COVID 19 – AUFSTAND ODER BARBAREI

Nein sie sind nicht einfach Zuhause geblieben. Haben die Hände in den Schoss gelegt und ängstlich in sich hinein gehorcht. Weil sie sich das einfach nicht leisten konnten. Weil ihre Kinder was zu essen brauchen. Also haben sie sich an die gute alte Zeit erinnern, als sie dem Staat und den Fabrikherren, den Gutsherren ganz schön zugesetzt haben. Die wilden Jahren, “als wir alle Kommunisten waren”, wie der Nanni Balestrini geschrieben hat. Also ab in den Supermarkt und den Einkaufswagen vollgepackt und an der Kasse ein Schulterzucken “Bezahlt wird nicht”. Die Proleten aus dem Süden, auf die man immer ein bisschen hochnäsig herunter geschaut hat. Schon damals.

Am nächsten Tag standen in Palermo Bullenwagen vor den Supermärkten. Aber das ist ja auch keine Lösung, es gibt einfach zuviele Supermärkte. Und wer weiß, was denen noch einfällt, diesen halben Bauern, auch wenn sie schon seit Generationen in den Städten leben. Also hat Conte mal eben fast 5 Milliarden locker gemacht für den Süden, die sollen über die Gemeinden an die prekär Beschäftigten ausgezahlt werden, weil die sind von dem einen zum anderen Tag nur noch prekär und nicht mehr beschäftigt. Wahrscheinlich wäre er nie selber auf die Idee gekommen, wenn ihm seine Geheimdienste nicht gesteckt hätten, sie würden mit schweren Unruhen im Süden rechnen. Und das mit dem proletarisch einkaufen hat denn ja auch gleich auf andere Städte des Südens übergriffen, in Bari und Napoli haben sie das Zeug auch einfach so raus geschleppt. Übrigens ganz ohne linke Agitatoren.

WIE LANGE WIRD ES DAUERN, BIS DIE MENSCHEN VON IHREN BALKONEN SPRINGEN?

…oder rebellieren? [Wu Ming 1]

(Fortsetzung der Eindrücke und Überlegungen unserer italienischen Freunde über das, was vor uns liegt)

Wenn diese flächendeckenden Formen des Hausarrest, die wir Italiener in Panik und totaler Improvisation über Nacht für uns erfunden haben, nicht funktionieren, wenn sie keine Perspektive, kein potentielles Ende haben, da es bei “der Kurve” keinen “Scheitelpunkt” gibt, dann wird die derzeitige Situation zunehmend unerträglich.

[Ich möchte hinzufügen: Wir alle argumentieren, wir alle, auf der Grundlage unzuverlässiger Zahlen, aber lassen wir diesen Aspekt vorerst beiseite].

Das kleine Spiel der Suche nach dem Schuldigen ist im besten Fall ein oberflächlicher Wundverband, eine Ablenkung. Wie lange wird es ihnen gelingen, ihre Erzählung von dieser unabdingbaren Notwendigkeit auszudehnen, bevor sie ihnen mitten in der Fresse hochgeht, bevor sie an eine Krisenbewältigungsstrategie oder einen deus ex machina (1) denken, der die Situation wirklich löst?

Wie könnte die Ausstiegsstrategie aussehen? Jetzt sagen sie auf halbem Wege, dass sie sich mehr dem “koreanischen” Modell annähern wollen aber in der Zwischenzeit verlängern sie das Einsperren auf unbestimmte Zeit. Sie improvisieren und sind unfähig, ihr Narrativ zu ändern, obwohl es bis ins letzten Detail verschlissen ist. Sie selbst sind noch immer dem starken anfänglichen Impakt unterworfen.

Und der deus ex machina? Theoretisch wäre es der Impfstoff, aber er wird nicht so bald fertig sein.

Die anderen europäischen Länder, die uns jetzt teilweise imitieren, und teilweise auch nicht, was werden sie tun?

Wenn sich herausstellt, dass die Strategie des “italienischen Stils” nicht funktioniert und unvertretbare Kosten mit sich bringt, wenn ihre öffentliche Meinung weniger kleinlaut ist als unsere, wenn ihre herrschenden Klassen ein Minimum an Klarheit behalten haben und wenn ihre Mainstream-Medien eine weniger destruktive Berichterstattung als unsere haben könnten (jaja, da wird es nicht schwierig sein…), könnten sich diese Länder von unserem “Modell” lösen und mit anderen Wegen experimentieren.

