Mach dich mal locker? Solidarische Perspektiven auf einen Alltag mit Corona

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Abstract: 
Aber wie kann ein solidarischer Ansatz aussehen, jetzt Mit-Corona und Mitmenschen, die sich unterschiedlich zu der aktuellen Zeit Mit-Corona verhalten, umzugehen? Können wir es schaffen, die Waage zu halten zwischen individueller Freiheit und Sensibilität den Bedürfnissen Anderen gegenüber? Ist es machbar, dafür zu sorgen, dass sich die Menschen, die sich „eher strikt“ oder nur „ein bisschen offen“ verhalten, in unterschiedlichen sozialen Kreisen und Kontexten nicht dauernd wie auf einer extrem übergriffigen Party fühlen müssen? Möglicherweise sogar in selbst bezeichneten "safe spaces", die in jahrelanger Initiative aufgebaut wurden, und sich nun auch im Umgang mit der Pandemie positionieren müssen? Können wir im Leben Mit-Corona und unterschiedlichen Bedürfnissen nach Distanz und Nähe neue soziale Normalitäten kultivieren, die unvermeidlich anders sind, aber nicht zwangsläufig nur beschränkend sein müssen, sondern im Gegenteil inklusiv und solidarisch?

Allerorten Lockerungen - wie weitermachen?

Im Zuge der vielerorts beschlossenen Lockerungen der Kontaktbeschränkungen stellt sich nun für
uns alle ständig neu die Frage, wie wir unser soziales Leben möglichst selbstverantwortlich und
zugleich kollektiv-solidarisch gestalten wollen, solange die Pandemie nicht überwunden ist.

Diese Situation führt dazu, dass du nun immer wieder neu entscheiden kannst, wie und wann du
dich auf der Skala von „sehr strikt“ zu „sehr offen“ im Umgang mit der Pandemie verhältst. Die
Ärztin Evelin Dacker hat schon im Mai ein Modell zu sensibler sozialer Covid-Care nach dem
Auslaufen staatlicher Regulierungen vorgeschlagen, das als Orientierungshilfe genutzt werden
kann1. Einen Blick darauf zu werfen kann nicht schaden, zeigt die Skala doch eine eingängige
und praktikable Bandbreite an Verhaltensweisen und Umgangsformen auf,
die auch abseits des eigenen Standpunkts und deines sozialen Umfelds praktiziert werden
- und in der Öffentlichkeit teils unsichtbar sind.

Konflikte zwischen Re-Normalisierung, "Gesundheit" und "Risikogruppen"

Die Personen beispielsweise, die weiterhin "sehr strikt" sind, wirst du wohl kaum auf der Straße
treffen, da sie weiterhin zuhause bleiben, soziale Kontakte digital pflegen und sich alles was sie
benötigen nach Hause liefern lassen. Das mag angesichts von Menschentrauben in Parks und
Diskussionen über mögliche Urlaubsziele nicht nahe liegen, aber tatsächlich gibt es besonders
unter Menschen die um eigene Vorerkrankungen wissen, viele, die für sich nur sehr eingeschränkte
Möglichkeiten sehen, mit der Situation umzugehen. Wirklich, es gibt sie, die sehr strikten.

Im Alltag, in dem aber wieder eher strikte und sehr lockere Menschen aufeinandertreffen, kann
dieser unterschiedliche Umgang schnell zu Konflikten führen. Die Situation ist noch ungewohnt, die
Zeit der Einschränkungen noch nicht verarbeitet, und die Sehnsucht nach vor-Corona-Normalität
groß. Zu engen Freund*innen weiterhin körperlichen Abstand einzuhalten, fällt vielen schwer.
Wenn Bekannte auf der Straße plötzlich nicht mehr umarmt werden möchten, oder sich einige
Personen in größeren Gruppen eher isolieren, kommen schnell nicht immer klar benennbare,
negative Gefühle auf. Die Vorsicht anderer Personen kann zum Beispiel störend wirken, da sie
unweigerlich daran erinnert, dass die Pandemie nicht vorüber ist.

