Say their names – in jeder Straße, an jedem Ort

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Am Morgen des 19. Februar sind in Werbevitrinen an verschiedenen Orten in der Stadt Plakate aufgetaucht, welche die Gesichter der neun Menschen zeigen, die bei dem rassistischen Mordanschlag vor einem Jahr in Hanau getötet wurden. Darunter steht “Am 19. Februar 2020 wurden 9 Menschen aus rassistischen Motiven ermordet. Erinnern heißt kämpfen! Für eine solidarische Gesellschaft – Gegen den rassistischen Normalzustand!”. Die Plakate erinnern uns an den Anschlag, der die Leben von Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Pâun und Fatih Saraçoğlu nahm.

Struktureller Rassismus in Behörden

Der Täter hat sich vor dem Anschlag im Internet wiederholt rassistisch, faschistisch und feindlich gegenüber vermeintlichen Muslim*innen geäußert. Auch vor seinem Anschlag, hat er wiederholt Personen rassistisch angegriffen und Jugendliche auf der Straße mit seiner Waffe bedroht. Konsequenzen hatte dies für ihn nicht. Auch nach der Tat hat das in den Augen der sogenannten Sicherheitsbehörden keinen Handlungsdruck dargestellt.¹

Piter Minnemann war währed des Anschlags, in der Midnight Bar, dem ersten Tatort. Gemeinsam mit seinen Freunden, die die Tat nicht überlebten. Auf einer Kundgebung berichtet Piter: „Am Tag, als meine Freunde erschossen wurden, hat die Polizei mich nicht ernst genommen. Eine Stunde nach meinem Anruf kam die Polizei. Was hätte in dieser Stunde noch alles passieren können? Ich habe den Beamten erzählt, dass Menschen erschossen wurden. Doch ich hatte das Gefühl mit einer Wand zu reden. Erst nach zehn Minuten sind die Polizisten in die Bar gerannt.“²

Dies zeigt erneut, dass die Behörden die Betroffenen offensichtlich nicht ernst genommen haben. Ganz anders kann es aussehen bei Straftaten von denen BIPoC betroffen sind – in diesen Fällen wird häufig im familiären Umfeld der Betroffenen ermittelt, was Täter-Betroffenen-Verhältnis umkehrt und rassistische Motive unaufgedeckt lässt.

Konstruktionen um “Clan-Kriminalität”

Was bei dem polizeilichen Ermittlungseifer in den familiären Umfeldern migrantischer Personen zusätzlich mitschwingt, ist das Konstrukt der sogenannten “Clan-Kriminalität”, der immer mehr zum Generalvorwurf gegenüber migrantischen Personen und PoC aufgeladen wird. Das hatte auch vor einem Jahr in Hanau verheerende Folgen.
Die rassistischen Morde fanden in zwei Shisha-Bars in Hanau statt. Vor Kurzem wurde bekannt, dass die Menschen an jenem Tag nicht vom Täter fliehen konnten, weil der Notausgang versperrt war – und zwar infolge einer polizeilichen Anordnung, damit Gäste im Falle von Kontrollen nicht fliehen können. Dies zeigt uns, wie Sicherheitsbehörden sich nicht für die Sicherheit aller einsetzen und wie ihr rassistisches Vorgehen die körperliche und psychische Unversehrtheit migrantisierter Menschen und BIPoC aufs Spiel setzt.

Der Extremismus der Mitte

NSU, Neukölln-Komplex, Halle, Hanau, Nordkreuz – auch wenn ein Naziskandal nach dem anderen durch die Medien geht, leben wir in einer Gesellschaft, die diese Taten als Einzelfälle aufnimmt. Dadurch wird die gesellschaftliche Mitverantwortung an den Taten verschleiert und der rassistische und kapitalistische Normalzustand stabilisiert. Der Anschlag von Hanau ist auch möglich geworden durch rechte Hetze – nicht nur seitens der AfD – und einer Gesellschaft, die diese Hetze aufnimmt und duldet. Auch wenn sich Rhetorik und Ausdrucksform der bürgerlichen und konservativen Rechten und Mitte von der des Hanau-Mörders unterscheiden – sie beteiligen sich auf verschiedene Arten an der Verteidigung der rassistischen Verhältnisse. Statt den Fokus auf das faschistische Gedankengut des Täters zu legen, wird immer wieder seine psychische Verfassteit thematiisert und damit versucht das Narrativ der Einzelfälle aufrechtzuerhalten und die rassistischen Motive kleinzureden. Dieser Zustand schmälert nicht die gesellschaftliche Mitverantwortung an den Morden!

