Zeitenwende - Anmerkungen zum 1. Mai 2019 in Paris

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Veröffentlicht bei lundimatin#190 (1), 6. Mai 2019

Die Pariser Demonstration am 1. Mai (2) markiert einen Zeitenwechsel. So sieht es jedenfalls Serge Quadruppani (3) in diesem Artikel.

Eine Block der Gewerkschaften, der zu einem minderheitlichen, nur symbolischen, geworden ist; ein schwarzer Block, der angekündigt, erwartet und gefürchtet wurde, aber schließlich nicht kommt; gelbe Westen überall, die aber nicht in die identitäre Falle laufen, eine überwältigende Mehrheit an der Demospitze (4), die den Aufzug ausmacht. Diese Demonstration am 1. Mai erwies sich als insgesamt und buchstäblich autonom.

Der Wasserwerfer, der absichtlich auf den zentralen Lautsprecherwagen der Gewerkschaft bei der Pariser Demonstration abgezielt hat - genauer gesagt, nach zuverlässigen Quellen, auf den Generalsekretär der CGT (5) - hat ein Signal gesetzt, dessen Bedeutung vollständig erkannt werden muss.

Es ist ja öffentlich bekannt geworden, dass einige Tage vor der Demonstration ein Treffen stattfand, bei dem die Polizeipräfektur die Gewerkschaftsführer nachdrücklich versuchte zu überreden, sich an der Aufstellung einer Falle zu beteiligen, die es der Polizei ermöglicht hätte, das gute gewerkschaftliche Weizen vom Spreu der Krawall - Gelbwesten zu trennen (6). Ziel dabei war es, die Demospitze einzukesseln und in noch viel größerem Umfang dem zu unterziehen, was während des 24. Aktes der Gelbwestenbewegung Tausenden von Menschen auf dem Place de la République stundenlang angetan wurde: Tränengas bis zum Ersticken, Beschuss mit Gummigeschossen und Blendgranaten (7), Prügelorgien und Verhaftungen, gefolgt von Razzien und einer Flut von abstrusen Anklagen. Dieses beispiellose Manöver, das zwischen dem Boulevard Raspail und der Rue de la Glacière stattfinden sollte, beabsichtigte in sehr klarer und bewusster Weise einen politischen Terrorakt gegen die Gelbwestenbewegung und sollte deren Niedergang auslösen.

Als die Gewerkschaftsführungen sich weigerten, an diesem perfiden Regierungsspiel teilzunehmen, dann nicht etwa aus Zuneigung zu Gelb oder Schwarz. Vielmehr war ihnen schon auch bewusst, dass ein großer Teil ihrer Basis nunmehr ein integraler Bestandteil der Bewegung geworden ist und sie auch angesichts der eigenen zahlenmäßigen Schwäche nicht mehr einfach so weitermachen konnten, wie bisher. Hinzu kam, dass es unmöglich war, ein Kommen und Gehen zwischen den verschiedenen Blöcken zu verbieten.

Die Realität übertraf die Erwartungen der Organisationen: Abgesehen von den Ballons hatte die Demonstration wenig Gewerkschaft übrig, stattdessen dominierte überall Gelb. Unter diesen Bedingungen erfolgten neun Granatenwellen nebst Attacke durch den Wasserwerfer auf den Lautsprecherwagen und den Ordnungsdienst der CGT (8). Dabei gab es ein Dutzend Verletzte, drei davon durch Gummigeschosse. All dies kann nur als unmissverständliche Warnung verstanden werden: "Wenn ihr uns nicht helfen könnt, dann seid ihr nichts". Die Botschaft der Regierung an die von ihren Subventionen abhängigen Gewerkschaftsbürokratien ist klar: Wenn ihr kein Teil der Polizei gegen die sozialen Bewegungen sein könnt, dann werden wir nunmehr euer Demonstrationsrecht schützen, indem wir euch daran hindern, zu demonstrieren.

