Voller Erfolg: Drei Freisprüche im Gießener Schwarzfahr-Prozess - aber noch nicht alle Fragen beantwortet

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Es dauerte nur etwa eine Stunde, dann war der Prozess gegen den Aktionsschwarzfahrer Jörg Bergstedt zu Ende: Drei angeklagte Fahrten - drei Freisprüche. Damit hat (nach mehreren absurden gegenteiligen Gerichtsurteilen) wieder ein Gericht die Frage bejaht, dass offensiv gekennzeichnetes Schwarzfahren keine "Erschleichung von Leistungen" sei. Das gilt zumindest für das demonstrative Schwarzfahren, also die Fälle, wo neben der gut sichtbaren Kennzeichnung (z.B. Schild(er) am Körper) auch Flyer verteilt werden für Nulltarif, gegen Schwarzfahr-Bestrafung u.ä.

Die Gießener Allgemeine kommentierte das Verfahren am 22.12.2015 so:

Es ist eine Gesetzeslücke – und Jörg Bergstedt ist hindurchgeschlüpft. Der Gießener Politaktivist ist am Montag vom Verdacht der Erschleichung von Leistungen freigesprochen worden. Bergstedt musste sich vor dem Gießener Amtsgericht verantworten, weil er ohne Ticket Bahn gefahren war.
Richter Jürgen Seichter sah darin aber keine Erschleichung von Leistungen, da Bergstedt auf das Schwarzfahren hingewiesen hatte – und das nicht gerade subtil.
Bergstedt nennt sich selbst einen »Aktionsschwarzfahrer«. Er ist Teil einer bundesweiten Bewegung, die eine kostenlose Nutzung von Bus und Bahn fordert. Um auf ihre Ziele aufmerksam zu machen, fahren die Mitglieder ohne Fahrschein, dafür aber mit einem gut sichtbaren Ausweis, auf dem »Ich fahre umsonst« steht. Ihrer Meinung nach erschleichen sie sich auf diese Weise keine Leistungen. Eine Meinung, die Richter Jürgen Seichter am Montag teilte. »Eine Erschleichung von Leistungen setzt ein verdecktes Vorgehen voraus. Das war in diesem Fall nicht gegeben.«

Damit ist ein Etappensieg errungen - und die Debatte neu eröffnet. Das war wichtig, nachdem bei einigen Prozessen in anderen Städten auch in höheren Instanzen absurde Urteile gefällt wurden - immer wieder mit der zentralen Aussage, dass ein Fahrgast mit großen Schild um den Hals genauso aussieht wie ein Fahrgast ohne ein solches. Das ist wie ein Gerichtsbeschluss "Rot ist blau" oder A gleich Nicht-A. Aber er zeigt vor allem, dass gottähnliche, d.h. wahrheitsdefinierende Instanzen immer noch nicht der Vergangenheit angehören. Für die Idee des Aktionsschwarzfahrens waren das Niederlagen, beigefügt von der Willkürherrschaft des Robenstaates.

Nun also ist die Debatte neu angefeuert - und die Aktionsschwarzfahrer_innen hoffen auf neue politische Impulse, damit Fahrkartenwesen und Schwarz-Bestrafung ein Ende haben. Zwar ist das Gießener Urteil vom 21.12.2015 noch kein endgültiger Durchbruch, denn die drei Freisprüche basieren zum Teil auf starken Erinnerungslücken der Zeug_innen und zum anderen Teil darauf, dass eine angeklagte Schwarzfahrt besonders demonstrativ ausfiel. Aber immer das wäre damit klar: Wer "demonstrativ" ohne Ticket unterwegs ist, d.h. neben Schild auch noch Flyer verteilt und Gespräche sucht, dürfte nicht mehr unter den Strafparagraphen fallen. Für den gestern Freigesprochenen eine Aufforderung: "Fahrt schwarz und macht daraus viele kleine Demonstrationen - gegen die Kriminalisierung des Schwarzfahrens und für die Einführung des Nulltarifs." Aktionsmaterialien und Argumente haben die Aktivist_innen auf ihrer Seite www.schwarzstrafen.de.vu zusammengestellt.

