Über den Tod zweier Gefangener im Knast von Seysses und die darauf folgenden Unruhen in den “Cités” von Toulouse

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In der Nacht vom 14. auf den 15. April ist ein Gefangener in der Haftanstalt von Seysses, nahe Toulouse, ums Leben gekommen. Die Gefängnisverwaltung spricht von einem Selbstmord. Die Häftlinge der Anstalt sind jedoch davon überzeugt, dass J. aufgrund der Schläge, die ihm beigefügt wurden, gestorben ist. In dem nachfolgenden Communiqué erläutern sie, wie die Geschehnisse zustande kamen und begründen ihre Vermutungen. Ein weiterer Häftling wurde in derselben Nacht schwer verletzt aufgefunden. Er erlag seinen Verletzungen eine Woche später.

Als Reaktion auf den Tod von J. folgten 5 Nächte Unruhen in verschiedenen Vierteln von Toulouse. Auch wenn der unmittelbare Grund dieser Revolten der Tod von J. war, kann man natürlich wie so oft hier vom Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte, sprechen. Die Demütigungen und die alltägliche Gewalt seitens der Cops in den Vierteln am Stadtrand, den sogenannten “Cités”, und sicherlich auch die kürzlich gewalttätige Kontrolle und Verhaftung einer Frau, die sich geweigert hat ihr Niqab (Gesichtsschleier) auszuziehen, sind allesamt Gründe für diese Unruhen.

Es wird von über 60 abgebrannten Autos, etlichen Barrikaden und einer Vielzahl von Hinterhalten auf die anrückenden Bullen sowie Feuerwehr gesprochen. In den ersten zwei Nächten konnte man fast überall in der Stadt das Tränengas riechen. Zwei Hubschrauber mit Wärmebildkamera und Scheinwerfer überflogen in mehreren Nächten die zwei Hauptbrennpunkte der Stadt, die Viertel Reynerie und Mirail. Im Viertel Mirails befindet sich zudem die Universität Jean Jaures, die seit Anfang März blockiert und besetzt ist. In der Nacht vom 16. auf den 17. April griff die Ordnungsmacht aufgrund der Vermutung, dass von der Uni Unterstützung für die Krawalle ausging, die Universität selber an und verhaftete drei Personen vor dem Unigelände. In der Nacht vom 17. auf den 18. wurden dort zwei weitere Personen verhaftet. Die Presse ereiferte sich unmittelbar und schreibt in hetzerischem Ton, dass die Linksradikalen sich den Randalierenden aus den Vierteln angeschlossen haben. Es wird von der “Coalition des Milieus Anti Police” (Koalition von Anti-Polizei-Milieus) gesprochen. Als Akronym macht das COMAP und in diesem Sinne sagen wir: “Lang lebe die COMAP”.

Gleichzeitig wurde in der Presse berichtet, dass die Gründe für die Unruhe unklar seien. Es könnten die, laut Presse “falschen”, Behauptungen über den Mord eines Häftlings in Seysses sein, oder die Verhaftung einer Frau, die sich geweigert hat ihr Niqab auszuziehen. Wahrscheinlicher sei jedoch, so die Lokalzeitungen, dass die Unruhen von den Drogenbossen der Viertel orchestriert seien, da diese in den letzten Monaten etliche Rückschläge seitens der Cops einbüssen mussten. Dabei wurde mit Erstaunen geäussert, dass sich die Linksradikalen mit den Drogenbossen vereinigen. Ende der Woche dann waren an die 30 Verhaftungen auszumachen, darunter etwa 10 Minderjährige. Der Prozess wurde ihnen am Freitag den 20. April im Schnellverfahren gemacht. Die Verurteilungen gehen von 1 Jahr, davon 6 Monate auf Bewährung, über 6 Monate, davon 3 auf Bewährung für’s Schmeissen von einem Stein, bis hin zu dem Freispruch von zwei der sogenannten Linksradikalen aufgrund von mangelnden Beweisen. Natürlich froh darüber, dass zwei Leute für welche die Staatsanwaltschaft 1 Jahr, davon 6 Monate Bewährung, gefordert hat, schlussentlich vom Richter freigesprochen wurden, wissen wir aber auch, dass dieser Freispruch nur aufgrund der gesellschaftlich besser angesehenen sozialen Herkunft der zwei Genossen/Innen möglich war. Mehrere Leute haben das Schnellverfahren nicht akzeptiert und werden somit Ende Mai vor Gericht stehen. Einige unter ihnen bleiben bis dahin in Untersuchungshaft, andere wurden bis zum Prozess freigelassen.

