Eine Gefährtin vor Gericht – Bericht vom 1. Prozesstag:
Am 21. Februar 2022 begann vor dem Landgericht Berlin der Berufungsprozess gegen eine Gefährtin, die im Rahmen der Rigaerdemo vom 9. Juli 2016 festgenommen wurde und danach mehrere Monate in U-Haft saß, bevor sie schließlich 2017 zu einer Freiheitsstrafe von 7 Monaten und 1 Woche auf Bewährung (u.a. wegen Landfriedensbruchs) verurteilt wurde. Wie schon in der ersten Instanz fand der Prozess unter verschärften Sicherheitsvorkehrungen statt, d.h. dass die Zuschauer‘innen einzeln durchsucht und ihre Ausweisdokumente kopiert wurden.
Auch wenn er in Richtung der Staatsanwaltschaft zu Bedenken gab, die Vorstellung über ein „angemessenes Strafmaß“ noch einmal zu überprüfen bzw. die Berufung zurück zu ziehen, können wir nicht davon ausgehen, dass er selbst zur Besinnung kommen und den Prozess als das begreifen wird was er ist: absurd.
Ein Rückblick
Der Richter begann den Prozess mit einer Rückschau auf die angeklagten und vom Amtsgericht verurteilten Taten und dem Verlesen des Urteils aus der ersten Instanz. Ebenso gab er in Richtung der Staatsanwaltschaft zu Bedenken, die Vorstellung über ein „angemessenes Strafmaß“ noch einmal zu überprüfen bzw. die Berufung auch aufgrund der Länge des Verfahrens zurück zu ziehen. Die Staatsanwaltschaft verdeutlichte jedoch ihre Rolle als politische und eben nicht „neutralste Behörde der Welt“ und erinnerte daran, dass es sich bei einem „Angriff auf Polizeibeamte“ eben um einen allgemeinen „Angriff auf den Rechtsstaat“ handle und das nicht einfach so hingenommen werden könne. Die Anwältin der Angeklagten wies daraufhin ihrerseits auf die Absurdität des Prozesses hin, der obwohl die Akte dem Gericht seit 2017 vorliege, erst jetzt verhandelt werde. Gleichzeitig die Angeklagte in ihrer Lebensführung aber extrem eingeschränkt wurde. Danach wurde der Prozess bis um 13 Uhr unterbrochen.
Die „Beweisaufnahme“ begann danach mit dem Anschauen von vier Videos der Bullen, die ausschließlich darauf abzielten das allgemeine Demogeschehen und die herrschende Atmosphäre zu verdeutlichen. Insgesamt 45min verbrachten die Anwesenden damit, die Demo aus dem Juli 2016 Revue passieren zu lassen. Dabei wurde nicht klar, inwiefern die Anklage gegen die Gefährtin mit diesen Videos gestüzt werden sollte, zeigten sie doch vor allem Bullengewalt gegenüber Demonstrant‘innen, als anderes.
Die Zeug‘innen
Anschließend hatten die Zuschauer‘innen das Glück Tatbeobachterin Melissa Haase (ehemals im Berliner Dienst, heute in Köln), nach ihren bizarren Auftritten 2016 und 2017, dieses mal unverkleidet zu lauschen. So erzählte sie, als wäre es gestern, einmal mehr all das, was sie 2016 in ihrer Vernehmung zu Protokoll gegeben hatte. Wie gewalttätig die Demo gewesen sei, wie gut sie an der Gefährtin drangeblieben wäre und wie sie dann schlussendlich die Festnahme initiiert hätte. Einen gewissen Stolz konnte sie wie schon vor 6 Jahren auch dieses mal nicht verbergen. Auffällig war wie gut sie sich „erinnern“ konnte, auch wenn sie zugeben musste, dass sie sich an keine andere Straftat ihrer Laufbahn so gut erinnern kann, wie die, die der Gefährtin angelastet werden soll. Zu ihrer eigenen Enttäuschung hatten aber weder Richter noch Staatsanwaltschaft Interesse an ihren Lagebildern, die sie 2016 einlaminiert und als Stütze ihrer Aussagen für das Gericht mitgebracht hatte. Im selben Tenor berichtete Bulle Casetou (BuPo Blumberg) im Anschluss von seinem Einsatz (der Sicherung einer Festnahme an der Warschauer Brücke, der, außer dass er auf der gleichen Demo stattfand, nun wirklich garnichts mit der Gefährtin zu tun hatte). Verbindendes Element von ihm und Haase war mit Sicherheit, dass beide über scheinbar grenzenlose Erinnerungskapazitäten verfügen, die es ihnen erlauben Geschehnisse, die 6 Jahre zurückliegen in all ihren Details auf Nachfrage wiedergeben zu können. Als wäre es der einzige Einsatz in ihrer bisherigen Laufbahn gewesen. Als letzter Zeuge an diesem Prozesstag kam Bulle Friedel (BuPo Blumberg), der anders als seine Vorredner‘innen nicht über eine Supergedächtnis zu verfügen scheint. So erzählte er erst, dass er die Gefährtin und eine weitere Person beim „Steinewerfen“ gesehen habe. Auf Vorhalt der Verteidigung, dass er diese Beobachtung in keiner seiner Vernehmungen zu Protokoll und auch in der ersten Instanz nicht geschildert habe, ruderte er zurück, verwies auf sein Vernehmungsprotokoll und gab zu, dass er sich eigentlich an nichts erinnere. Nach anfänglichem Interesse an seinen Aussagen musste auch der Richter einsehen, dass Fragen nach seiner Erinnerung sinnlos waren. Dass weder Haase noch Casetou wirklich Erinnerungen, sondern vielmehr ihre Protokolle schilderten, schien ihm aber absurderweise verborgen zu bleiben.
Der Prozess geht weiter:
Am Montag, den 28. Februar um 9:30 geht der Berufungsprozess gegen die Gefährtin vor dem Landgericht (Raum B218; Eingang Wilsnacker Straße) weiter. Wie schon am ersten Prozesstag ist solidarische Prozessbegleitung sehr gern gesehen. Wir bekräftigen unsere Solidarität mit der Gefährtin und den Willen unsere kämpferische Gegenwart mit unserer rebellischen Vergangenheit zu verbinden!
Thunfischs Soligruppe (Rigaer94 und Andere) + Thunfisch
Treffen zum Debrief (Bericht vom Prozesstag) nach jedem Prozesstag in der Kadterschmiede :
28.02. Kneipe ab 20h and Debrief um 21h
04.03. Kneipe ab 19h and Debrief um 20h