Coronavirus und Sozialpolitik (Baskenland)

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Yolanda Jubeto

Feministische Ansätze zum Umdenken

Yolanda Jubeto ist Professorin für Ökonomie und Spezialistin für Haushaltsplanung und Budgetierung mit geschlechtsspezifischem Ansatz. In einem Interview mit der linken Monatszeitung “El Salto Diario“ (Der tägliche Salto) erklärt sie die wirtschaftlichen Folgen der Coronavirus-Pandemie in einer verständlichen Sprache. Ihre Analyse und Kritik am Krisen-Management sind verbunden mit Vorschlägen zu Veränderungen und einem neuen Denken, in dem die Wirtschaftlichkeit nicht mehr im Mittelpunkt steht.

Die Coronavirus-Krise hat schwerwiegende Mängel in der Gesundheits-Versorgung der betroffenen Staaten deutlich gemacht. In mehreren Ländern und Regionen standen die Krankenhäuser vor dem Kollaps. Die Versorgung von armen Bevölkerungs-Schichten war und ist äußerst mangelhaft, das Sozialsystem versagt stellenweise total.

Yolanda Jubeto, Professorin für Wirtschaftswissenschaften an der Universität des Baskenlandes (UPV-EHU), beschreibt die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie für Personen ohne Fachwissen in Volkswirtschaft. Nicht zufällig hat sie auch Studierende des Fachgebiets Journalistik in Wirtschaft unterrichtet. "Wenn es darum geht, den Dingen einen Namen zu geben, dann lasst uns welche suchen", fordert sie zum Verständnis der Krise auf. "Diese Pandemie zeigt, wie verwundbar uns der Abbau im öffentlichen Gesundheitswesen macht", stellt sie fest und weist auf die Notwendigkeit hin, "die Einnahmen des Staates genauer unter die Lupe zu nehmen, und nicht nur die Ausgaben. Beide Seiten dieser Gleichung müssten überdacht werden.

El Salto Diario: Wir befinden uns in einer Situation, in der ein starker Rückgang des Brutto-Inlands-Produkts (BIP) vorhergesagt wird. Die spanische Zentralbank spricht von 13%, andere Stimmen von bis zu den 20%. Welche Auswirkungen wird dies auf das Leben der Menschen haben? (1) (2)

Yolanda Jubeto: Alles wird von der Politik abhängen, die von den öffentlichen Verwaltungen betrieben wird. Bei einem Rückgang des BIP fordern wir von den Verwaltungen eine antizyklische Politik, die die betroffenen Aktivitäten fördert und das Einkommen der Personen garantiert. Damit sie überleben, ihre Grundbedürfnisse befriedigen und schrittweise wieder produktiv arbeiten können. Im Krisenjahr 2008 wurde das Finanzsystem voll unterstützt, obwohl es für die Krise verantwortlich war.

ESD: Glauben Sie, dass der Rückgang des BIP nur vorübergehend sein wird?

Yolanda Jubeto: Krisen kehren im Kapitalismus immer wieder, weil sie system-immanent sind. Die unmittelbare Ursache dieser Krise wird überwunden werden, aber andere Krisen werden kommen, weil wir die Reflexion über die Auswirkungen unserer produktiven Tätigkeit auf den Planeten nur an zweiter Stelle belassen. Können wir in zwei Jahren das BIP von vor der Pandemie wiederherstellen? Vielleicht, aber das wird die prekäre Lebenslage vieler Personen nicht verbessern und auch nicht das Problem des Klimanotstands lösen.

ESD: Historisch gesehen hat die spanische Politik stark auf den Immobilienmarkt und den Tourismus gesetzt. Die Krise von 2008 hat es nicht geschafft, die Spekulation im Immobilien-Sektor zu stoppen oder zu überdenken. Wird die Pandemie des Jahres 2020, die das BIP auf den Balearen um bis zu 40% reduzieren kann, zu einem Nachdenken über diese Tendenz führen?

Yolanda Jubeto: Das wäre gut, ja, aber an diesem Wochenende habe ich gelesen, dass die Buchungen für Kreuzfahrt-Schiffe für das kommende Jahr erheblich zugenommen haben. Wir neigen dazu, schnell zu vergessen, es sei denn, die Krise hat geliebte Menschen getroffen und offene Wunden hinterlassen. Wenn nicht, tendieren wir dazu, zu früheren Gewohnheiten zurückzukehren, die aus unserer Sicht die Norm darstellen, die funktionieren sollte. Für viele Leute stellt das Reisen einen Ausgleich dar für den angespannten Alltag, den wir leben. Ich weiß also nicht, ob wir in der Lage sein werden, die überaus ernsten Probleme, in die wir geraten sind, zu reflektieren oder ob wir ihnen weiterhin ausweichen und die Folgen unseres täglichen Handelns verdrängen werden.

