Für einen anarchistischen 1. Mai 2020 in Leipzig und überall!
Wir rufen auch dieses Jahr dazu auf den 1. Mai als Kampftag gegen den Kapitalismus, gegen Nationalismus, gegen das Patriarchat und gegen jeder anderen Form von Herrschaft und Ausbeutung zu begehen.
Auch wenn der Staat die Situation für sich nutzt, um Widerstand zu verhindern und zu delegitimieren, so können wir doch vielfältige Aktionsformen wählen um unsere Wut über die bestehenden Verhältnisse und die Liebe für ein Leben in Freiheit auszudrücken.
Der 1. Mai ist seit Jahren in der BRD geprägt von ritualisierten DGB Demonstrationen in den Städten , Nazidemos besonders im Osten Deutschlands und alkoholisierter Männergruppen überall dazwischen. Doch hatte er einst einen kämpferischen Ursprung und ist Teil einer anarchistischen Arbeiter*innenbewegung.
So liegen die Anfänge dieses Tages in den USA, genauer gesagt im industriell geprägten Chicago der 1880er Jahre. Hierhin emigrierten viele Sozialist*innen und Anarchist*innen, die in ihren Europäischen Heimatländern aufgrund ihrer politischen Einstellung verfolgt wurden.
Schon zu dieser Zeit wurde die Durchsetzung des 8-Stundentages als Forderung formuliert. Als Kampfmittel wurde um den 1. Mai 1886 zum Streik aufgerufen, dem landesweit 350 000 Arbeiter*innen folgten.
Repression war die Antwort von Seiten des Staates, der damit die Interessen des Kapitals verteidigte. Die Polizei wurde gemeinsam mit privaten, von den Unternehmen angeheuerten Söldnertrupps, auf die Streikenden gehetzt. Dabei wurden am 3. Mai vier Arbeiter bei einer Versammlung der Holzarbeitergewerkschaft erschossen. Am darauf folgenden Tag kam es deshalb zu einem Protest auf dem Haymarket in Chicago. Die sich auflösende Versammlung wurde von Polizeieinheiten angegriffen und es detonierte eine Bombe, die von einer bis heute unbekannten Person geworfen wurde. Im Chaos eröffnete die Polizei das Feuer auf die fliehenden Menschen und tötete dabei viele. Durch die Explosion wurden ebenfalls sieben Polizisten getötet, was eine weitere Welle der Repression gegen die Arbeiter*innenbewegung scheinbar legitimierte. Hunderte Sozialist*innen, Kommunist*innen und Anarchist*innen wurden verhaftet, um sie aus dem Verkehr zu ziehen und den Widerstand gegen kapitalistische Ausbeutung zu brechen.
Sieben Anarchisten wurden als vermeintliche Täter des Bombenattentats von den Ermittlungsbehörden herangezogen und nach einem Schauprozess wurden fünf zum Tode und weitere zu langen Haftstrafen verurteilt. Nach sieben Jahren wurden die Verurteilten vom neuen Gouverneur zu „Opfern der Justiz“ erklärt, da es von Beginn an keinerlei Beweise gegen die Beschuldigten gab. Deren freiheitliche, politische Überzeugungen waren für die Polizei und Justiz Grund genug.
Dies war ein sehr kompakter Abriss der Geschehnisse von vor über 130 Jahren, die Arbeiter*innen weltweit dazu veranlasste den 1. Mai als Tag der Organisierung und des Widerstandes gegen Ausbeutung und bestehende Herrschaftsverhältnisse zu sehen.
Doch auch heute noch im Jahr 2020 sind die bestehenden Verhältnisse anzuprangern. Die Lage spitzt sich weiter zu. Es sind die Tage einer neuen Krise des Kapitalismus, nicht ausgelöst von einem Virus, sondern von der kapitalistischen Logik selbst. Der Staat geht mit dieser Logik Hand in Hand. So besteht bei entstehen dieses Aufrufs eine Ausgangsbeschränkung, für die meisten Aktivitäten außerhalb von Lohnarbeit und Konsum. Der Staat nimmt tiefe Eingriffe in die Freiheiten der Menschen vor. Das Auslesen von Handydaten um Bewegungsprofile zu erhalten und die Aufhebung der Versammlungsfreiheit sind zwei davon.
