Elefant im Raum

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Joe Biden hat nach aller Voraussicht die Präsidentschaftswahlen in den USA gewonnen. Die Liberalen jubeln und sehen den Elefanten im Raum nicht: Das Zentrum hält nicht mehr, Trump bleibt stark. Linke müssen für populare Interessen kämpfen – gegen Republikaner wie Demokraten.

In der letzten Woche habe ich in jeder freien Minute die Präsidentschaftswahlen in den USA verfolgt – und zwar bewusst über CNN Live. Ich wollte genauer wissen, wie eines der liberalen Leitmedien des Landes die Vorgänge interpretiert. Um es vorwegzunehmen: Es war episch, es war theatral – es war ganz viel heiße Luft und Ideologie.

Van Jones, ehemaliger Berater von Barack Obama, der Trumps Wahlsieg von 2016 als „whitelash“ bezeichnet hatte, brach live in Tränen aus, als CNN am Samstagabend europäischer Uhrzeit Joe Biden zum Sieger kürte. Sidenote: Vor wenigen Wochen hatte er Donald Trump noch in den höchsten Tönen für dessen Einsatz für Schwarze gelobt. Endlich sei Frieden eingekehrt im Land und es gäbe Sicherheit für Schwarze, endlich wieder Respekt für Normen und Institutionen! Das war die Message, rauf- und runtergebetet auf CNN in Dauerschleife. Und schon bevor CNN Biden zum Sieger kürte, berauschten sich die Moderator*innen: Man habe es Biden nicht zugetraut, aber er sei der Präsidentschaftskandidat, der die meisten Stimmen in der Geschichte der USA bekommen habe; er sei es, der wegen seiner demütigen Arbeiterklassenvergangenheit mit den „folks“ in den swing states „connecten“ kann; seine moderate Stimme habe Zutrauen geschaffen und einen historischen Sieg über Unvernunft, Hass, Willkür, Rassismus und Polizeigewalt möglich gemacht. Inmitten des ganzen liberalen Theaters steht der berühmte Elefant im Raum, den jeder sieht, von dem jeder weiß, über den niemand reden möchte: Das Zentrum hält nicht und davon profitiert der falsche Prophet immer noch.

things fall apart; the centre cannot hold“

Der berühmte Vers aus William Butler Yeats The Second Coming aus dem Jahre 1919 wurde in den ersten sieben Monaten des Jahres 2016 so oft zitiert wie in den 30 Jahren zuvor nicht. Es war das Jahr des Brexits und von der Wahl Trumps zum 45. Präsidenten der USA. Yeats schrieb das Gedicht direkt nach dem Ersten Weltkrieg, inmitten der Spanischen Grippe und des Irischen Bürgerkrieges. Ein apokalyptischer Grundton wird begleitet von der religiösen Hoffnung auf die Wiederkunft Christi als Erlösung vom Leid. So ausgelutscht der Vers mittlerweile scheint: Sleater Kinneys neuestes Album The Center Won’t Hold (2019), offensichtlich in Anspielung auf Yeats’ Gedicht, hätte zu keinem besseren Zeitpunkt erscheinen können. 2020 bescherte uns mit Corona die schwerste ökonomische und gesundheitspolitische Krise des Kapitalismus seit 1929 – und 2020 zeigt uns, dass das neoliberal-technokratische Zentrum in den USA weiterhin nicht hält, trotz eines angesichts von Corona und auch sonst abgrundtief miserabel agierenden Wannabe-Fascho als Präsidenten. 50,8 Prozent aller abgegeben Stimmen gegen 47,8 Prozent – das bisherige Ergebnis – sind kaum ein Erdrutschsieg. Warum aber hält das Zentrum nicht?