ESD: Während die meisten Staaten ihre öffentlichen Gesundheits-Systeme auf neoliberale Art und Weise demontierten, warnten Mikrobiologen und Epidemiologen schon seit Jahren davor, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis eine Katastrophe eintreten würde, bis ein Virus von einem Vogel auf einen Menschen überspringen und unzählige Tote hinterlassen würde. Ich habe das Gefühl, dass mit der Klima-Katastrophe dasselbe passieren wird.

Yolanda Jubeto: Die pädagogische Arbeit der politischen Klasse ist äußerst wichtig. In den ersten Pressekonferenzen von Pedro Sánchez habe ich jedes Mal, wenn er das Wort "Virus" sagte, das Wort "Virus" durch "Klimanotstand" ersetzt. Wenn wir über den Klimanotstand mit der gleichen Ernsthaftigkeit sprechen würden wie über den Covid-19, würden wir bestimmte Dinge neu überdenken, zum Beispiel die Rolle des Tourismus, aber auch die notwendige Neuorganisation der Wirtschaft, die Agrarökologie und die Arbeitsbedingungen derer, die in diesem Bereich arbeiten, in vielen Fällen migrierte Personen.

 

ESD: Mehr Politiker mit pädagogischer Ausbildung, das wäre wunderbar.

Gerade im öffentlichen Sektor, einem gesellschaftlich anerkannten Sektor, ist Pädagogik ein grundlegender Faktor. Sie sollte Prioritäten setzen und relevante Debatten auslösen, Kriterien erarbeiten zur Beurteilung der Aktivitäten, die weiterhin verfolgt werden sollen und derer, auf die besser verzichtet werden soll. Wer profitiert vom Rüstungssektor?

ESD: Tausende von Programmen und auch einige Politiker aus Fleisch und Blut behaupten, dass dies sei ein marxistischer Staat. Aber wie würden wir die Krise überstehen, wenn es tatsächlich so wäre?

Die Umverteilungs-Politik würde im Mittelpunkt stehen, und wir hätten einen starken öffentlichen Sektor. Der akademische und wissenschaftliche Bereich wäre in öffentlicher Hand, auch in den Schlüsselunternehmen gäbe es eine öffentliche Beteiligung. Wohnen würde zu einem realen Recht, die Demokratie wäre echt und partizipatorisch. Ich sehe den Marxismus als einen Rechtsstaat, in dem das Volk die Kontrolle über Entscheidungen und wichtige Ressourcen hat, in dem die politische Bildung ein viel stärkeres Gewicht hat, und der die Rechte von Frauen und Kollektiven vertritt, die nicht in das herkömmliche streng eingeteilte Geschlechtersystem passen. Auch ihnen muss ermöglicht werden, ein gewaltfreies Leben zu führen.

ESD: Die Grundrente für alle würde 5 Milliarden Euro kosten. Das wäre ein Betrag, der sich schnell und positiv auf die Wirtschaft auswirken würde. Die Empfänger*innen wären in der Lage, Rechnungen an Kleinbetriebe und Unternehmen zu bezahlen, sie könnten mit dem Einkauf von Lebensmitteln kleine Selbständige und Handels-Unternehmen unterstützen. Welches Problem hat die politische Rechte mit dem klassischen Keynesianismus? (3)

Yolanda Jubeto: Normalerweise misst die Rechte dem Privatsektor eine große Bedeutung bei. Der Region Madrid ist das beste Beispiel: Privatisierung des Gesundheits- und Bildungswesens, Vetternwirtschaft, Übernahme öffentlicher Gebäude durch Geier-Fonds, Vereinbarungen mit Unternehmen wie Telepizza für Essenslieferungen an die Schulkantinen. Der private Sektor ist spekulativ, er übernimmt die Dienstleistungen und Güter, die für die Gesellschaft grundlegend sind. Diese Privatisierung untergräbt einen Teil des gesellschaftlichen Lebens und trifft vor allem die verwundbarsten Gesellschafts-Schichten, jene, die entbehrlich erscheinen, wie die Philosophin Judith Butler uns erinnert. Dieses Modell verteidigt nur die Elite, und die reduzierten öffentlichen Mittel tragen zu fremdenfeindlichen Diskursen und zur Verachtung von Armut bei. Genau das ist eine der großen Gefahren dieser Krise: ein rassistischer und ausgrenzender Ausweg.

ESD: Wie beurteilen Sie die bisher von der Regierung ergriffenen Maßnahmen?