Menschen, die die Situation locker angehen, fühlen sich dann von den eher Strikten schnell
moralisch vorverurteilt, oder sogar als potentiell infektiös abgestempelt, häufig aus deren
persönlichen Näheraum ausgegrenzt und teils persönlich verletzt.
Allgemein herrscht in der Öffentlichkeit augenscheinlich ein eher lockerer Umgang, eine Re-
Normalisierung. Abstandhalten in Warteschlangen, die Empfehlung, eher kleine soziale
Kontaktkreise zu haben, in Innenräumen Masken zu tragen, wird häufig vernachlässigt. Diese Re-
Normalisierung wird im direkten sozialen Kontakt besonders dann deutlich, sobald eher strikte
Menschen Nähe vermeiden wollen und unmittelbar nach den Gründen für ihr Verhalten befragt
werden, während das eher lockere Verhalten allerdings kaum hinterfragt oder vor anderen
Menschen immer wieder neu legitimiert werden muss.

Dabei vermissen auch eher strikte Menschen Nähe und Gesellschaft und würden sicherlich gerne
wieder zurück in eine gewisse Normalität.

Die Gründe, die für die jeweiligen Personen dagegen sprechen, sind dabei sehr vielfältig:
Coronabedingte Todesfälle und schwere Corona-Krankheitsfälle im eigenen Umfeld, körperliche
Erfahrungen mit anderen Virenerkrankungen, wissentlicher Umgang oder Zusammenleben mit
Menschen aus der vermuteten "Risikogruppe", eigene Unsicherheit wegen Vorerkrankungen, oder
Vermutung, mit großer Wahrscheinlichkeit Teil der "Risikogruppe" zu sein, kein Interesse an
körperlicher Teilnahme am Pandemiegeschehen, symptomfreie*r unwissentliche*r
Übertragende*r zu sein und ggf. Mitmenschen anzustecken, die am Virus leiden/sterben könnten,
der Wunsch, eine zweite Welle zu verhindern, um im Winter in Kneipen und anderen öffentlichen
warmen Orten sitzen zu können, sowie vieles mehr. Besondere Konsequenz im strikten Umgang entspringt
jedoch häufig aus Wissen um die Verletzlichkeit des eigenen oder anderer Körper,
und dem Willen, sich und andere vor einer Infektion möglichst gut zu schützen.

Der Begriff "Risikogruppe" steht in Anführungszeichen, da er aus mehreren Gründen
problematisch ist. Zum einen suggeriert er, dass es sich hier um eine klar definierbare Gruppe
handelt. Im Bewusstsein der Öffentlichkeit ist außerdem ein Bild der "Risikogruppe" entstanden,
das diese vor allem mit älteren Menschen und vermeintlich sichtbaren Vorerkrankungen verbindet,
bzw. Erkrankungen mit Alter assoziiert. Die Konstruktion von Gruppen innerhalb einer Gesellschaft
anhand vermeintlich klar erkennbarer medizinisch-biologischer Eigenschaften birgt starke
Ausgrenzungspotentiale und ist entsprechend problematisch.

Die Pandemie erinnert uns im besten Fall deutlich daran, dass Ausgrenzungen aufgrund von Alter,
Krankheit oder Behinderung auch vor dem Ausbruch des neuen Virus schon ein riesiges Problem
waren. Die aktuelle Krise sollte diese Mechanismen nicht noch verstärken, sondern schafft eine
Chance für Sensibilisierung. Dazu gehört natürlich auch, die Projektion des teilweise
diskriminierenden Diskurs um "Risiko", "Sicherheit" und "Schutz" auf diese Gruppe zu hinterfragen.
Einen Menschen dieser "Risikogruppe" zuzuordnen bedeutet, diese Person als potentielles "Opfer"
einzuordnen, und in Konsequenz "gesunde" oder als "normal" gedachte Menschen in eine
"Beschützer*innen"-Rolle positionieren zu können. Es entsteht eine Dynamik, in der bestimmten
Personen passive, und anderen aktive Rollen in einem Feld zwischen "schutzbedürftig" und
"beschützend" zugeschrieben werden, obgleich es sich bei allen um eigenständige Akteur*innen
handelt, die in der momentanen Situation gleichermaßen Verantwortung übernehmen können.

