Ultimatum

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Auf den Straßen reagieren die algerischen Behörden mit dem gleichen Tränengas und mit dem gleichen Diskurs (1) : "Entweder wir oder das Chaos"... "Vorsicht, ihr wurdet infiltriert"... "Wie könnt ihr es wagen, im Namen des Volkes zu sprechen"... "Es gibt einen Rahmen, in dem ihr eure Ansichten äußern könnt: demokratische Wahlen!". Sie haben im Handumdrehen alle Arten von Tricks ausprobiert, neue und alte. Auch in Algerien leiten sie eine "große nationale Debatte" ein. Das ist die Grundlage der Aufstandsbekämpfung: Scheindebatten auf der einen Seite, harte Repressionen auf der anderen Seite und Rechtfertigung des einen durch das andere.

 

 

Aber dies ist nicht mehr die Zeit, um diese Vorgaben zu respektieren. Es sind nunmehr 40 Jahre vergangen und die herrschende Klasse spielt seit langem ihr Marionettentheater „der Politik und der Wahlen“. Die Krise wartet nicht. Das Aussterben der Bienen wartet nicht. Der Gerichtsvollzieher wartet nicht. Die Klimakatastrophe wartet nicht. Demonstranten, die ein Auge verloren haben, warten nicht. Die Verunreinigung mit Pestiziden wartet nicht länger. Fische, die mit Plastikmüll vollgestopft sind, und die massakrierte Delfine warten nicht.

Die Senatoren können jedoch warten. Die politischen Kommentatoren können warten. Die großstädtischen Yuppies können warten. Die Pensionskassen können warten. Monsanto und Bayer können warten, das war schon immer das Geheimnis ihrer erstaunlichen Gewinne. Wir ertrinken und sie sagen uns, wir sollen auf die nächsten Wahlen warten, bei denen endlich ein unbedeutendes Gesetz verabschiedet werden könnte.... Was für ein Witz! Das Warten wird sich als unser großer Fehler erweisen, und zwar von Anfang an. Und uns zu überzeugen, zu warten, war die größte Leistung unserer Herrscher.

Jenes, was sich jetzt erhoben hat, wird nicht mehr nachgeben. Wenn das Abfeuern von Granaten, die ideologischen Masseneinschüchterungswaffen wie der Vorwurf des Antisemitismus gegen eine ganze Bewegung und der ganze verbale Durchfall im Fernsehen gegen den "Aufruhr" entfesselt werden, wenn die Morddrohungen gegen Demonstranten (2), wenn das neue "Anti-Vandalismus"-Gesetz, wenn alles, was die Gilets Jaunes zum Aufgeben und Heimgehen veranlassen soll, nicht ausreicht, dann wird nichts die "Ordnung" wiederherstellen. Weil ihre scheinbare Ordnung eine offensichtliche Katastrophe ist. Keine Spur von Müdigkeit (auf unserer Seite) kann die Dinge wieder so werden lassen, wie sie vorher waren. Allein die Tatsache, dass sich die Partei des Präsidenten unter diesen Umständen dazu beglückwünscht, in den Meinungsumfragen wieder die Nase vorn zu haben, zeigt, wie kaputt die "Politik der Wahlen" geworden ist.

Der Kohorte der alten „Geldschöpfer“, die den "jungen" Marionettenpräsidenten unterstützen, fällt es immer schwieriger, ihre Wut über die Unterbrechung ihres normalen Geschäftsbetriebs zu verbergen.

Die "große Debatte" wird Macron nur die Chance geben, in der einzigen Übung zu glänzen, in der er sich auszeichnet: Der Präsentation der Klasse, wo man für die Galerie eine Expertise vortäuschen muss, die man nicht wirklich hat. Und für das Regime wird dies einer dieser Momente der totalen, paradoxen, sinnlosen, schleichenden, im "Sowjetstyle“ gehaltenen Propaganda gewesen sein.

 

Es ist sehr lange her, dass wir zuletzt gesehen hatten, wie eine solche Gang von Lügnern so einstimmig empört über die angeblichen Laster der Menschen war, die sie ausnehmen.