Dies erfolgt unter großer Zustimmung der Bevölkerung.
Bei den Forderungen nach sozialer Distanzierung werden die psychischen Folgen außer acht gelassen. Weitere Vereinsamung, Depression und steigende Suizidraten werden ein Resultat davon sein. Stimmen, die dabei wieder nicht gehört werden, sind die von häuslicher Gewalt betroffenen Personen. Frauen*, Trans- und queere Menschen werden die Fluchtmöglichkeiten aus patriarchalen Verhältnissen verwehrt. Durch das Wegfallen von Kinderbetreuung und Schule verschärft sich die Situation von Alleinerziehenden weiter.
Lohnarbeiten gehen ist dagegen weiterhin erlaubt. Dabei ist in Frage zu stellen ob ein zwei Meter Sicherheitsabstand oder andere Hygienevorschriften, die ja nun zur Arbeitssicherheit zählen sollten, im Büro, an der Werkbank oder im Handel eingehalten werden können.
Besonders für die Angestellten in den Supermärkten erhöht sich die Arbeitsbelastung enorm. Die Diskussion über zwölf Stundenschichten und Wochenendarbeit mit Aussicht auf jetzt schon sehr knappen Lohn, sowie erhöhtes Risiko von Altersarmut für diese Menschen, lässt uns auf die Geschehnisse vor 130 Jahren verweisen als Arbeiter*innen für den acht Stunden Tag kämpften. So sind zwar Verbesserungen der Arbeitsverhältnisse zu begrüßen, jedoch können diese, wie derzeit zu sehen, in einem kapitalistischen System auch schnell wieder verschwinden. Dies verdeutlicht erneut, dass dieses System an sich überwunden werden muss.
Legitimation für staatliche Maßnahmen, wie die Ausgangssperre, soll zudem der Schutz von Menschen in Risikogruppen gegen das Covid-19 Virus sein. Da der Staat über Jahre des Gesundheitssystem zurückgefahren und privatisiert hat, wird er bei starker Zunahme der kritischen Krankheitsfälle nicht mehr in der Lage sein, seine „sozialstaatliche“ Funktion, die Gesundheitsversorgung, zu gewährleisten. Auch im medizinischen Bereichen und der Pflege sind prekarisierte Menschen wieder sehr gefragt und erhalten bloß symbolische Anerkennung durch Zuspruch von Politiker*innen oder applaudierenden Menschen auf Balkonen. Von Applaus und schönen Worten werden sich diese Menschen jedoch keine Wohnung im Alter oder ihre eigene Versorgung bei Arbeitsunfähigkeit leisten können. Grund dafür, ist ebenfalls die Verfolgung einer kapitalistischen Logik, in der Profit einen höheren Wert hat als Menschenleben.
Das die staatliche Versorgungslogik ausschließend ist, zeigt sich dabei offen. Menschen ohne deutschen Pass sind oft von diesen ausgenommen. Im Bereich der Landwirtschaft werden Jahr für Jahr Menschen aus anderen Ländern zum Arbeiten nach Deutschland gebracht, um für Niedriglohn zu arbeiten und den Hierlebenden billige Lebensmittel zu ermöglichen. In Zeiten von Covid-19 sollen diese Menschen nur unter strengen Gesundheitskontrollen hierher gebracht werden um keine neue Infektionen zu „importieren“. Unter zwangsarbeiterrischen Verhältnissen sollen sie dann auch ihre Unterbringungen oder Arbeitsstätten nicht verlassen dürfen.