Hinzu kommt, dass sich im Zuge der weiterlaufenden wissenschaftlichen Erforschung des Virus
 die vermeintliche "Gruppe" zudem als gar nicht so klar definierbare herausstellt.
Wurden beispielsweise Asthmatiker*innen im März noch dazugezählt, rückten z.B. im Juni
eher bestimmte Blutgruppen als "Risikofaktoren" in den Blick. Die Komplexität menschlicher
 Körper und die noch am Anfang stehende Forschung zu einem neuartigen Virus, das mit jeder
Neuinfektion mutieren kann und Körper unterschiedlich angreift, machen eine klare Abgrenzung der
tatsächlichen "Risikogruppe" sehr schwer.

Die Abgrenzung der "Risikogruppe" im öffentlichen Bewusstsein kann vor allem jüngeren
Menschen ohne bekannte Vorerkrankungen die Sicherheit suggerieren, die Pandemie sei nicht
ihre Angelegenheit. Der Schluss, Alter und Gesundheit seien in dieser Situation voneinander
abhängig, führt zum Ausschluss älterer Menschen und verschleiert zudem die Tatsache, dass
Vorerkrankungen eben nicht notwendigerweise sichtbar sind. Diabetes, HIV, Transplantationen,
Krebs, Auto-Immunerkrankungen und sehr viele weitere vielfältige von der "gesunden Norm"
abweichende körperliche Zustände sind kaum vom Äußeren ablesbar und können Menschen jeden
Alters betreffen.

Auch Vorstellungen von "gesund" und "krank" verdienen mehr Aufmerksamkeit, vor allem im
Hinblick auf herrschende Gesundheitsparadigmen. Es ist sicher schön, wenn Menschen sich
"gesund" fühlen können. Jede Person, die sich "gesund" fühlt, und für sich selbst festgelegt hat, zu
den (momentan geschätzt) 20% zu gehören, die eine Infektion symptomlos überstehen, sollte sich
im gleichen Zug aber auch damit auseinandersetzen, in welche Position sie diese self-perceived
health, diese selbst wahrgenommene eigene Gesundheit, im gegenwärtigen Pandemiegeschehen
rückt. Die eigene Gesundheit wird besonders unter Jüngeren gerne auf das eigene durchschnittlich
jüngere soziale Umfeld übertragen. Die Annahme eines eigenen "starken" Körpers, der den Virus
so "bekämpfen" kann, dass die Person selbst nicht darunter leidet, entbindet allerdings
 wegen der Möglichkeit, Überträger*in zu sein, nicht von einer Verantwortung für Andere.
Hierbei stellt sich die Frage, inwiefern die selbst wahrgenommene eigene Gesundheit nicht auch ein Privileg
gegenüber denjenigen darstellt, die dem Geschehen aufgrund von chronischen oder akuten
Erkrankungen gerade nicht mit einer selbst wahrgenommenen Gesundheit und selbst postulierten
"starken Körper" begegnen können.

 

Neue solidarische Normalitäten mit Corona

Schon vor Corona waren viele Menschen wegen gesellschaftlichen Vorstellungen körperlicher
Normalität von vielen öffentlichen und privaten Räumen ausgeschlossen. Die jetzige Situation
sollte ein neuer Anstoß sein, Beschränkungen zu erkennen, zu beseitigen und divers körperlich und
gesundheitlich befähigten Menschen Zugang zu diesen Räumen zu ermöglichen.

Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen können je nach Diagnose, Medikation und anderen
Faktoren häufig weiterhin einen sozialen Alltag führen, in dem diese Vorerkrankungen nicht die
ganze Zeit Thema werden müssen, und öffentliche wie private Räume offen stehen - wenn eben Rücksicht
auf ihre Bedürfnisse genommen wird. Das war vor Corona so und ist auch jetzt so.

Aber wie kann ein solidarischer Ansatz aussehen, jetzt Mit-Corona und Mitmenschen, die sich
unterschiedlich zu der aktuellen Zeit Mit-Corona verhalten, umzugehen? Können wir es schaffen,
die Waage zu halten zwischen individueller Freiheit und Sensibilität den Bedürfnissen Anderen
gegenüber?
Ist es machbar, dafür zu sorgen, dass sich die Menschen, die sich „eher strikt“ oder nur „ein
bisschen offen“ verhalten, in unterschiedlichen sozialen Kreisen und Kontexten nicht dauernd wie
auf einer extrem übergriffigen Party fühlen müssen? Möglicherweise sogar in selbst bezeichneten
"safe spaces", die in jahrelanger Initiative aufgebaut wurden, und sich nun auch im Umgang mit
der Pandemie positionieren müssen?