Vorrausgegangen waren vier Monate, in denen die Polizei zunehmend völlig von der Leine gelassen wurde… Ein Polizist eilt heran, um die Brille eines Demonstranten zu zertrampeln, ein anderer zerschlägt wissentlich das Handy eines Journalisten… Beleidigungen, Ohrfeigen, Demütigungen, kollektive Strafen, unmenschliche und erniedrigende Behandlungen wurden immer häufiger (9). Dabei ist jedes Einzel- oder Gruppenverhalten, das sich der direkten Kontrolle der Polizeistruktur entzieht ebenso wichtig zu beachten wie die Terrortechniken, die direkt aus dem Kommandozentralen von der Staatsspitzen - einschließlich des Élysées - unmittelbar gesteuert werden. Man muss es gesehen haben, wie die BAC (10) aus ihren Blaulicht blitzenden Autos in ihren individuellen Outfits wie in einem Videospiel herausstürmte, scheinbar um den mittlerweile erreichten Grad der Arroganz und Brutalität der Polizei zu belegen.Only local images are allowed.

Schon unter Sarkozy kam es aufgrund der Nähe der Netzwerke der Regierung und der Polizei zu einer gewissen Verschmelzung zwischen der politischen und polizeilichen Macht. Unter Hollande bestanden die Sarkozianischen Netzwerke nicht nur weiter, sondern es gab zusätzlich eine erhebliche Zunahme der polizeilichen Arbeitsbelastung durch die sozialen Bewegungen (11). Die Trennung, die es zwischen der Bevölkerung und der Polizei immer auf latente Weise gegeben hatte, vergrößerte sich zusehends in der Abfolge der Polizeieinsätze. Diese Verselbständigung des Apparats hat sich dann durch die Affäre Benalla (12) und durch die hastigen Lohnerhöhungen für Polizist*innen auf dem Höhepunkt der Gelbwestenbewegung noch weiter zugespitzt.

Auf der einen Seite also eine Polizeimacht mit einer expandierenden Autonomie. Auf der anderen Seite eine Regierung, die angesichts der Beharrlichkeit der Bewegung nur noch eine Politik hat: Angst zu machen und gleichzeitig eine Fassade des demokratischen Diskurses zu bewahren. Wenn wir dazu noch den beeindruckenden Erfindungsreichtum eines Justizsystems hinzufügen - das noch nie so eindeutig nach sozialen Klassen orientiert war - um die Überwachung und Bestrafung mit atemberaubenden Strafen bei immer dünneren Anklagen zu gewährleisten - dann ist alles getan, damit das makronsche Projekt wie das Regime von Pinochet (13) aussieht – nur ohne die Toten. Pinochet? Wie kommen wir denn jetzt darauf? Seht ihr nicht die Gesellschaft um euch herum? Diese Warteschlangen an den Kino- und Supermarktkassen, diese Blicke auf die Bildschirme, diese kulturellen Events… all diese Menschen, die kaum über die Gelbwesten sprechen, außer wenn es einen Stau oder Tränengas auf der Straße gibt... Aber auch in Chile ging das Leben nach dem Staatsstreich einfach so weiter, ebenso wie der kulturelle Konsum. Ein ziemlich großer Teil der Mittelschicht hatte sich damals dafür entschieden, das Ausmaß der Repression zu verdrängen, nicht nur aus Angst, sondern auch, weil sie an dem neoliberalen Projekt der Putschisten teilgenommen hatten und ihnen für den vermeintlichen sozialen Frieden dankbar waren. Ob großbürgerlich oder kleine Angestellte, der Pinoschismus hatte viele Anhänger und unzählige Komplizen.

Seine zeitgenössischen Kollegen sind leicht zu identifizieren - sowohl unter den Macron- hörigen Verlegern und anderen „Stars“, die seit vier Monaten gegen gelbe Westen schäumen, als auch unter den Menschen auf den Pariser Terrassen, die mit genervtem Blick die Demonstrationen an sich vorbeiziehen lassen. Sie scheinen den Knall der Granaten gar nicht zu hören, die nur 2 Ecken entfernt explodieren. Aber auch sonst träumt ein guter Teil des Landes doch nur von einer Rückkehr zur Normalität, ohne dabei Macron unbedingt besonders zu mögen. Nein, wir sind nicht in einer Diktatur, aber wir müssen das Regime in das wir reingeraten sind besser verstehen und benennen (14): Eine Regierung, die durch eine bisher beispiellose Verleugnung der Realität regiert und deren Brutalität als einzige Grenze im Moment noch den Tod hat. Könnte es daran liegen, dass eine zunehmend eigenmächtige Polizei und eine Medienelite in Wendejacken die Hauptsäulen der Macht sind und dass die Regierung ihre Wahlbasis (20%) durch die launische Natur des Kinderkönigs (15) enttäuschen musste… riecht es nicht nach Verbranntem und nach Vereinsamung?? Sind das die Gründe für die fiebrige Hektik, die wir heute in der Macronie erleben?Only local images are allowed.