Es reicht natürlich nicht aus, dass die Gewinner gewonnen haben: Sie müssen auch die, die sie mit Füßen getreten haben, moralisch vernichten, um dorthin zu gelangen, wo sie sind.

In ihrem zeitgemäßen Ausweichen "nach rechts" verschweigt die Regierung nicht die Tatsache, dass aus der großen Debatte eine winzige Maus geboren (3) wird; eine Vielzahl kleinerer technischer Änderungen, die sich über drei Jahre erstrecken; dass ein wenig Autoritarismus keinen Schaden anrichtet und dass eine höhere Dosis Neoliberalismus das vorzuschreibende Heilmittel für die verheerenden Auswirkungen des Neoliberalismus ist.

Sie kann nicht einmal erkennen, dass die Polizei, die Justiz und die Medien, die sie in den letzten Monaten eingesetzt haben, um sich an die Macht zu klammern, den Boden unter ihren Füßen verloren haben. Dass die Tarnmasken verrutscht sind. Dass ihre Rhetorik jetzt nur noch mit Abscheu betrachtet wird. Das ist die Blindheit derer, die anderen die Augen ausreißen.

Am Samstag, den 16. März, wird in Paris die Konvergenz des Aktes XVIII der Gilets Jaunes ("Ultimatum: Ganz Frankreich nach Paris!"), die Demonstration der "quartiers populaires" (4) gegen Polizeigewalt und der "Marsch des Jahrhunderts" für das Klima stattfinden - mit anderen Worten, die Konvergenz von mehr oder weniger allen Problemen, die die gegenwärtige Regierung nicht anzugehen vermag. Alle Fragen, die über sich selbst hinausweisen, heute die dringlichsten sind. Alle Gründe, aus denen wir unser Schicksal in die Hände nehmen müssen. Wenn der Impuls zur Eroberung der Hauptstadt des französischen Staates so breit geteilt wird, dann deshalb, weil Paris den Schlüssel zu unserer Situation in der Hand hält, wo immer wir uns in Frankreich befinden, so ist das aufgrund der Zentralisierung dieses Landes.
Medien- und Wirtschaftsmacht, Verwaltungs- und Kulturelle Macht, die Präsidentschaft, die Minister, die "Vertreter der Nation", die multinationalen Konzerne und Lobbyisten jeder Art: Allesamt haben sie sich für ihre Heimstatt ein ein paar Quadratkilometer großes Territorium auserkoren, beschützt, aber versenkbar.

"Macron Rücktritt" ist nicht der Ausdruck einer zwanghaften Fixierung auf die symbolische Macht des Staates, sondern die politische Voraussetzung, um die lokale Kontrolle über unsere Lebensbedingungen wiederzuerlangen.

Macron gibt außerdem zu, dieses Hindernis zu sein: "Sie werden mich vielleicht mit einer Kugel töten, aber nie anders". Der aufständische Impuls, nach Paris zu gehen, zeichnet sich seit Beginn des Aufstands der Gilets Jaunes am 17. November als notwendiger Schritt auf dem langen Weg zu einer anderen Lebensweise, einer anderen Produktionsweise ab, die von Region zu Region, von Kanton zu Kanton, von Nachbarschaft zu Nachbarschaft unterschiedlich ausgedrückt und gestaltet wird.

Wir alle leben an einem bestimmten Ort; von diesem Ausgangsort aus wurden die Gilets Jaunes geboren, und von dort aus kann diese zerstörte Welt repariert werden. Und nicht von einem Verwaltungszentrum aus, ob national oder europäisch. Wir haben in dieser Bewegung sehr gut gesehen, wie das Lokale leicht zum Allgemeinen wird, durch die wechselseitigen Echos, die zwischen den verschiedenen Orten ausgetauscht werden.