Können wir im Leben Mit-Corona und unterschiedlichen Bedürfnissen nach Distanz und Nähe neue
soziale Normalitäten kultivieren, die unvermeidlich anders sind, aber nicht zwangsläufig nur
beschränkend sein müssen, sondern im Gegenteil inklusiv und solidarisch?

Vielleicht. Hoffentlich. Es liegt letztlich im Verantwortungsbereich jeder in Ideen und Formen
kollektiver Selbstorganisation eingebundenen Person, mit dem Anspruch von Solidarität und
Awareness die aktuelle Situation anzugehen.

Und schließlich braucht es maßgeblich den Willen zur aktiven Gestaltung und Veränderung hin zu
einer neuen Normalität mit-Corona und Sensibilität unterschiedlichen Bedürfnissen gegenüber.
Statt einer raschen Re-Normalisierung die unweigerlich mit Ausschlüssen einhergeht - neue wie im
alten status quo eingeschriebene - könnten kreative Wege erprobt werden, Formen sozialen
Zusammenlebens möglichst inklusiv und infektionsschützend, also solidarisch und kollektiv
verantwortlich zu gestalten.

WHOnderground hat sich dazu bereits ein paar Gedanken gemacht und möchte diese
hiermit für alle* als Anstoß zur persönlichen und kollektiven Auseinandersetzung zugänglich
machen.

 

Corona Care - konkrete solidarische Ansätze

Der Virus wird wahrscheinlich nicht einfach so verschwinden, und wir täten besser daran, lieber
schnell als langsam Strategien aus linker, solidarischer, emanzipatorischer Perspektive zu
entwickeln. Die Pandemie macht keine Pause. Deshalb sollte auch klar sein, dass unter Abwägung
individueller Freiheiten die bestmöglichste Einhaltung der minimalsten Infektionsschutzmaßgaben
noch lange Zeit notwendig sein wird - diese sind mittlerweile ja hinlänglich bekannt: Abstand,
Maske, Händewaschen, Symptome bei sich selbst ernst nehmen.

Im Folgenden soll es eher darum gehen, wie wir langfristig unseren Alltag, private und kollektive
Räume und Begegnungen gestalten können.

- Wenn du eher strikt bist und einer offenen Person begegnest, versuche deren Einstellung und
Bedürfnisse zu akzeptieren. Und andersherum. Seid transparent miteinander.

- Versuche anzuerkennen, dass die Situation für Menschen mit akuten oder chronischen
Erkrankungen gerade belastender sein kann. Was diese Menschen vermutlich nicht brauchen, ist Mitleid,
sondern Support und Sensibilität.

- Du darfst es nicht persönlich nehmen, wenn Menschen gerade nicht deine körperliche Nähe
suchen wollen. Es geht dabei nicht um deine Person, sondern einen Virus, der von
asymptomatischen Menschen verbreitet werden, die Gesundheit schädigen oder zum Tod führen
kann.

- Erinnere dich: Wir leben in einer globalisierten Welt, Reisebeschränkungen werden wieder
aufgehoben. Daher ist es wichtig im Kopf zu behalten, dass offiziell niedrige Fallzahlen in einem
bestimmten Gebiet nur beschränkt Orientierungshilfe für den eigenen Umgang geben können.
Denn der Virus reist in asymptomatischen Menschen mit und kann unter geeigneten Bedingungen
rasant schnell zu exponentiellen Ausbrüchen führen - auch in vermeintlich "coronafreien" Gebieten.

- Wissenslage zum Virus wie auch das Infektionsgeschehen verändern sich täglich.
Verantwortungsvolles Verhalten bedeutet, weiterhin informiert zu bleiben - egal wie anstrengend
die Auseinandersetzung mit den täglichen Nachrichten gerade ist.