Die Aufforderung in Form eines Wasserstrahls an die Gewerkschaftsbürokratien, die nicht in der Lage sind, die ihnen von der Regierung zugewiesene Aufgabe zu erfüllen, zeigt, dass die Beseitigung von Zwischenkörpern, die sowohl als Stoßdämpfer als auch als Antriebsriemen dienten, kurz vor ihrem Abschluss steht. Es besteht keine Notwendigkeit, sich mit den lächerlichen politischen Parteien aufzuhalten, die auch ohnehin nicht in der Lage sind, etwas anderes als ihr unwahrscheinliches Überleben zu verteidigen, wobei der Rassemblement national (16) die einzige ist, die ihre Funktion erfüllt, nämlich zu zeigen, dass es immer noch schlimmer werden könnte.

Das ist die Neuheit der Zeit: Der gesamte politische Raum wird bald mit der Konfrontation zwischen den Gegner*innen und den Herrschern, ihrer Polizei und den Richtern gefüllt sein. Eine solche Polarisierung erfordert, dass sich die aktuelle Bewegung in erster Linie ihrer eigenen Stärken bewusst ist.

Erstens ist da die Tatsache, dass es geschafft wurde, so lange unter einer Flut von Granaten und Verleumdungen durchzuhalten. Wenn die Bewegung der Gelbwesten uns etwas gelehrt hat, so ist es dieser unglaubliche Mut, den ein gemeinsamer Impuls über einen so langen Zeitraum geben kann. Hochachtung für die 40.000, die sich nicht von dem medialen Eindreschen von Castaner (17) vor dem 1. Mai einschüchtern haben lassen! Hochachtung für all die Vielen, die sich Samstag für Samstag mit einer immer schärferen Repression konfrontieren! Je länger die Bewegung dauert, desto stärker wird sie sein - durch ihre ständige Verweigerung gegenüber der macronschen Arroganz und durch die Dauer ihrer Präsenz. Angesichts des Sumpfes (18) der Sympathisanten ist die Suche nach anderen Handlungs- und Lebensweisen auch heute noch, immer und immer wieder möglich. Die Stärke der Bewegung ist auch ihre strategische Intelligenz, die sie von Samstag zu Samstag entwickelt hat. Diese haben wir auch letzten Mittwoch am Werk gesehen, als mehrere wilde Demos den vorgeschriebenen Rahmen verließen und das Joch einer Demonstration abschüttelten, die sie einsperren wollte.

(Die Stärke der Gelbwesten ist schließlich die Gemeinschaft der Kreisel, die wiederbelebt und entwickelt werden muss sowie jegliche Vertreterschaft abzulehnen, was durchgehalten werden sollte. Aber darüber werden wir sicherlich noch einmal reden müssen.)

Paris, 6.5.2019Only local images are allowed.

[Photos : Karl Hall]

* Eigene Anmerkung: Selbstverständlich sind wir dankbar für jede konstruktive Kritik an der Übersetzung

 

 

 (1) Original auf Französisch: https://lundi.am/Changement-d-epoque-Serge-Quadruppani

(2) Videos zum 1.Mai:  https://youtu.be/3fm33aokofU (Kurzfassung von Le Monde) http://taranis.news/2019/05/paris-1-5-2019-%e2%80%a2-manifestation-du-1er-mai-2019/ (Long Version von Taranis News)

(3) Serge Quadruppani ist ein engagierter französischer Autor, der sich u.a. durch die Unterzeichnung einer Erklärung mit dem Tenor „Wir sind alle Mitautor*innen“ für die sog. Tarnac – Nine einsetzte, siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Der_kommende_Aufstand

(4) Franz. cortège-de-tête (de.Kopf des Aufzugs). Ein spätestens seit 2015 verstärkt auftretendes Demophänomen in Frankreich, dass sich unorganisierte oder auch Anarchist*innen in einem „wilden Block“ an die Demospitze setzen – sehr zum Verdruss z.B. der Gewerkschaften.

