Covid-Polizeistaat in Bilbao
Ein Stadtteil im polizeilichen Alarm-Zustand: Unter dem Titel “San Francisco, ein Stadtteil im polizeilichen Ausnahme-Zustand“ publizierte die linke Monatszeitung El Salto Diario (Der Tägliche Salto) eine Zusammenfassung der rassistischen Polizei-Gewohnheiten im Barrio, die Nachbarschafts-Initiativen schon seit Jahrzehnten beklagen.
Der Arbeiter-Stadtteil San Francisco liegt am Hang gegenüber der touristischen Altstadt Bilbaos. Der Name geht zurück auf ein Kloster aus dem 15. Jahrhundert. Berühmt wurde San Francisco vor 150 Jahren als Wiege der baskischen Arbeiter-Bewegung: in den Bergen wurden reichhaltige Eisenerz-Vorkommen abgebaut. Auf deren Schließung in den 1970er Jahren folgten Armut, Drogen, Alternativ-Szene und Migration. Nachbarschafts-Initiativen beklagen, dass mit brutalen Polizeimethoden Ordnung geschaffen werden soll.
Seit Jahrzehnten beklagt die Aktionsgruppe SOS Rassismus zusammen mit Nachbarschafts-Initiativen und viele Nachbarinnen und Nachbarn die unerträgliche Polizeipräsenz im bilbainischen Stadtteil San Francisco. Auch deren ausländerfeindliches Vorgehen, das alltäglich von abertausend Augen zu beobachten ist. Weil der Stadtteil als Sünden- und Drogenpfuhl gilt, gibt es nicht wenige wohlsituierte Bilbainos und Bilbainas, die aus Angst noch nie einen Fuß ins Barrio gesetzt haben, auch wenn sie nur wenige hundert Meter entfernt leben. Doch die Wirklichkeit ist anders.
San Francisco hat einen schlechten Ruf und eine noch schlechtere Lobby. Nämlich gar keine, wenn das Barrio bei der Stadtverwaltung auf der Tagesordnung steht. Stattdessen ist nirgendwo mehr Polizei anzutreffen als eben dort. Was Sozialpolitik nicht schafft, nämlich reale Probleme von Tausenden von Personen zu lindern oder zu lösen, das soll die Polizei unter dem Deckel halten. Mit Schlagstöcken, Tritten und rassistischer Selektion aller Art. Die gravierenden Ereignisse in San Francisco seit Verhängung der relativen Ausgangssperre haben die lokalen Aktionsgruppen nun dazu gezwungen, sich mit einem Bericht und einer Klage an Amnesty International zu wenden. Dabei werden Misshandlungs-Situationen geschildert, die sich im Stadtteil täglich wiederholen.
Krönung der Polizeigewalt vor zwei Wochen (29. März 2020) war das brutale Vorgehen gegen einen offenbar psychisch kranken Jungen und seine Mutter, beide wurden vor den Augen vieler empörter Nachbar*innen auf der Straßen geschlagen. Mittlerweile haben einige der protestierenden Anwohner*innen Anzeigen und Bußgelder erhalten, wegen Beleidigung und Störung der öffentlichen Ordnung, und weil sie Videoaufnahmen gemacht haben. Dieser Akt von Polizeibrutalität steht im Zentrum des folgenden Artikels.
Aussage Eins
“Nachdem die Videos der Aggression publiziert wurden, kamen nachts verschiedene Ertzaintza-Patrouillen und leuchteten die Balkone der anliegenden Gebäude aus. Ich weiß nicht, ob das eine Drohgebärde sein sollte oder ob sie herausfinden wollten, von wo aus die Bilder aufgenommen worden waren.“
Aussage Zwei
“Die Polizei-Präsenz auf der Straße, offizielle und getarnte Fahrzeuge, war absolut unverhältnismäßig. Während wir die Polizei von den Balkonen aus wegen ihres Verhaltens vor unseren Augen kritisierten, wurden wir bedroht und von der Polizei gefilmt. Es entstand eine Situation von Spannung und Gewalt, wir empfanden Wut und Ohnmacht.“
Aussage Drei
“Zwei Tage danach klingelten zwei Stadtpolizisten bei mir. Eine Frau und ein Mann, dieselben, wie sie behaupteten, die an der Festnahme des Jungen beteiligt waren. Sie kamen, um mir eine Anzeige zu anzukündigen. Sie stellten meine Identität fest und sagten, die Anzeige käme über den juristischen Weg, weil ich die Arbeit der Ordnungskräfte behindert hätte. Sie hätten Zeugen von Beleidigungen und Gewalt gegen die Polizei.“
Laufend gehen neue Berichte ein von polizeilichen Übergriffen im Barrio San Francisco, Bilbao. Vermehrt seit am 14. März die spanische Regierung wegen der Coronavirus-Pandemie den Alarm-Zustand ausgerufen hat. Bewohnerinnen und Bewohner dieses Stadtteils, die mit der Koordinationsgruppe der Barrios Bilbao La Vieja, San Francisco und Zabala in Verbindung stehen, sowie mit dem Solidaritätsnetz San Francisco, haben auf Anfrage der städtischen Gruppe von Amnesty International einen Bericht erstellt: “Polizeiliche Misshandlungen und Rechtsverletzungen im Stadtteil San Francisco“.