- Viele Menschen haben momentan Probleme damit, sich im öffentlichen Raum wieder stressfrei
zu bewegen. Abstand halten ist z.B. in der Kaufhalle, im Zug oder im Imbiss, auf der Post und am
See nicht immer einfach. Nimm dir lieber die Zeit Leute vorbeizulassen, anstatt Menschen unter Druck
zu setzen und zu stressen, indem du dich an ihnen vorbeidrängelst oder ihnen sehr nah kommst.
Sei aufmerksam für andere Leute, die selbst gerade warten um irgendwo lang gehen zu können oder dranzukommen.

- Am einfachsten ist es wohl, wenn wir uns alle erst mal an der Idee orientieren, jede Person, die
wir treffen, könnte es eher strikt angehen.

- Du solltest demnach zu jeder Person, der du in der Öffentlichkeit begegnest, erst mal einen
Abstand halten. Im so geschaffenen Raum lässt sich dann für beide rasch abklären, ob man sich
nun füßelt, ellenbogt, kurz möglichst risikofrei drückt oder stundenlang in den Armen liegt. Mimik
und Gestik sind manchmal schwer zu interpretieren, gerade wenn du die Person wirklich unbedingt
in die Arme schließen willst. Deshalb solltest du immer einfach kurz fragen! Das hat nichts mit
verkrampfter Unspontanität zu tun, sondern ist einfach ein Zeichen von Sensibilität. Außerdem ist
es, wenn du dich mal daran gewöhnt hast, weniger als halb so umständlich wie du vielleicht
denkst.

- Wenn du die körperliche Nähe anderer Personen suchen willst, versuche möglichst transparent zu
sein, wie du dich gerade verhältst, ob du eher strikt bist, viel reist, Menschen triffst, auf Partys
gehst, etc. Das ist deswegen so wichtig, da du so deinem Gegenüber die Möglichkeit gibst, eine
bewusste Entscheidung zu treffen. Es könnte eher strikten Personen beispielsweise leichter fallen,
anderen eher strikten Personen näher zu kommen. Folglich ist auch anzunehmen, dass ein lockerer
Umgang ggf. langfristig körperliche Nähe zu eher strikten Personen ausschließen kann.

- Diese Einstellungen können sich auch ständig verändern. Wer vielleicht in drei Wochen eine
leukämiekranke Freundin besuchen möchte, geht es in dieser Zeit „eher strikt“ an. Dass du eine
Person vor einer Woche noch umarmt hast, muss nicht bedeuten, dass du es wieder einfach tun
solltest, ohne dich vorher zu erkundigen, ob das okay ist.

- Emotionalen Druck mit Ansagen wie „ich vermisse es total, dich zu umarmen“ aufzubauen,
könnte eher schwierig für andere Personen sein, die das sicherlich auch vermissen, aber ihre
eigenen Gründe dafür haben, gerade auf Umarmungen zu verzichten.

- Wenn Menschen eher strikt sind, verzichte erstmal darauf, die Gründe zu erfragen. Wie oben
dargelegt, kann es ganz viele Gründe geben, und die jeweiligen Entscheidungen zu hinterfragen
kann Menschen unter Druck setzen. Verzichte ganz besonders auf die direkte Frage, ob sie krank
seien. Menschen als „krank“ outen zu wollen, ist nicht cool, sondern kann extrem übergriffig sein.
Wenn die betreffende Person dir etwas mitteilen möchte, wird sie das selbst tun.

- Als Person die eine entsprechende Vor- oder chronische Erkrankung hat, oder aus anderen
Gründen eher strikt ist, musst du dich anders herum nicht unter Druck gesetzt fühlen, dich gegen
deine Willen zu outen. Infektionsschutz geht alle etwas an und die Sinnhaftigkeit deines
persönlichen Bedürfnisses muss nicht mit einer Krankheit begründet werden.

- Versuche bitte nicht, Personen, die sich als „krank“ outen, ihr Risikobewusstsein absprechen zu
wollen, um sie „aufzulockern“. Der Körper gehört der anderen Person, und wie sie damit umgehen
möchte, ist ihre Angelegenheit. Es ist nicht deine Aufgabe als Außenstehende einzuschätzen oder
bestimmen zu wollen, ob die Person durch eine mögliche Infektion einen schweren
Krankheitsverlauf haben könnte, oder keine Symptome zeigen wird.

