[LE] Remember, remember the 10th of July

Abstract: 
Statement einiger anarchistischer Individuuen zu den Geschenissen vom 09. und 10. Juli in Leipzig.

Remember, remember, the 10th of July

In der Nacht zum 10. Juli haben die Bewohner*innen des Eisenbahnstraßen-Viertels entschlossen sich solidarisch gegen die Polizei zur Wehr zu setzen, um eine Abschiebung zu verhindern. Nachdem es den Bullen gelang, die Abschiebung durch ein Ablenkunsgmanöver trotzdem durchzuführen, entludt sich die Trauer und die Wut über die rassisitischen Polizeimaßnahmen in fliegende Steine und Flaschen. Menschen verschiedenster politischer und sozialer Umfelder, Hautfarben und Hintergründen hatten sich mitten in der Nacht zusammengefunden, um ihren Nachbarn vor einer Abschiebung zu retten. Hunderte Menschen schlossen sich spontan zusammen und entfalteten eine unglaubliche Kraft, die sich in wütenden Sprechchören und zivilem Ungehorsam ausdrückte.

Wir haben den Schilderungen der Geschehnisse vom 09. und 10. Juli inhaltlich  nichts mehr hinzuzufügen. Wir gehen daher nur auf bestimmte Punkte ein, die für uns von Relevanz sind  und konzentrieren uns auf eine Analyse, die die Perspektive der zukünftigen Kämpfe in sich trägt.

Abschiebung um jeden Preis

Die Eskalation in der Nacht des 09. Juli ging eindeutig von der Polizei aus. Grundsituation war, dass die Cops ungeachtet aller Kosten und Konsequenzen, die Abschiebung durchführen wollten. Die politische Entscheidung, den  23-jährigen gegen das Aufbegehren der gesamten Nachbarschaft abzuschieben, war Ursache der folgenden Eskalation. Den Cops war es wichtiger, einen einzigen Menschen abzuschieben, als beispielsweise dafür zu sorgen, dass ihre Fahrzeuge rechtzeitig und heile wieder zurückkommen. Uns macht es wütend zu hören, wenn Menschen die Argumentation der Cops und des Staates übernehmen und behaupten, die Eskaltion sei von den Blockierenden ausgegangen; es wäre zu keiner Poliziegewalt gekommen, wenn keine Flaschen oder Steine geflogen wären. Alle, die jemals bei einer Sitzblockade geräumt wurden oder eine solche Räumung miterlebt haben, wissen, dass auch friedliche, passive Formen von Widerstand von der Polizei stets gewaltsam durchbrochen werden. Entscheidend für die Polizeigewalt ist nicht die potenzielle Gegenwehr der Betroffenen, sondern die politische entscheidung Polzeimaßnhamen gegen den Willen der BEvölkerung durchzusetzen.
Wir sollten also nicht dem Trugschluss erliegen, dass die Bullen uns beim nächsten Mal nicht pfeffern oder durchs Viertel jagen würden, wenn wir schön still halten. Wir müssen uns spätestens bei einer AfD-Regierung im September im Klaren darüber sein, dass humanistischer Widerstand gegen Staatspraktiken Polizeigewalt mit sich bringt. Ob sich die Menschen wehren oder nicht, ist den Bullen letzendlich entweder  egal oder -  im Zweifelsfall  - nur relevant für die Wahl ihrer Waffen, der Panzerung sowie dem Grad der Gewaltanwendung. Aber eine Bevölkerung, die sich so entschlossen und solidarisch wie in dieser Nacht des 10. Juli gegen den Staat zur Wehr setzt, macht es zu einem aufreibenden und anstrengenden Unterfangen Menschen abzuschieben.
Wir werden lernen müssen, dass unsere körperliche und soziale Sicherheit gemeinsam gegen die Angriffe der Polizei verteidigt werden muss. Eine Welt ohne Grenzen, in  der allen alles zusteht, in der keine Menschen mehr gejagt werden, weil sie die falsche Herkunft haben, werden wir nicht bei den Cops anmelden können. Wir werden sie gegen den Staat und seine Kräfte erkämpfen und beschützen müssen. Das, was in dieser Nacht in der Hildebrandstraße passierte, war für die Cops ein echter Alptraum. Lasst uns dafür sorgen, dass sie keine ruhigen Nächte mehr haben. Die Bullen haben den Stadtteil um die Eisenbahnstraße zu ihrem Verfügungsgebiet erklärt. Für die meisten Menschen ist das Viertel gefährlich, weil es dort vor Bullen wimmelt, die alle und jeden*jede kontrollierend durch die Straßen ziehen und die Menschen terrorisieren. Das Problem in der Eisenbahstraße sind nicht die Kriminellen oder die Drogenabhängigen sondern die Cops, die ständig durch die Straßen fahren und die Angst verbreiten, kontrolliert und mit Repression überzogen zu werden.
Wir müssen ein stärkeres Bewusstsein dafür entwickeln, dass Polizeipraxis, wie sie hier in Form von Abschiebungen geschieht, menschenverachtende Gewalt ist, die keinesfalls akzeptiert werden darf und gegen die Widerstand geleistet werden muss. Wir werden alle für uns selbst entscheiden, welche Mittel und  Formen des Widerstands uns geeignet erscheinen. Dabei müssen wir darauf achten, dass wir empathisch sind, dass wir individuelle Entscheidungen respektieren und weder Schwäche noch Stärke in irgendeinerweise beurteilen. Die Frage, ob ein Mensch zu eingeschüchtert oder zu wütend ist, stellt sich nicht. Wir fordern daher die Gewaltkritiker*innen auf sich bewusst zu machen, dass es schlicht überheblich ist, so zu tun als habe man die richtige Wahl der Mittel für sich gepachtet. Wer seid ihr, dass ihr den Wutausbruch eines Menschens -  angesichts von Bullen die nachts Personen aus den Häusern holen - verurteilt? Seid einfach still, wenn ihr wieder über "Steinewerfer*innen" und "Krawallsucher*inner" herzieht und seht zu wie ihr gewaltlos oder im legalen Rahmen den Faschist*innen und Bullen etwas entgegenbringen könnt. Hauptsache ihr macht etwas und zerreißt euch nicht nur das Maul! Wenn wir an den Aktionsformen anderer etwas auszusetzen haben, dann lässt sich das solidarisch kommunizieren und aushandeln.