“In vielen Fällen haben die Polizei-Einsätze einen rassistischen, gewalttätigen Charakter und verletzen Rechte der Betroffenen“
“In der ersten Woche Ausgangsverbot kam es zu regelrechten Bedrohungen, die Sicherheitskräfte organisierten Umzüge. In Kolonnen besetzten Dutzende von Beamten in Drohhaltung beide Bürgersteige, während verschiedene Wannen mit Bereitschafts-Polizisten, angeworfenen Sirenen und dröhnenden Lautsprechern langsam die Straße entlangfuhren. Eine überraschende Situation, die sich in anderen Stadtteilen nicht wiederholt hat. Einmal mehr wurde auf diese Art unsere Zone markiert und stigmatisiert über die Verbreitung dieser Bilder in Tageszeitungen und im Fernsehen“, schreiben verschiedene Gruppen aus San Francisco in ihrem Bericht.
“Das polizeiliche Vorgehen, sowohl bei der Ertzaintza-Polizei wie bei der Stadtpolizei, hat häufig einen rassistischen und gewaltsamen Charakter, mit dem Rechte beschnitten werden. Von unseren Balkonen aus sehen wir täglich, wie Leute gestoppt und durchsucht werden, weil sie eine andere Hautfarbe haben; wir erleben verbale und körperliche Misshandlung von Personen, wir sehen die Polizei herumstolzieren und erleben, wie die Nachbarschaft in großkotzigem Ton bedroht wird. Dadurch entstehen Situationen voller Angst“, beklagt das Nachbarschafts-Netz. Ertzaintza ist die im Baskenland für ihre Brutalität gefürchtete Bereitschafts-Polizei, sie agiert bei Fußball-Spielen und linken Demonstrationen; die Policía Municipal ist die Stadt- und Verkehrspolizei, sie hat weitgehend einen besseren Ruf, mit Ausnahme ihres Auftretens in San Francisco.
Willkürliche rassistische Festnahmen
“Der Junge ist ein Nachbar aus dem Barrio, er ging von zu Hause in den nächstgelegenen Laden zum Einkaufen. Was im Video nicht zu sehen ist: er wurde angehalten und sollte Auskunft geben. Er selbst und verschiedene Nachbarinnen, die vorbeigingen, sagten den Polizisten, dass der Junge gerade eben aus dem Laden gekommen sei. Sie wurden zum Weitergehen aufgefordert. Die Beamten machten sich daran, dem Jungen ein Bußgeld zu verpassen, in völlig unverschämtem Ton, rassistisch, inakzeptabel. Danach, in einer Situation von Nervosität und Verwirrung, griffen sie ihn völlig unverhältnismäßig an und nahmen ihn fest.“
“Seine Mutter kam aus dem Haus, nervös, sie sah, wie ihr Sohn gerade verhaftet wurde. Sie erklärte, dies sei ihr Sohn, wegen einer Bewusstseins-Störung müsse er regelmäßig Medikamente nehmen. Sie flehte darum, ebenfalls mitgenommen zu werden. Die Antwort der Polizei war eine brutale und völlig ungerechtfertigte Aggression, erst über einen brutalen Schlag auf den Kopf, danach weitere Schläge. Die Frau stürzte zu Boden und blieb einige Zeit bewegungslos, ohne dass ein Krankenwagen gerufen worden wäre. Stattdessen beugten sich verschiedene Polizisten über sie und deckten ihren Körper mit Polizeischildern ab, damit wir nicht sehen konnten, was mit ihr passierte.“
So lautet die Aussage einer Zeugin der bekanntesten Aggression in Francisco der letzten Wochen, die zudem in den Medien für Schlagzeilen sorgte. Die Festnahme des Jungen und seiner Mutter wurde von zahlreichen Nachbar*innen mit Handys gefilmt, am Montag 30. März machten viele Kommunikationsmedien ihren Aufmacher daraus. Aufgrund dieses medialen Aufruhrs kündigte die Senatorin für Sicherheit der baskischen Regierung, Estefanía Beltrán de Heredia, am nächsten Tag eine behörden-interne Untersuchung an. Bislang sind keine Ergebnisse dieser internen Untersuchung der Ertzaintza bekannt geworden.