 

Niemals zuvor in dieser apokalyptischen Ära hatte der Slogan "Revolution oder Tod" eine so konkrete und wissenschaftlich bewiesene Bedeutung. Das Festhalten an unserer derzeitigen sozialen Ordnung bedeutet Selbstmord, und keiner der Kapitalisten wird die geringste Verringerung der Raubgier des Systems in Betracht ziehen. Aber während einige Revolutionen als "Lokomotiven der Geschichte" sehen, sehen wir sie eher als Notbremse. Wir müssen alles beenden und von vorne anfangen. Das mag beängstigend sein, aber wir haben noch nie erlebt, dass 60 Millionen Menschen verhungern. Und was wir in der Wärme der Verkehrskreisel gefunden haben, ist die Simplizität, uns selbst intelligent zu organisieren, jeder auf der Grundlage seiner eigenen Bedingungen.

Um die Wahrheit zu sagen, angesichts der Regierungen, die überall die Weichen für das Äußerste gestellt haben, haben wir keine Wahl mehr.

Am 16. März in Paris und danach überall in Frankreich, was gibt es eine schönere Jahreszeiten als den Frühling, um wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkehren? Und was gibt es Schöneres im Frühling als das Ende der elenden Herrschaft der Ökonomie zu erleben?

 

Fußnoten:

 

(1) Wortspiele mit „Gas“ sind im Deutschen aus naheliegenden Gründen schwierig, deshalb diese Variante der sinngemäßen Übersetzung

 

(2) Das französische Innenministerium erklärte nach den ersten Demos der Gilets Jaunes in Paris, bei denen es zu heftigen Krawallen gekommen war, man könne nicht mehr dafür garantieren, dass es keine Toten bei künftigen Polizeieinsätzen geben würde

 

(3) Ich habe mich hier für eine Anlehnung an das deutsche Wortspiel „der Berg kreißte und gebar eine Maus“ entschieden

 

(4) Ursprünglich Arbeiterquartiere, heute häufig synonym für die Trabantenvorstädte

Anmerkung:

 

Der ursprüngliche Text erschien am 11.März 2019 auf Lundi Matin (http://lundi.am/Ultimatum-1905), meine Übersetzung lehnt sich an die englische Transkription von Winter OAK an (https://winteroak.org.uk/2019/03/11/ultimatum/amp/?__twitter_impression=...).

 

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Ergänzungen

Was gibts sonst auf lundi AM :

Carl schmidt ohne Ende (https://lundi.am/CECI-N-EST-PAS-UN-MOUVEMENT, https://lundi.am/LETTRE-A-NOS-COUSINS-D-AMERIQUE, etc),

Serge Quadruppani Unterstützer des Shoah-Leugners Robert Faurisson (https://lundi.am/La-presidentielle-n-aura-pas-lieu-Prologue-par-Serge-Qu..., https://lundi.am/Demain-on-joue-gros, etc) kann auch über die Shoah auf Lundi AM schreiben (https://lundi.am/Berlin-1933-vu-de-la-Mediterranee-en-2018-Serge-Quadrup...),

eine Apologie der 13-November(2015)-Daesh-Attentätern (https://lundi.am/La-guerre-veritable),

über mögliche Allianzen mit der Polizei (https://lundi.am/Sur-la-police-une-opinion-minoritaire),

Demo-Aufruf vom FN-nahen Marcel Campion (https://lundi.am/lundimatin-cette-semaine-199),

die homophobe, sexistische, antisemitische Aktivistin Houria Bouteldja ( https://lundi.am/Une-indigene-au-visage-pale, https://lundi.am/Une-haine-une-cible-par-Eric-Hazan, etc) aus der PIR-Partei,

Faschismus-Apologie (https://lundi.am/Le-proletariat-bresilien-n-a-pas-ete-vaincu-par-la-dict... - letzter Absatz),

ETC p.p.

Mal schnell geschrieben.

Lundi Am sind Maos und Neo-BoulangistInnen ( https://de.wikipedia.org/wiki/Boulangismus) mit der Gelbwesten-Bewegung geworden.

Bei der Gelbwesten-Bewegung geht es auch um Poujadismus (https://de.wikipedia.org/wiki/Poujadismus), historischerweise.

Bis bald !