Die Arten des Widerstands am 09. Juli waren genauso divers und unbestimmt wie die Menge der Menschen, die sich spontan zusammenfand. Verschiedenste Gefühle, Gedanken, Ängste, Hintergründe und Ideen waren temporär vereint in der gemeinsamen Bestrebung einen Menschen vor der Abschiebung zu schützen und einen weiteren Eingriff in das Leben der Menschen im Viertel durch die Polizei abzuwehren. Die Blockaden, die Parolen, die LED-Scheinwerfer der Smartphones die Menschen auf die Cops richteten, um diese zu blenden, die Steine und Flaschen, das Lachen und die Chöre der Menschen waren respektable Aspekte dieses wunderschönen Aufbegehrens und der Alptraum der Cops.

Die Abschiebung konnte nicht verhindert werden. Menschen wurden durch die prügelnden Bullen in der späteren Nacht schwer verletzt. Unsere Aufwendungen waren schwer. Noch schwerer war der Verlust des 23-jährigen, der jetzt obdachlos in Spanien ist, und die Trauer seiner Eltern. Wir mussten erleben, dass die Bullen vor nichts zurück schrecken. Die glücklicherweise erstellten Videoaufnahmen der Geschehnisse zeigen, in welchem Maße die Bullen schwerste Verletzungen und Lebensbedrohungen in Kauf genommen haben. An dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen wie wichtig es in Zukunft sein wird, die erwartbaren Ausbrüche von teils lebensgefährlicher Polizeigewalt zu dokumentieren und öffentlich sichtbar zu machen. Während auf die Anonymität der Aktivist*innen zu achten ist, kann ein laufende Kamera durchaus Eindruck auf die Cops machen.
Wir müssen damit rechnen, dass die Bullen uns mit schwerster Gewalt angreifen, immer dann, wenn wir uns ihren Maßnahmen in den Weg stellen und gegen die herrschende Ordnung aufbegeheren. Physische Gewalt durch die Knüppel, die Festnahmen und psychische Gewalt, spätestens wenn es um Vorstrafen u.ä. geht, müssen gemeinsam und solidarisch aufgefangen werden. Wir dürfen uns mit unseren Gefühlen, Ängsten und dem Leiden nicht im Stich lassen. Auch wenn wir den Angriffen zunächst nicht mehr als die Steine, die Barrikaden und unsere Entschlossenheit entgegen bringen können, ist es wichtig, dass wir aufeinander achten und für einander da sind, wenn sie einen von uns erwischt haben und wenn ihr Terror wieder Angst verursacht hat. Es ist wichtig, dass wir auch nach den Geschehnissen und Aktionen füreinander da sind. Wir brauchen Strukturen, Treffen und Kaffeekränzchen, um miteinander zu reden, unsere persönlichen Sorgen und Ängste, aber auch Hoffnungen und Ideen auszutauschen. Ob wir nur Kaffee trinken oder die kommenden Aufstände planen, hauptsache wir organisieren uns und sind nett zueinander!  Angesichts der Faschist*innen, der Bullen und der ganzen anderen Scheiße ist es wichtig, dass wir gut zueinander sind, dass wir gut miteinander umgehen und echte soziale Wärme stiften, die wir der Kälte entgegenbringen können. Solange die Bullen und Faschist*innen agieren wie sie agieren, haben wir keine Möglichkeit uns mit Hippies oder Steinewerfer*innen zu entsolidarisieren, da müssen wir zusammen halten und kämpfen, das solidarisch und selbstbestimmt, wild und spontan, beherzt und lebendig, so wie in der Nacht vom 10. Juli. (Find ich nich gut formuliert.)