“Die rassistische und demütigende Vorgehensweise der Polizei zeugt von einem unheilvollen und inakzeptablen Berufsethos“
Im Bericht “Polizeiliche Misshandlungen und Rechtsverletzungen im Stadtteil San Francisco“ ist auch die Aussage eines Bewohners zu finden, der zum Arzt gehen musste, nachdem er mehrere Tage mit Covid-Symptomen zu Hause verbracht hatte. “Ich hatte Angst und war unsicher, nicht wegen des Virus, sondern weil ich von der großen Polizeipräsenz wusste, Ertzaintza und Stadtpolizei, Patrouillen und Einheiten überall“, erzählt dieser Nachbar.
“Ich ging raus und schon als ich die erste Straße überquerte, hörte ich hinter mir ‘hey du, wohin willst du‘, in einem äußerst aggressiven Ton. Ich ging weiter. Aber als ich näher kam schrien sie wieder. Ich hatte eine Maske vor dem Mund, es war klar, dass ich zur Krankenstation wollte. Ich dachte, die meinen nicht mich. Nach einer Weile immer noch Schreierei, ich sah zwei Nachbarn aus dem Barrio, sie wurden gestoppt, Taschenkontrolle, Ausweise. Es waren Migranten, wie auch ich es sein könnte, denn ich bin zwar aus Bilbao, aber von venezolanischem Ursprung. In meinem Fall, ich spreche Spanisch und mein Erscheinungsbild ist eher europäisch. Die beiden kontrollierten Nachbarn sprechen miteinander Arabisch und hatten kein europäisches Erscheinungsbild. Ich spürte Wut und Ohnmacht als ich sah, wie die Nachbarn mit Schreien gestoppt wurden, auf ganz üble Art, nur wegen ihrer Herkunft, weil sie auf der Straße waren, um einzukaufen.“
“Die Polizei kümmert sich nicht um Umgangsformen, sie sind völlig autoritär. Das führt mitunter zu Reaktionen aus der Bevölkerung, wegen der Angst, die derzeit umgeht. Die beiden Nachbarn verhielten sich korrekt und sprachen ruhig, aber sie mussten alle möglichen Erklärungen abgeben. Von der Krankenstation in meinem Stadtteil wurde ich nach Indautxu in die Innenstadt geschickt. Ich ging zu Fuß und ging eine lange Strecke durch die halbe Stadt. Auf diesem Weg sah ich keine Polizei, keine Patrouillen“, endet der Bericht des Nachbarn.
Gentrifizierung
In der Nähe der Krankenstation von San Francisco liegt die Straße Dos de Mayo. Es ist eine der wenigen Straßen, die in den letzten Jahren das Stigma überwinden konnte: konfliktgeladen und No-Go-Gebiet für den Rest der Stadt. Und zwar dank eines Boheme-Kunst-Flohmarkts, jeden ersten Samstag im Monat. Ein erfolgreicher und multikultureller Markt, den sogar das Rathaus Bilbao gerne als positives Beispiel seiner Rehabilitierungs-Politik präsentiert, eine Art Bilbao-Soho soll sich da ausbreiten. Dabei ist die Straße gar nicht so anders als alle anderen im Barrio, wenn die ehrenwerten Besucher*innen des Flohmarkts wieder verschwinden.
“Manchmal stehen gegenüber meiner Haustür mehrere Polizei-Fahrzeuge, und in diesen Tagen des Ausgangsverbots kamen auch noch Wannen von der Bereitschaftspolizei dazu“, erzählt ein Nachbar aus der Dos de Mayo Straße. “Mit eigenen Augen habe ich mehrfach gesehen, wie immer nur Leute aus dem Maghreb oder von südlich der Sahara angehalten werden, um sie zu verhören. Sie werden an die Wand gestellt, nur weil sie auf der Straße sind. Ich gehe oft raus, wegen Arbeit, mich haben sie noch nie angehalten. Ich denke, diese rassistische und demütigende Behandlungsweise der Polizei zeugt von einem unheilvollen und inakzeptablen Berufsethos.“
Gestohlene Fotos
Zu Jahresbeginn ließ die Stadtverwaltung Bilbao im Barrio 50 neue Überwachungskameras aufstellen. Mit der offiziellen Begründung, es sollten “weiterhin präventive Maßnahmen durchgeführt werden, um das Zusammenleben und den sozialen Zusammenhalt im Stadtteil San Francisco zu verbessern“. Die Kosten: 250.000 Euro. Die neuen Kameras ersetzen die vor zehn Jahren aufgestellten Apparate, sie liefern farbige Bilder mit hoher Auflösung, Tag und Nacht.