Problematisch ist weiter das Verhalten vieler Umwelt- und linken Parteien und Gruppen. Obwohl etliche den Nulltarif im Personenverkehr selbst im Programm haben oder behaupten, solidarisch gegen Repression wirken zu wollen, ließen sie die Aktivist_innen im Gießener Prozess und bei den Aktionsschwarzfahren der vergangenen Monate im Stich. "Die suchen lieber Mitglieder und Spenden als die die Hänge mit konkreter Aktion dreckig zu machen", kommentierte eine Zuschauerin das Ausbleiben jeglicher Unterstützung. Die Aktivist_innen aus dem Umfeld der Projektwerkstatt sind das aber gewöhnt. Um dem ökologisch und sozial sinnlosen Fahrscheinwesen und der Kriminalisierung des Schwarzfahrens ein Ende zu bereiten, setzen sie weiter vor allem auf direkte Aktion - und eine geschickte, offensive Verteidigung vor der staatlichen Repression. Die Redakteurin des Gießener Anzeiger schien von diesen Strategien vor Gericht auch ganz beeindruckt (aus dem Bericht "Bus- und Bahnfahren: "Grundrecht für alle"" am 22.12.2015):

Bergstedt liest viel, recherchiert, weiß, wie Beweisanträge – die er gerne und in großer Anzahl stellt – aufgebaut sein müssen, um nicht schon wegen formeller Fehler abgeschmettert zu werden. Nicht nur darin unterscheiden sich Berg-stedt-Prozesse sehr von anderen. Wo sonst oftmals ein stiller, verunsicherter Angeklagter den Gerichtssaal betritt, ist Bergstedt stets blendender Laune und sucht sich, ausgerüstet mit allem, was für eine ordentliche Powerpoint-Präsentation nötig ist, eine Bühne.

Ein weiterer Prozess wegen offensiven Schwarzfahrens in Gießen könnte nun die Frage klären, ab wann eine Kennzeichnung der Fahrscheinlosigkeit strafbefreiend wirkt. Das Verfahren gegen den gleichen Angeklagten, aber anderen Fällen, ist schon in der zweiten Instanz. Als Verhandlungstermin ist Montag, der 18.4., um 9 Uhr im Landgericht Gießen (Ostanlage/Ecke Gutfleischstraße, Raum 15) angesetzt.

 

Mehr InfosNulltarif, Schwarzfahren usw.

 

Umweltschutz und Emanzipation

 

Ärger mit Justiz und Repression

 

Politische Seminare in den nächsten Wochen, u.a. zu Nulltarif und Aktionsschwarzfahren