Wie im Communiquée der Gefangenen in Seysses zu entnehmen ist, verweigerten in der Haftanstalt an die 200 Häftlinge zweimal die Rückkehr in die Zellen und ein Transparent wurde im Innenhof ausgebreitet. Spezialeinheiten intervenierten an beiden Tagen.

Eine Solidemo am Freitag Abend den 20.April wurde mit großem Polizeiaufgebot verhindert und die Verbreitung des Communiquées wurde vom Kanzleigericht verboten. Die Presse unterstützt weiterhin die These des Selbstmordes und dass die Unruhen und Revolten von den Drogenbossen befohlen wurden, um sich gegen die Repressalien der letzten Monate zu rächen. Die Familie der Angehörigen wird, wie üblich in solchen Fällen, von den Behörden massiv unter Druck gesetzt. Alles nimmt seinen gewohnten Lauf.

Hartnäckige Solidarität mit den Revoltierenden, bis der Lauf der Dinge aus dem Ruder läuft...


 

Wieder ein Toter in der Isolationshaft

Communiqué der Insassen der Gefangenenanstalt in Seysses ( 25 km von Toulouse )

Gefängnis von Seysses, 19. April 2018

J. war 26 Jahre alt. Letzten Samstag war er in Isoloationshaft, in einer “Disziplinarzelle”, des Gefängnisses von Seysses. Er ist gestorben. Die Medien verbreiten eine Version der Ereignisse, eine einzige: die der Gefängniswärter.
Aber wir leben in diesem Gefängnis und wir sind weder taub noch stumm. Wir wissen, dass sein Tod durch die Gewalt der Gefängniswärter in der Isolationshaft verursacht wurde. Nein, J. hat sich nicht umgebracht.

Die Tatsache, dass sich hunderte Gefangene während dieser Woche mehrmals geweigert haben wieder in ihre Zellen zurückzukehren, liegt daran, dass das hier unser einziges Mittel ist, um zu protestieren. J. ist in der Isolationshaft ums Leben gekommen, und die Autopsie hätte ergeben, dass er sich umgebracht hat. Aber wir wissen, dass das nicht der Fall ist, da es Zeugen gibt, die in den umliegenden Zellen waren und mitgehört haben, wie er zusammengeschlagen wurde. Es ist die Folge dieser Schläge, die J. Samstag das Leben gekostet hat. Glaubt ihr, dass wir 200 Gefangene seien, die sich weigern wieder in die Zellen zurückzukehren und ein Transparent im Innenhof ausbreiten, wenn wir nicht davon überzeugt wären, dass die Geschichte mit dem Selbstmord eine Lüge ist?

All jene die schon mal durch den Disziplinartrakt mussten, können die Erniedrigungen, die sie erleiden mussten, bezeugen, die rassistischen Beschimpfungen, das Bespucktwerden, die Befehle, die einem erteilt werden, als ob man weniger wert ist als ein Hund… Dort unten riskieren all jene, die sich wehren, so wie J. zu enden. Kein einziges Recht wird in dieser Isolationshaft gewahrt. Der Hofgang findet nur willkürlich statt, je nach gutem Willen der Wärter, in der Regel gar nicht. Der Zugang zu den Duschen ist uns verwehrt und es kommt vor, dass man 15 Tage ohne Duschen verbringen muss. Dasselbe gilt für den Zugang zu Feuer, um sich eine Zigarette anzuzünden: Maximal drei mal pro Tag und man muss sie regelrecht anflehen. Dort herrscht die Angst und für jeden von uns bedeutet die Isolationshaft ein regelrechter Abstieg in die Hölle.

Diesen Winter haben mehrere Gefangene die Isolationshaft ohne Matraze, ohne Decke und ohne Kleidung bei -5 Grad verbracht. Nur weil sie an die Gittern ihrer Zellen geschlagen haben, um nach Nahrung oder Feuer zu verlangen. Sie mussten nackt am Boden auf einem Kissen schlafen und das Essen wurde ihnen in bereits gebrauchtem Plastikgeschirr gebracht.