Rassismus muss auch als Positionierung in einer bürgerlich-kapitalisitschen Welt verstanden werden. Während in den Ländern des globalen Südens Landraub und Extraktivismus betrieben wird, die dortige Wirtschaft durch transnationale Unternehmen zerstört und die Auswirkungen der Klimakrise am deutlichsten zu spüren sind, dient Rassismus auch im globalen Norden als Herrschaftsinstrument. Migrantischen Personen soll durch Rassifizierung ein Platz am unteren Ende der kapitalistischen Rangordnung zugewisen werden, untermauert unter anderem durch Racial-Profiling, Diskriminierung durch Behörden oder die ständige Drohung mit dem Verlust des Aufenthaltstitels oder gar der Abschiebung. Wer sich nicht auf deutschen Spargelfeldern für Hungerlöhne ausbeuten lassen will oder sich nicht bereit erklärt die unbeliebten, schlecht bezahlten Arbeiten, z.B. in den Schlachtfabriken von Tönnies und Co, zu verrichten, habe in der BRD nichts verloren, so der Tenor der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Dazu dienen ihnen dann auch klassistische Konstruktionen einer angeblichen “Einwanderung in das deutsche Sozialsystem”.

Ein Kampf gegen die ökonomischen Ausprägungen des Rassimus darf dabei aber nicht in einer Befriedung innerhalb der kapitalisitschen Gesellschaft in Form von “Diversity-Management” oder anderen Einhegungsversuchen bestehen, sondern sollte eine radikale Kritik an den Verhältnissen formulieren und die Verschränktheit der Herrschafts- und Ausbeutungsmechanismen im Blick halten.

Rassismus, Antisemitismus, Antifeminismus und Verschwörungsideologien als Kernelemente des rechten Terrors

Die weltweiten Ereignisse der letzten Jahrzehnte, von Utøya über Christchurch, Seattle bis nach Halle und Hanau haben die Gefahr, die durch rechten Terror besteht auf schrecklich-eindrückliche Weise an die Oberfläche gebracht. Immer wieder haben die Täter Manifeste veröffentlicht, in denen sie ihre menschenverachtenden Ideologien predigen. Durch die Lektüre dieser Manifeste wird ein Zusammenwirken unterschiedlicher Elemente von rechter Ideologie deutlich. Es wird der angebliche jüdische Plan des “großen Austauschs” imaginiert, der Feminismus sei dabei ein Mittel die Geburtenzahlen der weißen Bevölkerung zu senken und Migration gezielt gesteuert. Solche Weltbilder werden durch Online-Kulte wie den der “Incels” und das Aufgreifen dieser durch Organisationen und Parteien wie der Identitären Bewegung oder der AfD befeuert. Antisemitismus dient so als Welterklärungsversuch, und auch der Täter von Hanau gab die Schuld an seiner Situation eingebildeten Geheimorganisationen. Antifeminismus ist dabei ein immer zentralerer Teil von rechtem Denken (wie es auch die aktuelle Leipziger Autoritarismus Studie zeigt)² und ist insbesondere in Internet- und Gamingforen ein beliebter Andockpunkt an rechte Ideologie.

Auch das verschwörungsideologische Umfeld von Querdenken & Co stellt eine enorme Gefahr dar. Genau durch solche Zusammenschlüsse wird rechtsextremes Gedankengut salonfähig gemacht während gleichzeitig an neuen rechten Terrorakten geplant wird.

Angriffe auf antirassistische Gedenkarbeit

Während der Rechtsruck in vollem Gange ist, wird antirassistische Gedenkarbeit behindert und erschwert. Freund*innen und Familien der Betroffenen und viele andere haben sich organisiert und vernetzt. Die Initiative 19. Februar wurde gegründet⁴, um zu erinnern, zu mahnen und für die Forderungen der betroffenen Angehörigen einzustehen. Die Arbeit der Initiative wird unter anderem von dem Vater des Täters behindert, welcher seinem Sohn ideologisch nahe gestanden haben soll. Er stellte mehrmals rassistische Anzeigen – die Gedenkstätten seien “Volksverhetzung” – und forderte die Tatwaffen zurück. Die Polizei hat ihn dabei bisher wenig gestört, Angehörige wurden weder gewarnt noch Schutzangebote ausgesprochen.