- Wenn Menschen im Kontext mit mehreren Personen darüber sinnieren, dass die "Risikogruppe"
ja sowieso kränklich, alt und daher nicht schützenswert sei/sowieso bald sterbe, kannst du auch
mal offen sagen, dass du anderer Meinung bist. Da niemand wissen kann, wer gerade körperlich
mehr von der Situation betroffen ist, und wen solche Aussagen auch persönlich verletzen, fühlen
sich Menschen im Raum unterstützt, wenn auch andere Menschen der Meinung sind, ihr Leben sei
etwas wert - und das auch so äußern.

- Wenn Menschen in deinem Umfeld aus körperlichen Gründen eher strikt sind, gib ihnen nicht das
Gefühl sie seien ein rohes Ei. Schreibe ihnen nicht vor, was sie zu tun hätten, bzw. thematisiere das
nicht ständig. Wenn sie sich Freiheiten gewähren, lass sie. Respektiere diese Entscheidungen, auch
wenn du sie ggf. nicht immer nachvollziehen kannst, sie vielleicht als zu offen oder zu vorsichtig
bewerten würdest.

- Personen, die du gerne besuchen möchtest, solltest du vorher kontaktieren und abklären, wie die
Person (und deren Wohngemeinschaft) gerade eingestellt ist, und ein „Nein“ akzeptieren.

- Sofern du nicht allein wohnst, solltest du andere Personen nicht nach Hause einladen, ohne mit
all deinen Mitbewohner*innen darüber geredet zu haben, wie sie sich damit fühlen.

- Bei Zusammenkünften, in denen potentiell mehrere Personen involviert sein könnten, solltest du
vorher oder auch währenddessen mit allen Personen reden, ob es für alle okay ist, noch mehr
Leute einzuladen. Ein „Nein“ akzeptieren.

- Wenn du bemerkst, dass in deinem Umfeld oder einer bestimmten Situation sozialer Druck auf
eher vorsichtige Personen ausgeübt oder vorsätzlich deren Wunsch nach Abstand missachtet wird,
solidarisiere dich und zeige Support.

- Überdenke, Menschen zu wünschen, sie mögen "gesund bleiben", da du nie wissen kannst, ob sie
nicht vielleicht chronische oder akute Erkrankungen haben, angesichts derer dieser nett gemeinte
Wunsch dann leider auch schlecht ankommen kann.

- Es ist Sommer. Wenn ihr soziale Zusammenkünfte plant, ist es leichter auch eher strikten
Menschen ein schönes Sozialleben zu ermöglichen, indem ihr Treffen nach draußen verlegt und
darauf achtet, dass es genügend Raum gibt.

Das hört sich erstmal nach viel Achtgeben und vielen Fallstricken an. So schwierig ist es aber
eigentlich gar nicht. Mit dem Gedanken, jede Person könnte gerade eher strikt unterwegs sein,
fährst du vermutlich ganz gut und kannst es vermeiden, andere Leute unnötig unter Stress zu
setzen oder übergriffig zu werden. Mit der Zeit wirst du feststellen, dass es gar nicht so schwierig
ist, kleine neue Handlungsmuster in deinen Alltag einzubauen. Mit dem Vorsatz gegenseitiger
Sensibilität und Transparenz, sowie der Bereitschaft, neue Wege im sozialen Miteinander
auszuprobieren, ermöglichst du langfristig vielen anderen Menschen eher stressreduzierte
Teilhabe am sozialen Leben.

Vielleicht ist dir aufgefallen, dass sich viele dieser Gedanken an Konsens in anderen Bereichen, wie
Sexualität, Parties, Beziehungen, etc. orientieren, sich in einigen Punkten auch unterscheiden und
weiterentwickelt werden können. Die mit der jetzigen Situation verbundenen Problematiken zu
analysieren und solidarische praktische Lösungswege zu diskutieren, wird in den nächsten
Monaten und Jahren sehr wichtig sein. Entwickelt Konzepte in euren kleinen Kreisen, und überlegt
euch auch, wie ihr außerhalb eurer social bubbles problem- und virenreduzierend mit anderen
Menschen sozialisieren wollt und wie "safe-spaces" angesichts dieser neuen Herausforderung
gestaltet werden könnten.

Alles ist möglich [vor allem im Sommer!] – with a little distance and understanding.

Cathy-Emma Rehf, Chrystal Haze a. Johnny M. LaBooza / WHOnderground
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