister initiierte mit anderen die „ Hamburger Frauenwoche“; gründete den Verein „Frauen auf Reisen“ und die FrauenAnstiftung. Ihre Veranstaltung „Chancen und Fallstricke lesbischer Liebe“ stieß auf überwältigendes Interesse, weil dieses Thema sonst nirgends öffentlich besprochen wurde. Zudem war sie sehr aktiv in der Anti-Atomkraft Bewegung, gründete ein Frauenforum im Wendland und schrieb ein Buch: „Zu kämpfen allein schon ist richtig“. Am 11. Dezember 1999 ist Heidi Burmeister in Hamburg gestorben.

 

ANGIE STARDUST

Angie Stardust wurde 1939 in Norfolk/Virginia geboren und wuchs in Harlem/New York City auf. Bereits in der Kindheit merkte sie, dass sie eine Frau ist, was seitens des Vaters regelmäßig zu Vorfällen häuslicher Gewalt führte. Mit 14 stand sie das erste Mal auf der Bühne und setzte sich gegen den Rassismus in der weißen Travestie-Szene durch. Sie war von rassistischen und transfeindlichen Übergriffen durch die New Yorker Polizei betroffen. Angie Stardust tourte durch Europa und ging 1983 nach Hamburg. Dort leitete sie das „Crazy Boys“, das erste schwule Striptease-Theater in Deutschland. Sie wurde zum Star des Pulverfass-Cabarets und gründete 1991 ihren eigenen Nachtclub, „Angie's Nightclub“ im Schmidts Tivoli-Theater. Als Hamburger Szenepersönlichkeit erhielt sie den Beinamen „Big Mama of Soul“. Außerdem spielte sie in verschiedenen Filmen mit, u.a. 1983 in Rosa von Praunheims „Stadt der Verlorenen Seelen - Berlin Blues“. Angie Stardust starb am 1. Oktober 2007 in Hamburg.

 

DOROTHEA BUCK

Dorothea Buck wurde am 5. April 1917 in Naumburg a. d. Saale geboren. Im Alter von 19 Jahren wurde sie mit der Diagnose „Schizophrenie“ erstmals psychiatrisch behandelt und lernte die damals üblichen menschen-verachtenden Praktiken zur „Disziplinierung“ kennen. Aufgrund des nationalsozialistischen „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurde Dorothea Buck zwangssterilisiert, was ihren persönlichen sowie beruflichen Werdegang einschränkte, denn nach NS-Recht durften Zwangssterilisierte keine sozialen Berufe ausüben. Dorothea Buck setzte sich vor allem für eine verständigere und menschlichere Psychiatrie ein. Sie gründete mit anderen Betroffenen den Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener sowie das erste Psychoseseminar in Hamburg. Hierbei treten Patient_Innen, Angehörige und in der Psychiatrie Beschäftigte in einen gleichberechtigten Austausch (Trialog) über psychische Erkrankungen. 1987 begründete Dorothea mit anderen den „Bund der Zwangssterilisierten und „Euthanasie“-Geschädigten e.V.“ und trug somit dazu bei, diese Opfergruppe des Nationalsozialismus vor dem Vergessen zu bewahren. Dorothea Buck ist am 09.10.2019 in Hamburg verstorben.

 

GERTRUD BAER

Gertrud Baer wurde am 25. November 1890 in Hamburg geboren. IBereits mit 15 Jahren begann Gertrud Baer, sich in der Frauenstimmrechts-bewegung zu engagieren. Auf einer verbotenen Frauenversammlung lernte sie Lida G. Heymann kennen. Mit ihr gründete sie das Hamburger erste Frauenzentrum. In der Zeit des I. Weltkriegs siedelte Gertrud Baer nach München um und wandte sich öffentlich gegen den Krieg. 1915 nahm sie am Internationalen Frauenkongress in Den Haag und an der Gründung der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF) teil. In der Münchner Räterepublik richtete sie im Sozialministerium ein Frauenreferat ein. In den 20er-Jahren emigrierte sie in die USA. Dort war sie für die IFFF tätig, Mitarbeiterin bei der UN-Menschenrechtskommission, Mitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte und Herausgeberin der Zeitschrift „Pax et Libertas“. 1977/78 erschien ein Dokumentationsfilm: „Gertrud Baer – Ein Leben für die Gleichberechtigung der Frau, für Frieden und Freiheit“. Gertrud Baer starb am 15. Dezember 1981 in Genf.

 

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