Eine Gefährtin vor Gericht – Bericht vom 2. Prozesstag

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Am 28. Februar begann der 2. Prozesstag gegen Thunfisch um 9:30 Uhr. Im Gegensatz zum 1. Prozesstag fand dieser nun nicht unter verschärften Sicherheitsvorkehrungen statt. Insgesamt wurden 8 Zeug*innen gehört, dementsprechend endete der Prozesstag gegen 15:00. Einige solidarische Menschen fanden sich auch ein, der Zuschauer*innenraum war gut gefüllt. Am 04.03. und auch am 22.03. wird weiter verhandelt und vermutlich auch der Prozess zu Ende geführt werden.

Der Handel

Der Prozesstag begann erneut mit einem Handelsgespräch zur Rücknahme der Berufung.
Die Verteidigung betonte, dass es nicht zur Verhandlung kommen müsste, da die Erinnerungen der Zeug*innen kaum ausreichen wären und es sich um einen minder schweren Fall handle. Für die Staatsanwaltschaft kam eine Rücknahme der Berufung jedoch nur in Frage, wenn auch die Verteidigung ihre Berufung zurückzieht und das Urteil der ersten Instanz akzeptierten würde, welches schon „sehr milde“ sei. Da es nicht im Interesse der Verteidigung liegt, ein vor fünf Jahren gesprochenes Urteil rechtskräftig werden zu lassen zog sie die Berufung nicht zurück und brachte stattdessen einen Vorschlag. Es müsse nicht zur Verhandlung kommen, da die Erinnerungen der Zeug*innen kaum ausreichen wären. Sie bot also an, dass die Richter sofort eine Strafe von 4 Monate auf Bewährung aussprechen, welche aufgrund Thunfischs Zeit in U-Haft als schon verbüßt angesehen werden sollten. Die Richter haben dies aus praktischen, juristischen Gründen abgelehnt und die Verhandlung ging also weiter.

