Gegen die Verteidigung der Friedhofsruhe

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Eine Silvesterparty am Reumannplatz (Wien) lief etwas aus dem Ruder. Durch Böller gingen ein Mistkübel, ein Kaugummiautomat und eine Sitzbank kaputt. Das Chaos wurde von Einzelnen genutzt, um die Scheiben eines Juweliers einen Stresstest zu unterziehen.Die eintreffende Polizei wurde nicht gerade freundlich begrüßt.

Diese Ereignisse hätten in de vergangenen Jahren kaum Beachtung gefunden und wären unter „Ferner Liefen“ abgehandelt worden. Dieses Jahr wurden sie zu einem Staatsereignis, die die Titelseiten der Zeitungen füllt. Die Polizei lädt in der Folge zu einem Sicherheitsgipfel, alle Parteien (mit Ausnahm der Grünen, die gar nichts sagen) fordern mehr Abschiebungen, mehr Polizei, ein Ende der Parallelgesellschaft,… Selbst der ach so liberale und seriöse Standard schreibt von einem „Mob“ von Menschen mit migrantischen Hintergrund, von Böllern mit „doppelter Sprengkraft einer scharfen Handgranate“, und von einem „zu einem Rammbock umfunktionierten Mistkübel“. Als Sahnehäubchen wird ein Rauscher-Kommentar nachgeschoben, in dem er eine besoffene (ok, das ist jetzt meine Interpretation) Party in einen Riot mit „organisierten Charakter“ verwandelt.

Das sagt wenig über die ereignisse vor Ort, als vielmehr über das Gefühlsleben der Schreiebenden und zustimmeneden Lesenden aus. Wir leben in einer Zeit, in der die sozialen Spannungen zum Greifen nah sind. Doch sie werden ignoriert und tabuisiert. Stattdessen wird das Phantasma der „Insel der Seligen“, in der upgedateten Version „Rückkehr zur Normalität“ genannt, beschworen. Dieses Selbstbild als Insel war immer schon eine Lüge, nur der teilweise soziale Ausgleich war real. Doch auch der ging in den letzten zwanzig Jahren mehr und mehr den Bach runter. Die Pandemie beschleunigt das nur, und machte sie für die, die es sehen wollen, sichtbarer. Für die, die es nicht sehen wollen, wird die Verteidigung der Friedhofsruhe immer wichtiger, die rassistischen und klassistischen Töne dabei immer lauter und aggressiver.

Der Grund für die Aufregung ist, dass angeblich „Allahu akbar“ gerufen worden ist. Außerdem fand er in einem proletarischen Bezirk mit hohen Anteil von Menschen, die (oder deren Eltern) dort nicht geboren sind. Diese Mischung reicht, um die Verteidiger der Friedhofsruhe zum Ausrasten zu bringen, Sie versuchen, das Fallen ihrer liberalen Masken zu kaschieren, indem sie ihre Illiberalität auf die Anderen, auf die Silvesterfeiernden projizieren. Das sagt wenig über die Party aus, offenbart aber die Angst auf der Insel der Seligen; Die Angst, dass sich die Verlierer*innen des neoliberalen Kapitalismus, der auch Corona und Lockdown bestimmt, sich wehren könnten, das eigene, behagliche Leben im Falschen bedrohen könnten.

Es wird Zeit für eine bittere Wahrheit: Die Ängste sind berechtigt. Es wird wird wieder knallen. Und es wird nicht bei Party-Krawallen bleiben. Es gibt nichts, was sie dagegen tun könnt. Denn die Insel der Seligen ist längst schon untergegangen, der Friedhof und seine Ruhe schon entweiht. Dafür brauchte es keine Party mit Mini-Randalen und auch keine Pandemie. Das war vorher schon so. Deswegen wird es auch keine Rückkehr zur alten Normalität geben.

Für uns, die sich den Kampf für eine bessere Welt auf die Fahnen geheftet haben, wird es aber zeit, uns zu entscheiden: Sollen wir unseren Fokus weiterhin auf die untergehende Welt und ihre Verteidiger*innen richten, die ihre Untergang noch nicht wahr haben wollen, oder sollen wir unsere Energie dazu nutzen, mit (oder auch gegen) jene anderen Agent*innen des Wandels zu streiten, wie der Friedhofsruhe am besten zu stören,wie eine neue Welt ausschauen könnte. Der Platz dazwischen, die Möglichkeit eines dritten Weges, wird jeden Tag geringer.

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