Welche? Wahrscheinlich eine integrierte Strategie: gezielte Einsperrung, eine gewisse “koreanische” Kontrolle (was sicherlich nicht gut ist) und eine Tendenz zur Herdenimmunität. Ich habe keine besonderen Fähigkeiten, um mich über die Plausibilität des letzteren auszudrücken, sondern stelle sie auf neutrale Art und Weise dar. Ich habe in verschiedenen Artikeln gelesen, dass, wenn eine Herdenimmunität gegen Covid-19 möglich wäre, die “italienische” Strategie, sich auf unbestimmte Zeit “zu distanzieren”, uns als Geiseln des Virus gehalten hat.

Wenn im umgekehrten Fall in anderen Ländern Panik, Mobilmachung und der ganze Rest wie bei uns herrschen sollte, dann werden sie blind vorrücken, wie wir, und auch Italien wird unter dem Vorwand “Trittbrettfahrer, die die Pest verbreiten” noch eine Weile sagen können: “Siehst du? Alle anderen tun dasselbe wie wir! “Aber auch das ist ein nur ein Pflaster, kaum dauerhafter als die Schuld bei denen zu suchen, die joggen oder spazieren gehen.

[Es gibt auch die große Unbekannte über das, was in den USA passieren wird, wo der Sturm gerade erst begonnen hat, aber das würde eine eigene Argumentation verdienen].

Etwas muss den Bann brechen. Das kann nicht Bestand haben. Sehr bald könnten viele Menschen anfangen, sich umzubringen, zu töten, verrückt zu werden, verzweifelte Auswege zu suchen und Aktionen zu unternehmen, die an Selbstmord grenzen, als ob sie sagen wollten: besser die Strafe, besser die Schläge, besser an Covid-19 sterben, als so weiterzumachen.

Wird es möglich sein, von einer chaotischen Reihe von individuellen Revolten zu kollektiven Aktionen überzugehen?

Auf die eine oder andere Weise wird diese Gefangenschaft auf italienische Art und Weise enden. Aber sie wird in den Köpfen der Menschen bleiben, und in der Zwischenzeit wird sie eine Landschaft von Ruinen und – was auch immer geschieht – einen tiefen und nicht mehr aufzuhaltenden Angriff auf unsere Freiheiten, unsere sozialen und bürgerlichen Rechte hervorgebracht haben.

Und was ist mit der nächsten Epidemie, was werden wir tun?

Ich möchte auch darauf hinweisen, dass wir in diesem Sommer höchstwahrscheinlich die größte Wasserkrise in unserer Geschichte haben werden. Die Dürre ist entsetzlich. Wir könnten unser Wasser kontingentieren müssen. (2)

Wu Ming

Während hierzulande die radikale Linke wahlweise in Schockstarre gefallen ist oder sich auf appellative oder symbolische Handlungen reduziert, entfaltet sich im Windschatten der Corona Pandemie ein sozialer Taifun, dessen Auswirkungen die eigentlichen Folgen der Pandemie noch in den Schatten stellen könnten. Während Teile des weltweiten Staatsapparates des Empires Schritt für Schritt den Übergang in einen faschistischen Krisenmodus vollziehen, wobei nicht ausgemacht ist, ob dieser temporärer oder grundsätzlicher Art sein wird, werden innerhalb kürzester Zeit hunderten von Millionen Menschen jegliche Grundlagen entzogen die Mittel zur Existenzsicherung durch eigene Arbeit zu bestreiten.

Auf den staubigen Landstraßen Indiens ziehen Zehntausende aus den Städten in die Dörfer, aus denen sie kommen, weil sie schlagartig kein Einkommen mehr haben. (Mit diesen Wanderungsbewegungen wird sich natürlich auch der Virus bis in die entlegensten Dörfern verbreiten). Derzeit versucht der Staat Zehntausende aufzuhalten und in Quarantäne zu zwingen. In Latein-und Mittelamerika kommt es zu ersten Plünderungen, in Afrika drohen Hungersnöte unvorstellbaren Ausmaßes, wenn die Pandemie dort Fuss fassen wird. Ganz zu schweigen davon, dass das Gesundheitswesen der meisten afrikanischen Länder einer Corona Pandemie nicht ansatzweise gewachsen ist. Innerhalb weniger Tage wird es komplett zusammenbrechen.