  • 25.-27.12. in der Projektwerkstatt: Seminar zu Martin Luther: Was hat der alles so gesagt? Warum wird er verehrt?
    Der Anlass: Deutschnational und christlich-fundamentalistisch werden 2017 500 Jahre Thesenanschlag abgefeiert - und damit Luther, der die Verbrennung aller Juden und die Tötung aller "Gebrechlichen" forderte, Revolutionen verdammte und Frauen für minderwertige Wesen hielt. Andererseits: Optimal für Aktionen. Eine Möglichkeit wäre, die aktive Phase mit dem 31.10.2016 zu beginnen (also 499 Jahre Thesenanschlag).Ziel des Seminars: Sich informieren, aber auch schon zu diesem frühen Zeitpunkt anfangen, Aktionsideen zu sammeln, Infoveranstaltungen zu machen, Flyer usw. rauszugeben .. also vielleicht das ganze Jahr 2016 über.
  • 1. bis 4.1.2016 in der Projektwerkstatt: Seminar zur "Theorie der Herrschaftsfreiheit"
    Wie kann eine herrschaftsfreie Welt aussehen? Diese Frage beschäftigt PhilosophInnen, manch zukunftsorientierten PolitikerInnen oder AktivistInnen, Roman- und Sachbuchschreiberlinge. Doch ein kritischer Blick zeigt meist: Zukunftsdebatten sind eher ein Abklatsch heutiger Bedingungen mit netteren Menschen in der Führung. "Freie Menschen in freien Vereinbarungen" ist radikal anders: Mit scharfem, analytischen Blick werden die Bedingungen seziert, unter denen Herrschaft entsteht, wie sie wirkt und was sich wie ändern muss, damit Menschen aus ihrem Streben nach einem besseren Leben (Eigennutz) sich nicht nur selbst entfalten, sondern genau dafür die Selbstentfaltung aller Anderen brauchen und deshalb mit herbeiführen. Aus Konkurrenz wird Kooperation, das Normale weicht der Autonomie. Vorab was zum Thema lesen? Hier ...
  • 8.-10.1.2016 in der Projektwerkstatt: Direct-Action-Training
    Du findest, in der Welt läuft einiges verkehrt? Und fühlst Dich ohnmächtig, weil Du oft nicht weißt, wie das Bessere gelingen oder durchgesetzt werden kann? Umweltzerstörung, Menschenrechtsverletzungen in Zwangsanstalten, Diskriminierung und Ausbeutung - so vieles passiert täglich, aber kaum etwas hilft dagegen? Dann könnte dieses Direct-Action-Training (wahlweise: Workshop) helfen. Denn ganz so ohnmächtig, wie es scheint, sind wir nicht. Im Gegenteil: Es gibt viele Aktionsformen, die wir kennenlernen und üben können, um uns wirksamer wehren zu können, um lauter und deutlicher unsere Stimme zu erheben oder uns politisch einzumischen: Kommunikationsguerilla, verstecktes Theater, gezielte Blockaden oder Besetzungen, intelligente Störung von Abläufen und vieles mehr schaffen Aufmerksamkeit und bieten Platz für eigene Forderungen und Visionen. Wir werden konkrete Aktionsideen besprechen, den rechtlichen Rahmen durchleuchten und einiges ausprobieren. ++ Schon mal informieren? www.direct-action.de.vu
  • Sa/So, 16./17.1. in Köln (Kolbhalle, Helmholtzstraße 8-32): Direct-Action-Training
    Zum Inhalt siehe 8.-10.1.2016
  • 22. bis 24.1. in der Projektwerkstatt: Seminar "Freie Fahrt für alle!"
    (Umwelt- und menschenfreundliche Verkehrssysteme, Nulltarif und Aktionsschwarzfahren)
    Wie sieht Mobilität heute aus - und wie wäre es, wenn nicht Herrschafts- oder Kapitalinteressen alles prägen würden? Welche gesellschaftlichen Folgen haben Autoverkehr, Regionalplanung, Supermärkte auf der grünen Wiese, lange Anfahrtswege zum Arbeitsplatz, weltweiter Produkte- und Rohstoffverkehr und so vieles mehr? Wie lässt sich Fuß-, Rad- und öffentlicher Verkehr fördern? Vor- und Nachteile des Nulltarifs (keine Fahrkarten mehr). Welche Rolle kann das Aktionsschwarzfahren spielen?
  • 29. bis 31.1. in der Projektwerkstatt: Kritik neurechter Ideologien und rechter Gedanken in vereinfachten Welterklärungen
    Wo kreuzen sich moderne rechte Ideologien mit vereinfachten Welterklärungen? Warum sind Linke und Rechte oft anti-amerikanisch, anti-israelisch, gegen Gentechnik und Konzernherrschaft, gegen Globalisierung und TTIP? Was unterscheidet die Positionen und was verbindet sie? Das Seminar soll Einblick in neurechtes Denken (Verschwörungstheorien, Pegida, Theoriebücher z.B. von Alain de Benoiste) bieten und skeptisches Denken anregen.

Mehr Infos und Anmeldung auf www.projektwerkstatt.de/termine.

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