1. Dezember 2018: Die Unordnung weiterführen

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Übersetzung eines Berichts von einem französischen Genossen. Eine Übersetzung der Diskussion mit Nick von Alerta comunista wird folgen.

Diesen Samstag 1. Dezember hat die Bewegung der Gelbwesten aufgehört, sich selbst zu gehören, sie ist nicht mehr die Bewegung des weissen Frankreichs von unten wie am Anfang. In Anbetracht der vorhersehbaren Weigerung des Staates, auch nur die geringste Forderung zu erfüllen (bestätigt durch die Weigerung oder die Unfähigkeit der „Sprecher“ der Bewegung, den Premierminister zu treffen), in Anbetracht auch des beiläufigen Aspekts jeglicher Forderung angesichts unserer unerträglichen Existenzen und dank dem Zusammenkommen ALLER Wut im städtischen Milieu, hat sich der revolutionäre Inhalt der gegenwärtigen Periode unter der Kruste der Diskurse und Ideologien gezeigt, dieser Inhalt ist das Chaos. Die Frage ist nun, zu wissen, wo das Begonnene aufhören wird, oder eher wie weit das Begonnene die Unordnung wird führen können. Jene, welche die Bewegung initiierten, sind schon zur stotternden Nachhut davon geworden, sie appellieren an die Vernunft und fordern in den Fernsehnachrichten die Rückkehr der republikanischen Ordnung. Sie sind die Verkörperung der Bewegung zu Beginn und ihre Animosität zeigt zur Genüge, was diese Bewegung schon nicht mehr ist. Sie wären zufrieden mit einem Moratorium auf den Benzinpreis, irgendeiner beliebigen Erhöhung von irgendwas oder der Organisation eines Referendums über die Energiewende, gleichzeitig zeichnet sich eine Bewegung ab, die alles auf ihrem Weg verwüsten will und sich nicht mehr auf irgendeinen Diskurs oder irgendeine Forderung reduzieren lässt, ausser vielleicht „Macron Demission“, wiederholt wie eine Art Mantra ans Nichts, ans Verschwinden von allem, was diese Welt repräsentiert. „Macron Demission“ stellt sowohl die politische Grenze dieser Bewegung, als auch einen Aufruf für das Ende aller Politik dar.

In Anbetracht des Geschehens am Samstag 1. Dezember wäre es absurd, das immer noch als „Bewegung gegen das teure Leben“ zu qualifizieren und etwas als wirtschaftliche Forderung zu verschleiern, das offensichtlich viel weiter geht. Am Samstag dienten die „Beschwerdehefte“ zur Entfachung eines Brands. Die Bewegung der Gelbwesten war über das Stadium der wirtschaftlichen Forderung schon in der ersten Woche hinausgegangen, um in die politische populistische Phase einzutreten, um zu verlangen, dass sich der Staat gegenüber dem Volk zurückzieht oder dass das Volk zum Staat wird. Wir haben diese Phase kritisiert und den Inhalt der vom weissen Frankreich von unten getragenen Forderungen ermittelt, die Grenzen dieses Interklassismus aufgezeigt und auf die Gefahr der nationalen Volkseinheit der Einen gegen die „Anderen“ hingewiesen. Wir waren kaum fertig mit der Kritik dieser Phase, als sie schon vorbei war.

Es fehlte dieser Bewegung an einer Unze Nihilismus, um ihrem „apolitischen“ Charakter einen Sinn zu geben: Die Begegnung mit den „Quartieren“ hat ihr verschafft, was ihr fehlte, um der „wirklichen Bewegung“ zu entsprechen, d.h. nicht jene des gesellschaftlichen Fortschritts, sondern jene der Zerstörung der Gesellschaft, und um sich freudig unter Gleichen wiederzuerkennen. Der Interklassismus hat sich in die Spannung zur Einheit verwandelt, zwischen all jenen, welche wissen oder ahnen, dass sie von dieser Gesellschaft nichts erwarten können, ob sie nun in den Vorstadtquartieren eingepfercht, Schiffbrüchige des periurbanen Pavillonalbtraums oder Sozialhilfebezüger sind, welche überleben, indem sie in der Ardèche Kastanien ernten. Man musste die untote Armee des Gewerkschaftsumzugs an der Place de la Bastille vorbeiziehen sehen, versteckt hinter ihren Fahnen und Parolen, die Arbeit als die ihre bejahend, und die absolute Gleichgültigkeit jener fühlen, welche mit oder ohne Gelbwesten ziellos aber zusammen durch Paris zogen, um zu verstehen, inwieweit die alte Arbeiterbewegung, ihre Gewerkschaften, Repräsentanten und Forderungen eine Sache der Vergangenheit sind. Es wird kein „soziales Zusammenkommen“ geben, diese Bewegung hat sich nicht zurückbesonnen auf linke Vernunft, sie wird nie eine soziale Bewegung sein. Diese Epoche ist vorbei. Die Frage des Antirassismus oder des Antifaschismus, ob links oder rechts, stellt sich nicht mehr, wenn es nur noch darum geht, alles anzuzünden und zu wissen mit wem man es tun kann. Diese Gegebenheit trägt sowohl den Bürgerkrieg als auch die revolutionäre Überwindung als Grenze: Den Schritt vom Aufstand hin zur Revolution zu tun bedeutet auf Messers Schneide zu stehen.