Die Energie dieser Nacht macht uns zuversichtlich, dass wir der menschenverachtende Polizeipraktik etwas entgegensetzen können, dass wir handlungsfähig sind, auch wenn die faschistoiden Träume der Cops von innerer Sicherheit mit einer AfD-Regierung wahr werden sollten.
Die Gewalttätigkeit der Polizei gegenüber der Mutter, dem Abgeschobenen selbst und den Anwohner*innen macht uns betroffen, traurig und noch viel wütender. An dieser Stelle möchten wir all jenen unser höchstes Mitgefühl aussprechen, die von der Gewalt der Cops betroffen waren: Ihr seid nicht allein! In unseren Gedanken und Kämpfen werden sie uns nicht vereinzeln können! Wir werden füreinander da sein und zusammenhalten. Wir werden in Zukunft noch mehr darauf achten müssen, dass niemand mit seinem*ihrem Leiden alleine bleibt. Die Ängste, die Sorgen, kurz: das Leben des Einzelnen und seine freie Entfaltung muss zu einer politischen Angelegenheit werden. Wir müssen solidarisch sein, wenn die Bullen wieder Verdachtsunabhängige Kontrollen durchführen, Menschen  kontrollieren, drangsalieren oder abschieben wollen. Das gewaltsame Eingreifen der Polizei in das Leben einzelner Menschen, ist ein Angriff auf das freie gesellschaftliche Leben aller. Abschiebungen sind schlicht menschenverachtend, gegebenenfalls mörderisch und ein existenzieller Angriff auf das freie Leben eines*einer jeden und seiner*ihrer Selbstbestimmung. Jede Form von Widerstand gegen eine Abschiebung ist daher reine Gegengewalt und in dieser Hinsicht nicht nur absolut legitim, sondern notwendig. Die Verhinderung einer Abschiebung durch eine solidarische Nachbar*innenschaft ist gesellschaftlich realisierte Notwehr, spontan organisierter Zivilschutz.

Die Scherben jener Nacht, die Steine, das Tränengas in ihren Augen soll den Cops in Erinnerung bleiben, wenn sie die nächste Abschiebung im Viertel durchführen wollen. Sie sollen merken, dass ihre Angriffe nicht unbeantwortet bleiben, dass es knallt, wenn sie in das Viertel kommen, um nachts Familien zu terrorisieren. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass der 10. Juli unvergessen bleibt. Die Bullen sollen nie wieder vergessen, dass das Viertel um die Eisenbahnstraße solidarisch und widerständig ist. Die Prügelei, die Gewalt, die sie gegen uns gerichtet haben, hat nur mehr Energie und Entschlossenheit erzeugt. Die Bullen haben das gesamte Viertel gegen sich aufgebracht und nun auch politisiert.
Ihr Angriff hat uns zusammengeschweißt und hat uns ein Bewusstsein von den Perspektiven, den zukünftigen, gemeinsamen Kämpfen gegeben. Unsere Wut und unser Hass auf die gewalttätigen Bullen, die auf demonstrierende Menschen blind eingeschlagen und dutzende schwer verletzt haben, verbindet sich mit der Hoffnung und der Freude, die uns der 10. Juli, die gemeinsamen Rufe und der Kampf der Menschen  gegeben hat. Unsere Herzen werden ewig brennen.

Anarchistische Indiviuden
Lizenz des Artikels und aller eingebetteten Medien: 
Creative Commons by-sa: Weitergabe unter gleichen Bedingungen