Sicherheit und Privatsphäre stehen sich einmal mehr frontal gegenüber. “An der Ecke der Straßen San Francisco und Conde Mirasol hält ein Polizist einen Jungen aus dem Maghreb fest. Der Polizist hatte ein Handy in der Hand und es schien, als würde er etwas schreiben, aber mein Eindruck war, dass er den Jungen fotografierte, ohne dass dieser es merkte“, erzählt ein anderer Nachbar. “Der Polizist ließ ihn gehen und stellte sich so, dass ich ihm ins Handy schauen konnte. Und wirklich, er hatte den Jungen fotografiert und schaute sich die Bilder an. Keine Ahnung, ob es über WhatsApp war, aber er schaute die Fotos an und schrieb. Er klickte zurück und sah sich andere Fotos an, um dann zu den aktuellen zurückzukehren. Er hatte eine ganze Menge Fotos von anderen Personen.“
Gestohlene und verbotene Fotos. “Das war in den ersten Tagen der Ausgangssperre. Ich ging runter zum Einkaufen und sah in der Straße San Francisco zwei Ertzaintza-Beamte in ruhigem Ton mit einem Afrikaner sprechen. Eine halbe Stunde später kam ich zurück und sah, wie dieselben zwei Polizisten den selben Afrikaner an die Wand gestellt hatten, sie traten ihn, damit er die Beine auseinanderbewegte, seine ganzen Habseligkeiten, einschließlich Ausweise, warfen sie auf den Boden“, erzählt ein weiterer Nachbar im Bericht über polizeiliches Fehlverhalten.
“Aus vorsichtiger Distanz machte ich mit dem Handy ein Foto und gerade in diesem Augenblick drehte sich ein Polizist um und rannte auf mich zu. Er nahm mir das Handy ab und fragte nach meinem Ausweis. Sie machten weiter mit der Person, die sie gegen die Wand gestellt hatten. Eine zweite Einheit kam an und stellte sich neben mich, etwa eine halbe Stunde lang. Dann kam ein Polizist und sagte, ich müsse ihm das Foto zeigen und es löschen. Er werde mich anzeigen wegen Verletzung des Datenschutzes. Ich machte es, ich löschte das Foto, obwohl darauf nichts wirklich z sehen war. Er sagte, er könne mir eine zweite Anzeige verpassen wegen ‘Missachtung‘. Ich sagte ihm: ‘Vorsicht bei Misshandlungen. Ich bin bei einer Nachbarschafts-Gruppe‘, und so weiter. Am Ende sagte er, sie hätten schon genug Probleme und ich könne gehen, aber vorher machte er mit seinem Handy ein Foto von meinem Ausweis. Ich fragte ihn: wozu, er sagte: für alle Fälle. Weil die Situation ziemlich angespannt war, ließ ich ihn machen und ging.“
Aus dem Polizei-Lehrbuch
Nach dem Übergriff vom 29. März gegen den Jungen und seine Mutter, publizierten zwei Ertzaintza-Gewerkschaften Presseerklärungen. Nach Ansicht der Autor*innen des Berichts “Polizeiliche Misshandlung und Rechtsverletzungen im Stadtteil San Francisco“ sollten diese Erklärungen der Polizei-Gewerkschaften untersucht werden “unter juristischen Kriterien, zumindest aber nach politischen und ethischen Kriterien, zur Rolle der Polizei in dieser Krisensituation und zu den Botschaften, die von der Polizei selbst an die Gesellschaft vermittelt werden“.
“Wir fragen uns, in welche Hände wurde die Sicherheit der Gemeinschaft gelegt, insbesondere in einem gesellschaftlichen Notfall“
ERNE, stärkste Gewerkschaft der Polizei der Autonomen Gemeinschaft Baskenland, bezog sich in ihrer Erklärung auf Josu Bujanda, der derzeitige Polizeichef, der eine interne Untersuchung angekündigt hatte, weil es Anzeichen von polizeilichem Fehlverhalten gegeben hätte. Dafür wurde er kritisiert: “Herr Bujanda zeigt erneut, dass er keine Ahnung hat von dieser Arbeit, denn ganz offensichtlich handelte es sich um eine Situation, die mit einer Festnahme wie aus dem Handbuch endete“. Für die Autorinnen des Berichts über Polizei-Misshandlungen an Amnesty International ist es äußerst bedenklich, “von einer Festnahme aus dem Lehrbuch zu sprechen, wenn (…)
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