Die Menschen wollen den Fall des Regimes

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Die Echos des syrischen Aufstandes beim Entstehen der Gelben Westen
 
Wir, die wir die syrische Revolution sowohl vor Ort als auch im Exil erlebt haben, sind über den Aufstand des französischen Volkes erfreut. Dennoch sind wir auch besorgt über die “Sicherheitsmaßnahmen” und die “Erhaltung der Ordnung”, die gegen die Gelben Westen gerichtet sind, in diesem sogenannten Land der “Menschenrechte”. Doch wir lassen uns nicht von der demokratischen Fassade der Französischen Republik täuschen, wir wollen aufzeigen, dass es der Staat selbst ist, der diese Menschenrechte bricht.

Die erschütternde Anzahl an Festnahmen, die in den letzten Wochen stattgefunden haben, die Verurteilungen, die den Eindruck erwecken, dass sie Menschen wegen ihrer politischen Überzeugungen ohne jeden Beweisführung treffen, die Forderungen nach einem Eingreifen der Armee, die präventiven Verhaftungen, die allgegenwärtige Überwachung, die wir überall in Frankreich sehen, die Regierungs- und Medienpropaganda und ihre lächerlichen Versuche der Beruhigung, all dies erinnert uns an unsere Erlebnisse zu Beginn der syrischen Revolution.
 
Die Gewalt der französischen Sicherheitskräfte ist natürlich noch weit von dem Einsatz scharfer Munition durch das syrische Regime entfernt. Wir verstehen dies jedoch eher als ein Zeichen der Vorsicht als eines der mangelnden Bereitschaft härtere Mittel einzusetzen. In den Aussagen und Verhaltensweisen des Präsidenten, der Polizei und oft auch der Medien erkennen wir die Reaktion eines Regimes, das seine Macht erhalten will, um jeden Preis.
 
Die Bilder der Schüler, die in Mantes-La-Jolie (1) vor den Bullen niederknien mussten, sorgen bei uns für Schüttelfrost. Für uns Syrer erinnert es uns an die Schüler von Daraa im Jahr 2011, die wegen ein paar Graffiti (“Doctor, bald bist du dran” und “Freiheit”) an den Wänden ihrer Schule verhaftet wurden. Einigen von ihnen wurden die Nägel ausgerissen. Diese beiden Szenen, auch wenn sie sich im Ausmaß der Gewalt unterscheiden, zeugen von der gleichen Bereitschaft der umstrittenen Regierungen, Destabilisierung mit Demütigung zu beantworten. Die Revolution in Syrien begann faktisch, als sich der Bürgermeister von Daraa weigerte, die inhaftierten Kinder freizulassen und verkündete: “Vergesst eure Kinder, eure Frauen werden euch neue gebären. Und wenn sie das nicht tun, bringt uns eure Frauen, dann machen wir es für euch.”
 
Aber zurück zum Place de la Contrescarpe am 1. Mai. Denn hier geschah etwas, wovon wir dachten, darauf Exklusivität zu haben. Wir haben viele Benallas! (2) Wir nennen sie Shabiha: Die Milizen des Regimes, ein wenig wie die BAC, aber sie sind weder Armee noch Polizei, sondern eine Bande von Zivilisten. Zusätzlich zu den Plünderungen und Beschlagnahmungen, die vom Regime gefördert wurden, spezialisierte sich die Shabiha vor der Revolution vor allem auf Schlagstockeinsatz, Folter und den Mord an Demonstranten, ob diese bewaffnet waren oder nicht.
 
Tatsächlich ist Tashbih zu einem Mittel geworden, die Gewalt des Regimes zu normalisieren und sie patriotisch zu instrumentalisieren. Ein ganzes diskursives und materielles System wurde so allmählich auf Menschen ausgedehnt, die eigentlich nicht mit der Regierung verbunden sind, aber entschlossen waren, das Regime bis zum Ende zu verteidigen. Der Kommentar im Video der Razzia in Mantes-la-jolie: “Dies ist mal eine Klasse, die vernünftig steht”, ist ein Beispiel par excellence für das Tashbih. Im Grunde genommen ist jede Unterdrückung sadistisch.
 
Natürlich stellt sich Unterdrückung hier nicht in der gleichen Weise dar – es gibt verschiedene Möglichkeiten, eine Bevölkerung zu beherrschen. Im heutigen französischen Fall sind die Krümel, die dieses Regime nun widerwillig zugesteht, nur Ausreden für die Öffentlichkeit, um nun die Schläge gegen diejenigen, die nun immer noch nicht nach Hause gehen, zu rechtfertigen.
 
Vor einigen Jahren erhielten die arabischen Völker Glückwünsche zu ihrem Aufstand. Der arabische Frühling war irgendwie eine schöne Überraschung, denn nun akzeptierten sie das Joch der Diktatur nicht mehr. Was das französische Volk betrifft, das angeblich Meinungs- und Versammlungsfreiheit besitzt und an “freien” Wahlen teilnehmen kann (obwohl diese von den Reichen, ihrem Geld und ihren Medien inszeniert sind), heißt es, es würde sich nur für “soziale Fragen” einsetzen, wie die Experten und Spezialisten es nennen. Um darauf zu antworten, sei daran erinnert, dass sich die Menschen in Syrien nicht nur erhoben haben, um ihre Wahlkarten zu benutzen oder Meinungsartikel in einer Zeitung zu schreiben. Es ging um ihre Würde. Deshalb haben wir uns gegen die Diktatur in Syrien erhoben. Heute treffen wir in Frankreich auf Demonstranten, die für eine bessere Verteilung des Reichtums und gegen den Machtmissbrauch einer Minderheit kämpfen. Wir können nicht neutral bleiben. Würde kann hier wie anderswo entrissen werden.
 