Die Zeug*innen

Ramirez-Acosta, 31, von Beruf Polizeibeamter, dienstansässig in Schulzendorf war der Erste. Er weist sich als vermeintlicher Geschädigter von Thunfisch aus. Er ist der Meinung, sie habe sich nach der Auflösung vor der Warschauer Brücke während dortiger Auseinandersetzungen an seinen Oberschenkel “festgeklammert” als sie unter ihm auf dem Boden saß. Auch nachdem er Druckpunkte in ihrem Gesicht ausübte, die ihr Schmerzen verursachten, habe sie die “Krallbewegung” am Oberschenkel noch verschärft. Dadurch habe er mehrere Blutergüsse erlitten, die er genauso wie den vermeintlichen Tathergang so dramatisch schilderte, dass das Publikum lachen musste. Die Verletzungen wären jedoch folgenlos abgeheilt, wie lange dies gedauert hätte könne er gar nicht sagen. Trotz der Dramatisierung erfolgte keine medizinische Untersuchung und ein Attest dafür existiert nicht, was für eine Anklage wegen Körperverletzung zu erwarten wäre. Insgesamt wäre es auch eine dynamische Lage gewesen, eine “unüberschaubare Menschenmenge”. Auch wenn er keine Personenbeschreibung geben konnte, so meinte er doch, in dieser Situation schon erkannt zu haben, dass es sich um eine weibliche Person handelte. Den Namen habe er im Nachhinein vom LKA erfahren. Ramirez-Acosta hat sich durch seine dramatische Erscheinung und seiner beängstigende Empathielosigkeit ausgezeichnet. Durch seinen Auftreten hat er bei Menschen im Publikum einen sadistischen Eindruck erweckt; Als hätte er Spaß daran, Menschen weh zu tun und zu verletzten.
Pit Frederik Weber, 34, dienstansässig in Berlin war der Nächste. Damals in der 25. EHu aktiv. Er habe die Angeklagte wahrgenommen, als sie bei seinem Kollegen Ramirez-Acosta auf dem Boden lag. Er scheint sich bei linksunten.indymedia zu informieren und daraus Schlussfolgerungen auf “Szenenamen” von Angeklagten ziehen zu können. Die Zuordnung der Angeklagten zu den Situation erfolgte im Nachgang beim gemeinsamen Videoschauen am Tempelhofer Damm, rund 2 Monate nach der Demo, nämlich am 14. September 2016. Dort waren alle Tathandlungen schon von der EG Video gut erkennbar mit Pfeilen und Kreisen markiert, sodass all die Geschädigten sich anhand der Videos die passenden herausgesuchten Angeklagten bestätigen durften. Generell schien es ihm aber schwer festzuhalten, wie viele “Männer” oder “Frauen” Teil der Menschenmenge waren: “waren viele vermummt, kann man ja schlecht Geschlechtszuschreibung treffen” und “manchen Menschen sind divers, nicht einem Gender zuzuordnen”. Er hat sich, sowie Ramirez-Acosta auch, beschwert, von dem Gefährten, der zusammen mit Thunfisch festgenommen wurde, im Genitalbereich getreten worden zu sein. Im Gegensatz zu all seinen anderen Kollegen war er außerdem der Meinung, er käme nicht mehr an seine zeugenschaftliche Äußerung ran, da diese beim LKA verschlossen liegen würde. Er hat uns zudem ein Paar interessante Informationen über polizeiliche Strategien erzählt, zum Beispiel, dass sein Zug ohne konkrete Absicht in die Menschenmenge gestürmt ist. Auf der Frage des Richters, ob es einfach darum ging, „herein zu gehen und zu sehen was passiert“, antwortete er “ja.”. Es ging auch um “durchmengen” und “durchmischen”. Später sagte er dazu, dass eine geringere Distanz zwischen Polizeilinie und Demo das Treffen durch Flaschen- und Steinwürfe erschwert.
Darauf folgte Casetou, 31, Berlin. Fälschlicherweise taucht er auch in unserem ersten Prozessbericht auf, das wird dann wohl beim 1. Prozesstag jemand Anders gewesen sein (an alle aufmerksam solidarischen Leser*innen; sorry dafür). So eine Gewalt wie damals hätte er nicht wieder erlebt. Er nahm Thunfisch letztendlich fest und ist verantwortlich für die Anklage des Widerstands. Er weiß nicht mehr wie lange diese Widerstandshandlung eigentlich ging, spricht aber von kurzzeitig versteiften Armen. Beim Loslaufen ginge es aber gut. Thunfisch beschreibt er als “toughe Person”. Er behauptete Thunfisch und er hätten sich bei der Festnahme relativ lange auf französich unterhalten, erinnert sich aber überhaupt nicht worüber. Jedoch tropft ihm der Kartoffelbrei aus dem Mund während er versucht das einzige französische Wort, das wir bis jetzt von ihm kennen zu sagen: “Debout”, “Aufstehen”.
Nach der Mittagspause folgte die Vernehmung von Schorratz, 25, Niko Hoffmann, 28, Daniel Freyer, 46 und Frau Boeck, 33, alle in Berlin. Sie waren alle in irgendeiner Weise an der Festnahme von Thunfisch sowie einer zweiten Person, welche gleichzeitig festgenommen wurde, beteiligt. Im Gedächtnis geblieben scheinen ein Zigarettenstummel in der Hand der Angeklagten, jedoch auch, dass Thunfisch zur Festnahme auf den Boden gelegt wurde. Außerdem betonen alle außer Frau Boeck, wie sehr ihnen die Demo aufgrund ihrer sehr gewalttätigen Grundstimmung noch im Gedächtnis sei. Niko Hoffmann erinnere sich daran dass die Festnahme nicht so schnell ging, “dass die Person schon zum Abtransport bereit” gewesen sei. An einen Widerstand kann er sich nicht erinnern oder habe ihn nicht mitbekommen. Der Zugführer Freyer hat indes nur das Umfeld beobachtet, war auch erst an den beiden Personen vorbeigegangen, um sie nicht vor der anstehenden Festnahme zu warnen und stand danach mit dem Rücken zum Geschehen. Er meinte aber im Protokoll, er hätte es mitbekommen bzw. gehört, wenn es zu schwerem Widerstand gekommen wäre. Boeck war für die Durchsuchung zuständig, kann sich aber eigentlich an nichts erinnern: “da war ‘ne Demo, da hört‘s auch schon auf”, “alles schwammig”. Dementsprechend erfand sie nichts und ihre Vernehmung war kurz.