Yolanda Jubeto: Die Situation ist komplex und hat frühere Defizite im Gesundheits- und Bildungswesen geerbt, so dass es sich um eine komplizierte Aufgabe handelt. Dennoch scheinen mir die Maßnahmen langsam und zaghaft zu sein. Ich denke, es sollte stärker an mittel- und langfristigen Lösungen gearbeitet werden, wie z.B. einem universellen Grundeinkommen. Dazu müsste definiert werden, was die grundlegenden öffentlichen Dienstleistungen sein müssen, sowie den Anteil von Prekarität, der ihnen innewohnt. Wir müssen wirtschaftliche Mechanismen stärken, die die Instabilität und Ungewissheit im Leben der schwächsten Bevölkerungs-Schichten zu vermeiden sucht.

ESD: Auch der Wirtschaftswissenschaftler Nacho González vertrat die Ansicht, dass einige der Maßnahmen zu zaghaft waren, abgesehen von der großzügigen Unterstützung der kleinen Selbständigen. Dass diese Zaghaftigkeit vielleicht auf die Angst der Regierung vor der Staatsverschuldung zurückzuführen ist und dass sich die spanische Wirtschaft in Krisenzeiten ähnlich wie die eines Schwellenlandes verhält.

Yolanda Jubeto: Deshalb müssen wir uns mit dem Steuersystem befassen: Was geschieht mit den Unternehmen, die Gewinne machen, und was ist mit dem Geld passiert, das die Banken eigentlich zurückzahlen sollten, es jedoch nie gemacht haben? Wenn wir uns die Ausgaben ansehen, müssen wir auch das Einkommens-System betrachten. Wir müssen beide Seiten der Gleichung neu überdenken, und es gibt viele Dinge mehr, die endlich auf den Tisch müssen. Aber ich gehe davon aus, dass die PSOE viele Verbindungen mit der wirtschaftlichen Elite hat, so dass sie sehr gebunden ist.

ESD: Warum sind Corona-Gutscheine so wichtig?

Yolanda Jubeto: Weil die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sich mit der Unterstützung aller Staaten der Eurozone dem Anstieg der öffentlichen Ausgaben auf solidarische Weise stellen könnten. Im Moment gibt es nur die Verpflichtung der Europäischen Zentralbank.

ESD: Und sie wurden nicht genehmigt.

Yolanda Jubeto: Nein.

ESD: In der Zwischenzeit werden wir während dieser Pandemie aufgefordert, Einkäufe mit privaten Bankkarten zu bezahlen.

Yolanda Jubeto: Einige profitieren von dieser Krise, denn diese Zahlungen bringen den Banken Gewinne ein in Form von Provisionen und Daten, da sie ihnen Informationen über unser Verhalten liefern.

ESD: Ist es machbar, dass die Regierung die befristeten Kündigungen (ERTE) im Tourismus- und Gastgewerbe-Sektor das ganze Jahr 2020 hindurch aufrechterhält, um zu verhindern, dass sie zu definitiven Kündigungen (ERE) werden? (4) (5)

Yolanda Jubeto: Es ist wahrscheinlich, dass sie mit allen Mitteln versuchen werden, diese Sektoren bis zum Ende des Sommers oder Anfang Herbst wieder in Gang zu bringen, um die gegenwärtige Situation des Stillstands zu überwinden.

ESD: Die Wirtschaftskrise des Jahres 2008 begann mit Immobilien-Spekulationen und dem Zusammenbruch des Finanzmarktes, wurde aber mit der Banken-Rettung in Höhe von 66 Milliarden fiktiv. Im Jahr 2020 stellt ein mikroskopisch kleiner Virus unser Leben auf den Kopf. Es ist verwirrend, wie abstrakte und unsichtbare Dinge so problematisch sein können, es fällt mir schwer, sie in Begriffe zu fassen.

Yolanda Jubeto: Wenn es darum geht, den Dingen einen Namen zu geben, dann lasst uns welche suchen. Die Finanzkrise ist weniger deutlich sichtbar, aber Sie sagten selbst, dahinter stecke die Immobilienkrise. Das wiederum bedeutet, dass es einen wahnsinnigen Bauboom gab. Zum Beispiel an der Küste, mit großen Risiken für die Umwelt. Wenn ein mächtiges meteorologisches Phänomen wie die Dana auftaucht (eine Kaltluftfront, die in der Mittelmeer-Region häufig vorkommt) und eine dieser Siedlungen weghaut, scheint es, als ob die Natur uns einen Schlag versetzt. Wir greifen mit unseren Bauprojekten immer stärker in die Natur ein und überschreiten die Grenzen. Wir haben uns daran gewöhnt, auf diese Weise zu leben. Auf der anderen Seite verdeutlicht diese Pandemie, wie uns der Abbau des öffentlichen Gesundheits-Systems angreifbarer macht. Die Globalisierung hat die Auslagerung von Produktionen provoziert, um sie billiger zu machen. Denn um Kapital zu anzusammeln, ist es notwendig, die Ressourcen radikal zu erschöpfen und nicht an zukünftige Generationen zu denken. Der wirtschaftliche Gewinn hat Vorrang vor den Grundbedürfnissen. Deshalb ist jetzt ein guter Zeitpunkt, um nachzudenken.