Wir sehen uns also einer möglichen Barbarei gegenüber, die alles in den Schatten stellen könnte, was wir seit dem zweiten Weltkrieg erlebt haben. Insofern ist die überwiegende Positionierung der deutschen radikalen Linken, für die hier stellvertretend die von Ums Ganze benannt werden soll (und vieles was veröffentlicht wurde, war noch elender), nichts weiter als Augenwischerei und im Kern Metropolen Chauvinismus (auch wenn natürlich linke Essentials wie offene Grenzen und Solidarität mit den Flüchtlingen nicht fehlen dürfen), weil sie im Kern den Blickwinkel auf eine “solidarische europäische Perspektive” verengen. Das Proletariat und Subproletariat, die Prekären des Trikonts kommen in dieser Erzählung schon gar nicht mehr vor. Sie werden aber diejenige sein, deren Todesraten die Zahlen aus Italien und Spanien weit in den Schatten stellen werden. (Immer unter der Grundannahme dass die verbreitenden Informationen über die Pandemie zutreffend sind).

Wie stand es auf einem Wellblechzaun in einem Ghetto in Südafrika “Wir bleiben nicht in den Häusern, wir haben Hunger”. So oder so, wird nur (k)eine Wahl bleiben, hungernd und durstend den Anweisungen der Regierungen folgen und in “sozialer Distanz” auf ein Wunder oder eine gnädige Wende hoffen oder sich einen existentiellen Kampf zu werfen, um die Situation grundsätzlich zum Kippen zu bringen. Es gab einmal Zeiten, in denen sich eine deutsche radikale Linke an der Seite jener trikontinentalen Impulse sah, jetzt ist der historische Zeitpunkt da anzuknüpfen, wo die Diskussion um einen neuen Antiimperialismus in den 80igern versandet ist. (3)

Darunter geht es nicht. Alles, was nicht auf den Aufstand, bzw. die Unterstützung der aufständischen Kräfte JETZT abzielt, will im Kern doch nur den derzeitigen Zustand (mit all den Privilegien) konservieren, ist also im Kern sozialdemokratische Politik, egal wie sich selber nennt. Und allen dürfte eines unmittelbar klar sein, wenn es denn wirklich irgendwann einen Impfstoff geben sollte, dürfte der in der Anfangszeit nur limitiert zur Verfügung stehen. Wer dann vorerst keinen Zugang zu diesem haben dürfte, ist nun wirklich kein Buch mit sieben Siegeln. Barbarei oder Aufstand.

Fussnoten

  1. Wiki sagt: Der Deus ex machina [ˈdeːʊs ɛks ˈmakhina] (lat. Gott aus einer/der [Theater-]Maschine; ist eine Lehnübersetzung aus dem Griechischen ἀπὸ μηχανῆς Θεός (apò mēchanḗs theós) und bezeichnet ursprünglich das Auftauchen einer Gottheit mit Hilfe einer Bühnenmaschinerie. Heute gilt der Ausdruck auch als eine sprichwörtlich-dramaturgische Bezeichnung für jede durch plötzliche, unmotiviert eintretende Ereignisse, Personen oder außenstehende Mächte bewirkte Lösung eines Konflikts.
  2. Dieser zweite Ausschnitt aus dem Corona Tagebuch des Wu Ming Kollektives erschien am 23. März auf Lundi Matin. Der Übersetzer bitte um Nachsicht hinsichtlich der Tatsache, dass seine Arbeit der Brillanz des Ursprungs Textes nur begrenzt gerecht wird.
  3. Gemeint ist die Diskussion, die aus den Einschätzungen der Autonomie, Neue Folge entstanden ist. http://autonomie-neue-folge.org/wp-content/uploads/2018/03/Autonomie-Nr.-10-1982.pdf
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Ergänzungen

Die Kommentatoren liefern hier auch nur einen moralistischen Bezug auf den Trikont und spiegeln damit den eigenen "Metropolen Chauvinismus". Gemeint ist der postkoloniale Blick auf den Kontinent Afrika, der hier fröhlich homogenisiert wird und als minderwertig geframt. Viele afrikanische Länder sind gegen Corona weit besser aufgestellt, weil sie die Erfahrung aus Ebola- und anderen Virusepidemien nutzen können. Das Gerede von Hungersnöten in Afrika, dem Trikont und Antiimperialismus kann getrost in den 80ern bleiben und die übrig gebliebenen Protagonisten von damals sollten mal ihre Klappen nicht so weit aufreißen, wenn sie sich nicht mal die Mühen machen ihr Weltbild wenigstens halbwegs zu aktualisieren