TRIGGER WARNING

Dieser ganze Teil, wo es um die Festnahme ging, war sehr unangenehm, da diese widerliche Gruppe von Bullen die Situation so schilderte, als wäre unsere Gefährtin ein toter Körper oder ein passives, bewusstloses Objekt, was hin und her bewegt und umgedreht werden kann. Der Ekel war ziemlich groß, als Casetou über unsere Gefährtin und ihre Armbewegungen sagte: “Die Arme wollten es nicht, wie ich es wollte”. Diese Art selbstverständlich eine Person derart zu objektivieren und über ihren Körper zu verfügen hat viele von uns an sexualisierte Gewalt erinnert.

Der letzte Zeuge tat sich wiederum mit langen Erzählungen hervor. Andreas Vater, 45, Berlin. Er überraschte durch eine extremst detaillierte, genaue Schilderung von Taten, die bereits fünfeinhalb Jahre zurückliegen. Er konnte zum Beispiel jede vermeintliche Bewegung von der Menschenmenge und der verschiedenen Polizeizüge beschreiben, sowie jedes vermeintliche Kleidungsstück von Thunfisch in Details. Er behauptete, er traf die Angeklagte bei einer Vorkontrolle und könne sich deswegen noch an sie erinnern. Seine Erzählung betraf eine ausführliche Schilderung der Gesamtsituation rund um den Auflösungspunkt vor der Warschauer Brücke. Da er darauf aufbauend damals auch eine Anzeige gegen Unbekannt stellte und generell eine Beschreibung der Situation lieferte, wurde er vom LKA 523 (Frau Thörmann) eingeladen, um sich mit der EG Video in mehreren Terminen und mit wechselnden Kolleg*innen die Videoaufnahmen anzuschauen und seine Wahrnehmung mit den entsprechenden Bildern abzugleichen. Damit hätte er nach eigener Angabe mehr als 10 Stunden verbracht. Er sprach von Fronten, komplett eingehakten Reihen, in deren Menschenmenge sich Thunfisch befunden haben soll. Eigentlich wollte er sie auch aufgrund von Vermummung festnehmen, da habe ihm aber der Zug neben ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht, da sie auf die Menschenmenge zu stürmten und sich so alles auflöste.
Insgesamt konnte mensch bemerken, wie unterschiedlich die Aussagen der Bullen waren. Je jünger sie waren, desto ungenauer und konfuser die Aussage. Am Ende der Kette Andreas Vater, der Meister der Gerichts-Storyteller*innen, wahrscheinlich durch eine lange Erfahrung des Konstruierens und der Übung. Die Ausnahme war die erfrischend ehrliche Bullin Frau Boeck die gar nicht mehr wusste.

Und so geht‘s weiter
Wie zu Beginn erwähnt, sollen nun noch Frau Thörmann vom LKA 523 und dann zuletzt auch Herr Peetsch (2. TaBo) gehört werden. Danach will das Gericht sich das Video der Festnahme anschauen und auch die – genannten – vorbearbeiteten Videos sollen doch noch mal angeschaut werden, auch wenn ihr Aussagegehalt fragwürdig ist. Wie geplant soll es am 4. Prozesstag zum Abschluss der Verhandlung kommen.
Der dritte Prozesstag findet am 04.03. statt. Der vierte Prozesstag am 22.03.
Voraussichtlich werden beide Verhandlungstage im Raum 3/739, ab 09:30 Uhr stattfinden.
Wie bisher ist solidarische Prozessbegleitung sehr gern gesehen. Wir bekräftigen unsere Solidarität mit der Gefährtin und den Willen unsere kämpferische Gegenwart mit unserer rebellischen Vergangenheit zu verbinden!

Debrief vom 2. Prozesstag am 28.02.

Hier zusätzliche Infos:
-Soliblog freethunfisch: https://freethunfisch.blackblogs.org/
-der Bericht des 1. Prozesstags der 2. Instanz: https://de.indymedia.org/node/178542
-der Aufruf zur 2. Instanz: https://kontrapolis.info/6291/

Kommt auch morgen um 11 Uhr zu einem Prozess einer Gefährtin anlässlich des 1. Mai 2020 - die Verfahren finden teilweise parallel statt und wir können uns gegenseitig supporten: https://kontrapolis.info/6393/

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