So wird nun von Radikalisierung gesprochen. Was wir sehen: Auf der einen Seite Gewalt gegen Dinge, die Schaufenster der Luxusläden, der Banken. (Un)wichtige Dinge. Auf der anderen Seite sehen wir Gewalt gegen Menschen, eine Gewalt, die zur Verteidigung dieser “Dinge” Leben gefährdet. Den Staat, wie er tötet. Überall und nicht nur in Ländern wie unserem.
 
Dieses Vokabular ist uns sehr vertraut. Ihre Randalierer und Störenfriede sind unsere “Kriminellen”, “Agitatoren”, ihre „Ultra- Linken“ und extremen Rechten sind unsere “Infiltratoren” und “ausländische Agenten”. Das syrische Regime hat so ein ganzes Lexikon geschaffen. Die Besänftigung von Wut und Protest, der Versuch sie zu disqualifizieren, sie als von Außen – und damit von Extremisten – kommend zu bestimmen, zeigen uns jedoch, dass, sobald jemand beginnt die Macht in Frage zu stellen, mit der selben Sprache geantwortet wird. Wir sollten nicht zulassen, dass diese Verwirrung gestiftet wird.
 
Was schließlich nun Immigration und Rassismus betrifft, so haben wir die Rede von Macron gehört. Die Verschiebung, mit der die Reaktionen auf die “Krise der Besteuerung und Repräsentanz” zu einem “Unbehagen angesichts der Veränderungen in unserer Gesellschaft, eines erschütterten Säkularismus und Lebensstils, der Barrieren und Distanz schafft” gemacht wird, ist ernst und gefährlich. Diese Rede unterscheidet sich nicht von Le Pen und anderen. Es ist auch nichts neues und es hat konkrete und systematische Auswirkungen: Einsperrung, Demütigung, Deportation. Für diejenigen, die zögern, den Gelben Westen beizustehen, steht aber eines fest: Es ist in erster Linie der rassistische Staat, dem man entgegentreten muss.
 
Was die Aussagen einiger Gelber Westen gegen Migranten betrifft, so ist hier der Kampf ein schwieriger. Hier könnten Gespräche und das konkrete Aufeinandertreffen vielleicht eine Gelegenheiten sein. Ein geteilter Tee an einem blockierten Kreisverkehr, ein Gespräch auf den Barrikaden machen es uns endlich möglich uns von den Einflüsterungen des Staates und der Institutionen zu lösen, denn diese sind die wirklichen Begrenzungen. Wir glauben, dass es weder die Immigranten noch die Exilanten sind, die den Franzosen ein menschenwürdiges Leben vorenthalten, sondern es ist der unverschämte Reichtum einiger.
 
Aus diesem Grund fordern wir die Exilanten in Frankreich auf aufzustehen, den Mut zu haben unsere Anwesenheit zu zeigen, und sich niemals einem kolonialen Staat gegenüber verpflichtet zu fühlen, der uns aus Gnade das Recht auf ein Leben gewährt. Es gibt niemanden mehr den es nicht etwas angeht.
 
Wir wollten keinen Vergleich anstellen. Es erschien uns jedoch wichtig einige Parallelen zu benennen. Aufzuzeigen, wo sich Wege kreuzen. Wir brauchen eine revolutionäre Bewegung, die über die einseitige Solidarität (oft weißer, bürgerlich humanitärer und wohltätiger Bewegungen) hinausgeht. Für unseren Teil haben wir uns entschieden, unsere Kräfte zur Verfügung zu stellen, um einen Austausch von Instrumenten, Ideen, und Anliegen anzuregen. Im Grunde genommen wollen wir sagen – etwas was wir in den letzten Jahren gerne gehört hätten – dass es unser gemeinsamer Kampf ist.
 
Der Wunsch nach Abschaffung der Armut ist weder trennbar noch auf eine nationalen Ebene beschränkt: Es ist nicht möglich für die Revolution in Syrien zu sein, während man die Seite Macrons wählt. Der Kampf gegen ihn und seine Welt ist für uns ein Schritt Assad und seine Hölle zu beenden.
 
Es ist noch zu früh um nach Hause zu gehen, aber es ist nicht zu spät um los zu gehen. Es wird immer Gelegenheiten geben um den Kopf frei zu bekommen. Auf jeden Fall wird es nie mehr so sein wie es war. Die Völker wollen keine verkommene Welt mehr. Aber der Sturz der Regime wird nicht ausreichen, denn wir müssen unsere Kämpfe der Zukunft noch gewinnen….. Nur der Fall des Systems, das Macron und Assad hervorgebracht haben, kann uns zufrieden stellen.
 
Wir sehen uns sehr bald wieder.
 
Syrische Revolutionär*innen im Exil.

 

(1) https://www.youtube.com/watch?v=TnOwLMdYBDs

(2) Alexandre Benalla, ehemals Leibwächter, später Sicherheitsberater von Macron. Zog sich am 1. Mai illegalerweise eine Polizeibinde über und verprügelte anlasslos Demonstranten, was ein Affäre auslöste

Anmerkungen: Der Artikel erschien am 14. Dezember 2018 auf Lundi Matin und wurde von einem Gefährten übersetzt, der mir seine Arbeit freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Ich habe den Text lediglich etwas überarbeitet und mit Anmerkungen versehen.

https://lundi.am/Les-peuples-veulent-la-chute-des-regimes

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