Das ist schnell erklärt: Joe Biden ist einer der miesesten und menschenverachtendsten Präsidentschaftskandidaten der us-amerikanischen Geschichte, der als Senator und Vizepräsident über 40 Jahre dazu genutzt hat, eine Brücke zwischen Republikanern und Demokraten herzustellen und die Demokraten stramm rechts zu polen. Und zwar durchgehend. Er, der Ronald Reagan um seinen Erfolg im Rechtsruck (!) beneidete und ihn betreffs Kürzungen von staatlichen Sozialausgaben von rechts zu überholen suchte, war und ist einer der heftigsten Verteidiger und Praktiker von Sozialstaatsabbau, von Kriegstreiberei und von Polizeistaatlichkeit, die die politische Landschaft der USA hervorgebracht hat. Kamala Harris, seine angehende Vizepräsidenten, gibt sich da nicht viel. Im deutschsprachigen Raum mag Bidens Geschichte nicht so sehr bekannt sein; nicht zuletzt flossen aberwitzige Summen in Medien und Kampagnen, um ihn als den good ol’ descent moderate man, den Nachbarn von nebenan mit bescheidenem Arbeiterklassenhintergrund zu porträtieren. US-amerikanische Linke haben ihn allerdings schon längst entlarvt als das, was er ist: ein korrupter und willfähriger Erfüllungsgehilfe großkapitalistischer Interessen in den USA im Deckmantel einer „Mittelklassen-Ideologie“, ein Erzfeind der Arbeiter*innenklasse, einer der Hauptarchitekten des Rechtsrucks der Demokraten in den USA – und somit recht eigentlich ein perfekter Vertreter des Establishments der Demokratischen Partei. [1] Wenn us-amerikanische Linke von corporate Democrats reden, dann ist das nicht billige Polemik; es ist schlicht Realität: Das durchschnittliche Vermögeneines Demokratischen Kongressabgeordneten betrug 2012 sagenhafte 5,7 Millionen US-Dollar, das eines Demokratischen Senators gar über 13,5 Millionen US-Dollar.

Mit seiner Geschichte und Haltung steht Biden in perfekter Kontinuität von Hillary Clinton und dem Mainstream des Establishments der Demokratischen Partei. Clinton wurde Kandidatin der Demokratischen Partei nach der Enttäuschung der Obama-Jahre: Barack Obama konnte 2008 tatsächlich Millionen für sich begeistern und mobilisieren. Aber innerhalb von kurzer Zeit demobilisierte er selber die grassroots-Bewegung, die ihn ins Weiße Haus brachte, da er und das Demokratische Establishment befürchteten, die Leute nicht mehr unter ihre Kontrolle zu bekommen. Die Stimmung kippte, als sich herausstellte, dass auch Obama Politik für die Reichen machte; Polizei und Kriegseinsätze (diesmal mit Drohnen) gingen so weiter wie zuvor auch, während die Republikaner mit der Tea Party eine erfolgreiche Gegenbewegung organisierten, die Obama weitgehend blockieren konnte. Während Großbanken und General Motors mit aberwitzigen Milliardensummen gerettet wurden, fielen durchschnittliche Stundenlöhne und Haushaltseinkommen insbesondere in der Industrie und in Haushalten mit niedrigen Einkommen; fast alle der unter Obama während und nach der großen Weltwirtschaftskrise geschaffenen Jobs waren Teilzeitarbeitsplätze beziehungsweise vorübergehende Beschäftigungsverhältnisse und ein Großteil davon (75 Prozent) im Niedriglohnsektor angesiedelt. 38 Prozent aller Schwarzen Kinder litten während der Obama-Ära unter Hunger, während mittlerweile fast 14 Millionen Haushalte in den USA Schwierigkeiten dabei haben, ausreichend Nahrungsmittel für alle Familienmitglieder zu organisieren und immer noch fast 40 Prozent der gesamten US-Bevölkerung nicht ohne weiteres eine unerwartete Rechnung von 400 US-Dollar begleichen könnte. Clinton, die ebenfalls eine ziemlich miese Geschichte der Zusammenarbeit mit den Republikanern und eines glühenden Militarismus aufweist, hatte nur ein „Weiter so!“ anzubieten. Sie schaute verächtlich auf das „normale Fußvolk“ herab. Wir erinnern uns an den „basket of deplorables“ – ein Haufen erbärmlicher Typen, so bezeichnete sie Trump-Wähler*innen –, an die „children of the Great Recession, [...] living in their parents’ basement“ – als Kellerkinder sah sie die Anhänger*innen von Sanders an – und an den besonderen Platz in der Hölle für Frauen, die nicht Clinton wählten. Wir wissen auch, dass der Hauptgrund für das Wahlergebnis von 2016 nicht ein Erdrutsch-Sieg Trumps war – dessen Wahlergebnis war nur mäßig besser als dasjenige von Mitt Romney 2012. Sondern der Grund für Trumps Sieg waren hauptsächlich enttäuschte Wähler*innen der Demokratischen Partei, die nach der Obama-Enttäuschung und einer Clinton-Perspektive nicht an die Urnen gingen oder, partiell, zu Trump überliefen: 33 Prozent aller Wahlbezirke, die einmal oder zweimal Obama wählten, gingen 2016 über zu Trump; Clinton verlor zudem viele gewerkschaftlich organisierte Haushalte an Trump und vermutlich noch mehr an unabhängige Kandidat*innen. [2]