Dabei verlief die Ausbreitung von Covid-19 in Europa mehr über privilegiertere Geschäftsreisende und Urlauber aus eher teureren Erholungsgebieten. Menschen aus prekären Verhältnissen bekommen jetzt die repressiven Mittel am ehesten zu spüren.
Die Landesgrenzen werden für Schutzsuchende geschlossen.
Geflüchtete, die schon hier sind werden ihren Unterkünften unter Quarantäne gestellt und von privaten Security Angestellten und der Polizei misshandelt und daran gehindert sich frei zu bewegen. Dies macht den freiheitsentziehenden Charakter dieser Institution noch offensichtlicher.
Gefangene in Knästen verlieren das Recht Besuch zu erhalten, was oft der einzige Kontakt nach außen ist. Dies verstärkt die Isolation. Wie es um den Gesundheitszustand der Gefangen steht, bleibt somit auch verborgen. Auch hier ist in Frage zu stellen, wie Menschen vor Infektionen geschützt werden sollen, wenn sie auf kleinsten Raum zusammengepfercht und Hygieneartikel nur zu überhöhten Preisen erhältlich sind. Das Personal, was der Einfuhrweg für Viren ist, arbeitet nicht mal mit entsprechender Schutzausrüstung.
Außerhalb der EU, an den Außengrenzen verschärfen sich die Verhältnisse in dortigen den Geflüchtetencamps dramatisch. Ein Mangel an medizinischer Versorgung und unhygienische Verhältnisse herrschten dort schon lange. Staaten wie die Türkei nutzten die Krise, um politisch Druck auf ihre Gegner*innen zu machen. So kappt die Türkei durch Staudämme und von ihr kontrollierte Wasserwerke die Wasserversorgung in den selbstverwalteten kurdischen Gebieten, wo auch viele Geflüchtete Schutz fanden.
Die EU übernimmt weiter keine Verantwortung. Dafür ist ein Rückschritt in nationale Denkweisen zu beobachten.
Eine anarchistischen Utopie steht dem genau entgegen. Solidarität endet nicht an erdachten Ländergrenzen, nicht an konstruierten Geschlechterrollen und auch nicht daran, ob Menschen es sich leisten können für ihre Gesundheit, ihr Essen, ihre Wohnung, ihre Bildung, bezahlen zu können. Die Verantwortungsübernahme gegen ungerechte Zustände fängt schon bei uns selbst an. Lasst uns für eine gerechtere Welt kämpfen!
Denn auch nach Corona steht uns die Krise nach der Krise bevor. Bereits jetzt werden, wie auch 2008, Unternehmen und Konzerne mit staatlichen Mitteln unterstützt. Lohnabhängige erhalten keine direkte finanzielle Hilfe, wie es durch ein Grundeinkommen möglich wäre. Dabei sind sie es, die besonders darunter leiden. Sie verlieren ihre Einkommensmöglichkeit, können ihre Miete nicht mehr zahlen, müssen sich verschulden und werden damit noch abhängiger von ausbeuterischen Verhältnissen.
Deshalb rufen wir auch dieses Jahr dazu auf den 1. Mai als Kampftag gegen den Kapitalismus, gegen Nationalismus, gegen das Patriarchat und gegen jeder anderen Form von Herrschaft und Ausbeutung zu begehen.
Auch wenn der Staat die Situation für sich nutzt, um Widerstand zu verhindern und zu delegitimieren, so können wir doch vielfältige Aktionsformen wählen um unsere Wut über die bestehenden Verhältnisse und die Liebe für ein Leben in Freiheit auszudrücken.
Daher rufen wir in Leipzig und überall zu dezentralen Aktionen auf...
• Lasst uns die Konflikte und politischen Inhalte in den öffentlichen Raum tragen
• Lasst uns die bestehenden Verhältnisse angreifen
• Lasst uns unsere Alternativen in die Praxis umsetzen
…und das auch über den 1. Mai hinaus!