Gedenkveranstaltungen

Wie auch beim generellen Kampf gegen Rassismus und Kapitalismus verlassen wir uns auch bei dem Gedenken an Hanau nicht auf den Staat!
Am heutigen Tag soll dezentral an die Ermordeten erinnert und getrauert werden. Doch es soll auch ein kämpferisches Zeichen sein, dass es so nicht weitergehen kann. Dass die Morde von Hanau Konsequenzen haben müssen. Das bedeutet nicht nur die lückenlose Aufklärung der Tat, sondern auch die Anerkennung der weißen Mehrheitsgesellschaft, dass rassistische Morde niemals Einzeltaten sind, dass Alltagsrassismus und Kapitalismus in ihrer Zuspitzung in dem resultieren, was vor einem Jahr passiert ist und dass sie von diesem rassistischen Normalzustand profitiert und für ihre Opfer mitverantwortlich ist.

Erinnern heißt verändern. Erinnern heißt kämpfen!

¹www.ozgurpolitika.com/haberi-hanau-eine...
²19feb-hanau.org/wp-content/uploads/2021...
³www.boell.de/de/leipziger-autoritarismu...
https://19feb-hanau.org/

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Ergänzungen

Mich hat der Gedenkabend vor zwei Tagen auch erschüttert, aber viele Argumente scheinen ja in ihrem Aktionismus fast nach einem starken Staat zu schreien, und das lehne ich ab. Schon, dass jemand aus politischen Gründen keine Waffe haben darf, oder jemand als psychisch krank gelabelt wird, in den USA geht das ja so weit, dass Mensch nach einer Straftat nicht rehabilitiert ist, sondern nach dem Knastaufenthalt nie wieder wählen darf. Auch scheint es bei vielen Leute ja legitim zu sein, den Vater des Täters hinterrücks zu killen, oder wie sind 6 Leibwächter zu verstehen, ihr könnt ja gern mal Fragen wie es Seyran Ates mit ihren Bodyguards geht, die "Verräterin", "Abweichlerin" etc. Es ist schlimm genug, dass das Recht auf politisches Asyl unter Kohl gekippt wurde und mit Hate Speech Gesetzen auch eine Gefahr ist, unliebsame Gegner_innen zu entsorgen, aber was mich wirklich stört, dass die Unschuldsvermutung aufgehoben werden soll, eine der kleinen tollen Errungenschaften der alten Bundesrepublik um minimal zu zeigen, dass etwas aus dem dritten Reich gelernt worden ist. Zumindest wenn Leute legalistische Debatten aufmachen, sonst ist das eh hinfällig.

 

Wenn ich höre, dass die für ein paar Telefonschaltungen in Hessen es immernoch nicht schaffen, die Notrufe besser zu koordinieren und schon ein Jahr Zeit hatten, kommt mir schon das kalte Kotzen, aber andere Themen wie die verschlossene Hintertür machen mich stutzig. Wenn es dauernd dort Razzien gab, wieso gab es da keine Selbstkritik. Wär doch nicht wild zu sagen, ja Person x hat über den Eigenbedarf da was gekauft, mein Gott who cares, in den Akten steht es es, aber wieso muss da nach aussen alles schön und konfliktfrei sein, als wäre man im biedersten Schwaben?

Was ist da los, wenn ihr Clankriminalität pauschal als Falschmeldung abtut? Ich bin an einer inhaltlichen Debatte sehr interessiert und entnehme mein Wissen aus der Berliner Tagespresse. Über 60 Häuser wurden dem Miri Clan durch die Bullen dort abgenommen, das muss man erstmal hinbekommen, ich kann mir nicht mal eine einzige Eigentumswohnung leisten! Selbstredend ist es scheisse, dass Leute über Jahrzehnte keine Arbeitserlaubnisse gegeben werden, aber falls jemand auf Urban Gardening steht, der Senat(?) hat eine Gartenkollonie in Neukölln konfisziert, die von dieser Großfamilie gekauft und abgetragen werden sollte, es gab da eine ARD Doku drüber.

Nein, ich will Kritik und keinen Positivrassismus, ich find es immernoch daneben, wenn Leute AMG fahren und obszön mit Geld prahlen oder es der Traum vieler Jugendlicher mehr ist eine gerechte Welt zu finden, sondern "reich" zu werden, das ist Scheisse für mich, und dafür bin ich auch nie demonstrieren gegangen, so einfach! Wenn der Staat mich nicht vor der Wirtschaft schützt, kann die Lösung doch nicht in noch mehr illegalen Geschäften, Machotum, Brutalität liegen.

 

Ich bin froh, dass ich mit den Drogen aufgehört hab und ich war auch nie in der Lage mehr zu erfragen, welche Mafia ich mit dem Geld unterstütze und die wenigen persönlichen Kontakte zu Tickern die etwas höher in der Hierachie standen widern mich noch Jahre später an. Doch das sind gerade Vorbilder die in den Charts weit oben stehen. Warum ist das für Antirassist_innen so ein scheiss Tabu?