J. wurde von 5 oder 6 Wärtern während einer halben Stunde geschlagen. Danach herrschte eine grosse Stille und die Wärter haben angefangen untereinander zu diskutieren, sein Gewicht und seine Grösse abzuschätzend, um sich auf eine gemeinsame Version der Ereignisse zu einigen. Danach als Essenszeit war, haben sie seine Zelle geöffnet und so getan, als ob sie den Toten gerade erst entdeckten. Später hat dann der Rettungsdienst eingegriffen und hat versucht ihn zu reanimieren, aber vergeblich. Am nächsten Tag haben sie alle aus der Isolationshaft entlassen und niemand wurde verhört, weder der Chef der Sektion noch die Gendarmes. Das zeigt eindeutig, dass sie etwas zu verbergen haben, erzählt uns nicht das Gegenteil.

Einige von uns (über)leben in diesem Gefängnis von Seysses seit Jahren oder pendeln oft hin und her. Diese Situation ist nicht neu und es hat hier in den vergangenen Jahren andere „verdächtige Todesfälle“ gegeben. Wir haben schnell verstanden, dass unser Wort nichts gegen ihres zählt, aber wir wissen auch, dass viele draussen sich wundern oder schon hinter ihre kleine Maskerade gekommen sind. Die tötet.

Es ist sehr schwierig für uns, Beweise zu liefern für das, was wir hier sagen. Wir sind hier eingesperrt und jede Information die hier rausgeht, kann schwere Folgen für uns haben. Dennoch ist es wichtig, dass diese Informationen rausgehen, denn wir sind alle in Lebensgefahr. Die Wächter spielen hier in der Isolationshaft mit unseren Leben.

Es ist vielmehr als nur Erniedrigung; sie terrorisieren uns und was mit J. geschehen ist, könnte mit jedem von uns passieren.

Wir prangern hier auch die Einschüchterungsversuche gegen die Gefangenen an, die Zeugen der Ereignisse waren. Die unfreiwilligen Zeugen der Geschehnisse am letzten Samstag sind grossem psychologischen Druck ausgesetzt und sie riskieren ganz klar verlegt zu werden. Alles scheint vorbereitet zu sein, um sie ans Limit zu bringen. Fünf von uns wurden sogar schon nach dem Blockieren des Hofgangs verlegt und befinden sich nun in Lille, Bordeaux, Sedequin… Sie wurden als „Rädelsführer“ betrachtet und konnten vor dem Transfer nicht einmal ihre persönlichen Sachen mitnehmen. So wird mittlerweile im Gefängnis für Ordnung gesorgt, indem man uns mit einer disziplinären Verlegung, die uns noch weiter von unseren Familien und Freunden entfernt, droht.

Wir verlangen, dass die Gefängnisverwaltung von Seysses unverzüglich dieses Team von Wächtern ersetzt, es ist offensichtlich, dass es das erste ist, was gemacht werden muss. Wir Gefangenen nennen das kleine Team von sadistischen Wärtern der Isolationshaft “das Todeschwadron”.

Wir sind hier Zuschauer der menschlichen Verzweiflung und wir wissen alle, dass J. jeder von uns hätte sein können. Er wurde zu Tode geschlagen, weil er gegen eine Tür getreten hat: Er hielt es nicht mehr aus zu warten, in diesem kleinen “Wartesaal” ohne Fenster. Er wollte nur wieder zurück in seine Zelle. Sie sind gekommen und sie haben ihn gebrochen.

Man heilt das eine Übel nicht durch ein grösseres. Wir wollen, dass all das aufhört.
Dass derjenige, der dazu verurteilt wird in die Isolationshaft zu gehen, immerhin seine Würde behalten kann und dass seine Grundrechte eingehalten werden.

Wir wollen, dass die Wahrheit über den Tod von J. ans Tageslicht dringt und dass ein solches Horrorszenario sich nicht wieder reproduziert, weder hier noch anderswo.

Wir nehmen Anteil an dem Kummer der Familie und sind bereit auszusagen, falls sie es wünschen.

Einige Gefangene der Haftanstalt in Seysses

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