(5) Confédération générale du travail (CGT ; de. Allgemeiner Gewerkschaftsbund). Größte französische Gewerkschaft mit orthodox kommunistischen Wurzel. Vorsitzender ist seit 2015 Phillipe Martinez, der wiederum die Demo nach Polizeiangriffen verließ.

(6) Verlinkt ist hier ein Artikel von Paris-Luttes. Info unter dem Titel „Die Flics haben gegenüber den Gewerkschaftsspitzen angekündigt, die 1.Mai – Demo anzugreifen“. Der Artikel denunziert das Vorhaben bis ins Detail. https://paris-luttes.info/la-prefecture-veut-faire-leur-fete-12087?lang=fr

(7) In Frankreich werden von der Polizei auf Demos auch TNT-haltige Blendgranaten eingesetzt, die schon Tote und etliche Schwerverletzte verursacht haben.

(8) Der Ordnungsdienst der CGT ist wegen seiner vor allem in der Vergangenheit häufigen direkten Zusammenarbeit mit der Polizei sehr umstritten.

(9) Hier ein Video von einer besonders üblen Szene von Polizeigewalt während des diesjährigen 1.Mai https://youtu.be/qnbT9_4Ux04

(10) Brigade anti-criminalité Eine berüchtigte Spezialeinheit der Polizei, die meist in Zivil unterwegs ist.

(11) gemeint ist vor allem die Bewegung gegen das oft mit Harz 4 verglichene neue Arbeitsgesetz, bzw. die Bewegung „Nuit Debout“

(12) Alexandre Benalla war ehemals der engste Leibwächter von Macron mit fast schon dem Status eines „Familienangehörigen“. Während des 1.Mai 2018 beteiligte sich der damals gerade 26 Jahre alte Benalla an Prügelorgien gegen Demonstrant*innen, ohne selber auch nur ein „echter Polizist“ zu sein - siehe: https://youtu.be/aNR_t_47j-I  In Anspielung auf diesen Skandal trugen dieses Jahr viele Demonstrant*innen Benalla – Masken. Außerdem war er Anlass für den in Frankreich gerne zelebrierten schwarzen Humor – z.B. https://youtu.be/oUxnOGrwuNI

(13) Diktator in Chile (1973-1990) und hauptverantwortlich für die Ermordung zigtausender Oppositioneller

(14) Hier ist ein Artikel von Mediapart verlinkt, der sich u.a. mit der massiven Behinderung von Journalisten am 1.Mai befasst, sowie auch Parallelen zur Pinochetdiktatur zieht.
https://blogs.mediapart.fr/guillermo-saavedra/blog/010519/un-premier-mai-paris-militarisee-avec-une-repression-brutale

(15) gemeint ist sicherlich der relativ junge Macron

(16) Ehemals „Front nationale“. Vorsitzende Marie Le Pen

(17) Christophe Castaner ist seit Oktober 2018 französischer Innenminister. In seiner Jugend hat er sich mal 2 Jahre lang als Profi – Pokerspieler im Rotlichtviertel von Marseille durchgeschlagen. Er gilt als „harter Hund“ Macrons, der sich für keine Tatsachenverdrehung zu schade ist.

(18) Hier ist die Übersetzung generell etwas unsicher. Aber vermutlich steht das französische marais also de. Sumpf nicht automatisch negativ, wenn von „Sympathisantensumpf“ die Rede ist… oder es ist hier vielleicht auch ironisch gemeint.

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Ergänzungen

Liebe Pipette,

danke für deine tollen Übersetzungen von den Texten aus Frankreich! Wir würden uns freuen wenn du dich per mail bei uns meldest: thehydra@riseup.net . Wir haben grade ein neues Projekt - the-hydra.world - gestartet und möchten Übersetzer*innen und vor allem auch Autor*innen dafür gewinnen.

viele grüße

die hydras