Diese Begegnung hat sehr wohl stattgefunden, nun bleibt die Frage, ob sie sich wiederholen und ausbreiten kann. Alles, was ihr im Weg stehen könnte, ist schon da, präsent im „sozialen“ Wesen der Bewegung als auch in den gesellschaftlichen Beziehungen selbst, welche von keinem Krawall abgeschafft werden können: Die vereinende Parole „Marcron Demission“ trägt unterschwellig in sich die Möglichkeit eines national-populistischen Bündnisses, welches im Namen des Volkes die Staatsmacht ergreift (Le Pen und Mélenchon plädieren mit einer Stimme für vorgezogene Wahlen) und dem Staat eine adäquate Form gegenüber der Krise anbietet: Eine mitfühlend-autoritäre Form, dazu fähig, alle gleichzuschalten, indem sie den einen das Anderssein und symmetrisch den anderen die Verantwortung und den Patriotismus zuweist, um die einen im Namen der anderen zu zerschlagen und alle zu beherrschen. Man sah es etliche Male in den letzten Jahren „Que se vayan todos“ ist häufig ein Aufruf, im schlimmsten Sinne das politische Personal zu erneuern. Aber um diesen Punkt zu erreichen, müsste das weisse Frankreich von unten unter der Führung der Mittelklassen wieder sich selber und seiner Rolle zugewiesen werden, jene der ehrlichen und gerecht bezahlten Arbeit und der harmonischen Warenzirkulation. Es ist im Moment die einzig denkbare Art und Weise der Krisenbewältigung, ausser die Regierung Macrons packt diese autoritäre Wende auf eigene Faust an.

Um das zu verhindern, wird es nötig sein, die Unordnung weiterzuführen. Das Moment des städtischen Krawalls ist in sich selbst eine Grenze dessen, was momentan geschieht: Historisch ist er die Antwort auf zwei Modalitäten, entweder die Machtergreifung oder Konzessionen vom Staat. Doch es ist nicht 1917, eine Machtergreifung zur Verwirklichung eines sozialistischen Programms ist nicht konzipierbar, und es ist nicht 1968, es wird kein Abkommen von Grenelle geben. Die Beschränkung auf den städtischen Krawall ist gleichbedeutend mit jener auf das noch politische in der Bewegung. Aber wenn das, was sich diesen Samstag in Paris und überall in Frankreich manifestiert hat, wieder in den Ring steigt, imitiert wird und sich tatsächlich zum Ziel setzt, das „Land zu blockieren“, d.h. sich dessen zu bemächtigen, und davon ausgehend über seine Zukunft zu entscheiden, dann wird man sich den Übergang vom Krawall oder der Erhebung zur Revolution vorstellen können. Doch niemand kann sagen, welche Richtung das gegenwärtige Geschehen nehmen wird, dafür geht alles viel zu schnell, eines der besten Anzeichen für den hier hervorgebrachten revolutionären Inhalt. Diese Bewegung, da Klassenkampf, trägt alles, was eine kommunistische Revolution, ihre Grenzen, ihr unvorhersehbarer Charakter heutzutage sein können: Um jedoch wirklich dorthin zu gelangen, müssen wahrscheinlich noch viele jener Dinge brennen, welche zwischen uns stehen, seien das Autos oder gesellschaftliche Beziehungen.

PS: Als Antwort auf einige Kritiken und Fragen rund um diesen Text muss präzisiert werden, dass er als unmittelbarer Diskussionsbeitrag aus der Hitze des Gefechts betrachtet werden muss. Wenn auch einige durch seinen „optimistischen“ Ton (diese Gelegenheit bietet sich nicht jeden Tag) überrascht sein mögen, so soll doch auch darauf hingewiesen werden, dass dieser Optimismus durch die Perspektive der Rückkehr zur Ordnung relativiert wird, welche ebenfalls von dieser Bewegung getragen wird. Alle Fragen des vorhergehenden Texts können so immer noch gestellt werden. Es ist wesentlich, scharfsinnig zu bleiben, doch es ist ebenfalls wesentlich, sich bewusst zu sein, dass der Klassenkampf kein langer, ruhiger Fluss ist und auch keine gut markierte Landepiste für die Bomber der „schweren“ Theorie. Was im Verlauf eines Kampfes gemacht und gelöst wird, geht schneller als unsere Analysefähigkeiten und auch wenn sich das, was sich am 1. Dezember geöffnet hat, auch schnell wieder schliesst, war es notwendig, darüber Bericht zu erstatten, das gleiche gilt für den ganzen Rest. Nichts ist in Stein gemeisselt: Es gibt Konjunktur, „Ausgliederung“ und durchaus auch Beliebigkeit in den Kämpfen. Sagen wir, dass dieser Text Teil davon ist und dazu steht.

AC

November 2018

Übersetzt aus dem Französischen von Kommunisierung.net..

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Ergänzungen

Schön, hier mal einen gut formulierten und fehlerfreien Text zu lesen!

"gut markierte Landepiste für die Bomber der schweren Theorie" - das nehm ich mit nach Hause. Chapeau!