ESD: Was sehen Sie, wenn Sie sich die Presse-Konferenzen der Regierung anschauen?

Yolanda Jubeto: Mir gefällt nicht, wie sie vor der Presse erscheinen. Mit Armee und Polizei aufzutreten vermittelt das Bild eines autoritären Staates. (Bei allen Verlautbarungen der Regierung standen bis Mitte April Militärs und Polizisten mit vor den Kameras, nach starker Kritik wurden sie herausgenommen; Anmerkung der Übersetzerin). Dass es nur einen einzigen zentralen Kommando-Stab gibt, der Informationen an die Regional-Regierungen weitergibt, nachdem die Entscheidungen bereits getroffen wurden, in einem Staat, der im Prinzip pluri-national ist und viele Regional-Regierungen hat, halte ich für eine Missachtung von Autonomie und Vielfalt.

ESD: Die baskische feministische Bewegung sagte zu Beginn der Pandemie, dass es sich nicht nur um eine Gesundheitskrise handelt, sondern auch um eine Versorgungskrise.

Yolanda Jubeto: Wir haben gesehen, dass die Pflegebereiche unverzichtbar sind. Neben der Bedeutung eines soliden öffentlichen Systems scheint es mir aber auch wichtig zu sein, die Zeitpläne und unbegrenzte Arbeitszeiten zu überdenken. Wir können nicht immer in der Produktion stehen. Vielleicht wird uns durch diese Pandemie bewusster, wie wichtig die Pflege ist und wie viel Zeit sie einnimmt, dass wir mehr Verantwortung übernehmen und den gesamten Pflegebereich auf andere Weise bewältigen müssen. Die Alten- und Pflegeheime werden sich stark verändern müssen, die Erziehung der Kinder sollte kollektiver sein. Wir produzieren auch Pflegefälle, das Leben muss in den Mittelpunkt gestellt werden.

ANMERKUNGEN:

(1) Das Interview erschien in spanischer Sprache in der Wochenzeitung El Salto Diario am 21. April 2020 (LINK)

https://www.elsaltodiario.com/economia-feminista/yolanda-jubeto-v%C3%ADnculos-con-elite%20economica-condicionan-medidas-psoe

(2) Das Bruttoinlandsprodukt gibt den Gesamtwert aller Güter, das heißt von Waren und Dienstleistungen an, die während eines Jahres innerhalb der Landesgrenzen einer Volkswirtschaft als Endprodukte hergestellt wurden, nach Abzug aller Vorleistungen. (Wikipedia)

(3) Unter Keynesianismus wird in den Wirtschafts-Wissenschaften ein auf John Maynard Keynes zurückgehendes Theoriegebäude verstanden, in dem die gesamtwirtschaftliche Nachfrage die entscheidende Größe für Produktion und Beschäftigung ist. Der Keynesianismus beruht vor allem auf seinem im Februar 1936 erschienenen Buch Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes. (Wikipedia)

(4) ERE (Expediente de Regulación de Empleo – Verfahren zur Regelung von Arbeitsverhältnissen) ist ein in Krisenzeiten angewandtes Modell der Lohn- und Arbeitsregulierung. Das ERE-Verfahren ist ein Instrument, das von Unternehmen eingesetzt wird, um Personal zu entlassen oder den Arbeitszeitumfang zu verkürzen. Dafür ist die Genehmigung der zuständigen Arbeitsbehörde notwendig. Ursachen für ERE-Verfahren können konjunkturell sein oder betriebsbedingt. ERE bleibt für jene Situationen vorbehalten, in denen die Entlassung mit wirtschaftlichen, technischen, organisatorischen oder mit höherer Gewalt begründet wird.

(5) ERTE (Expediente de Regulación Temporal de Empleo): Im Gegensatz zu den ERE-Verfahren, die zur Kündigung führen, dienen die von der PSOE-Podemos-Regierung eingeführten ERTE-Verfahren der Rettung der Arbeitsplätze, indem die Kündigungen nur temporal ausgesprochen werden. Zum ersten Mal kamen die temporären Kündigungen während der Coronavirus-Krise zum Einsatz. Dabei übernahm die staatliche Sozialversicherung die Lohnfortzahlung zum Teil oder ganz, je nach Produktionslage des Betriebes.

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