Biden erging es nicht viel anders: Er überzeugte mit seiner Vorgeschichte und einer eigenen Agenda so mäßig, dass exit polls zufolge ganze 70 Prozent der Biden-Wähler*innen diesen hauptsächlich wählten, um gegen seinen Kontrahenten (also Trump) zu stimmen und nicht wegen Biden selbst und/oder wegen seines Programms. Trotzdem und angesichts eines so unendlich miserablen Faschoclowns wie Trump fiel das Ergebnis für Biden durchwachsen aus. Das liberale Establishment sieht die zehn Millionen mehr an Stimmen, die Biden (nach bisherigen Ergebnissen) über Clinton hinaus gewinnen konnte, aber nicht den Elefanten im Raum: die knapp neun Millionen mehr Stimmen, die Trump zusätzlich gegenüber 2016 mobilisieren konnte. Biden konnte zwar die ganz große Mehrheit an Nicht-Weißen Stimmen auf sich vereinigen – dennoch setzte sich unter Biden die seit 2008 existierende Tendenz fort, nach der die Demokraten in kleinen Schritten ihre Zustimmung unter Nicht-Weißen, insbesondere den Hispanos und Schwarzen communities verlieren. Ganz entgegen der verballhornten These der emerging democratic majority, die da besagt, dass sich die demographischen Entwicklungen des Landes – kurz: mehr nicht-Weiße, Verstädterung, unabhängige Professionelle, non-Heteronormativität – quasi automatisch in Mehrheiten für die Demokraten niederschlagen werden. Und das mitten in einer Pandemie, in der Schwarze und Hispanos wegen ihrer Vulnerabilitäten und eines Präsidenten, der klassisch sozialdarwinistisch einen Scheiß auf Pandemiebekämpfung gibt, die meisten Jobverlusteund die höchsten Raten von Exzessmortalität erleiden mussten. Dagegen wieder der Elefant im Raum: Trump, der die höchsten Zustimmungswerte eines republikanischen Präsidentschaftskandidaten seit 1960 unter nicht-weißen Communities erlangen konnte, nämlich 25 Prozent. Da half es auch nicht Schwarzen ihre Identität abzusprechen, falls sie nicht Biden wählten.

Der falsche Prophet

Die hegemoniale neoliberale Ordnung in den USA ist offensichtlich in einer tiefen Krise, wie auch in so vielen anderen Staaten der westlichen Hemisphäre. Das zeigt sich bei den Präsidentschaftswahlen in den USA nicht nur im schlechten Abschneiden von Biden. Exit polls – die zwar mit Vorsicht zu genießen, aber die einzigen umfassenderen Daten sind, die wir bisher haben – zeigen eine große Vertrauenskrise in Bezug auf das politische System auf: Eine große Mehrheit der Befragten stimmt nicht mit den Positionen der jeweiligen Kandidaten überein (bei Biden 61 Prozent der Befragten, bei Trump 60 Prozent); eine noch größere Mehrheit ist der Meinung, dass sich das Land in eine schlechte Richtung entwickele (63 Prozent) und dass sich die Wirtschaft in einem schlechten Zustand befinde (60 Prozent). Noch mehr Stimmen gehen bei beiden Kandidaten davon aus, dass Korruption weiterhin ein Problem in den USA bleiben wird, falls der jeweilige Kandidat Präsident werde (Biden: 73 Prozent, Trump: 70 Prozent). Die Befragten sind weder mit dem Kongress, noch mit der Regierung zufrieden (jeweils 76 Prozent und 72 Prozent). Ganz zu schweigen davon, dass trotz angeblich „historisch“ hoher Wähler*innenbeteiligung die Nicht-Wähler*innen mit fast 40 Prozent immer noch die größte Partei blieben.

Trump profitierte, wie schon 2016, von der Krise der Ordnung. In Krisenzeiten, bei realer oder imaginierter Deklassierung und Existenzsorgen suchen Menschen nach etwas, an dem sie sich festhalten können, nach etwas, das ihnen Handlungsfähigkeit oder Sicherheit verspricht und das nicht vollständig diskreditiert ist. Autoritärer Populismus macht genau das: Er verspricht den Menschen durch exkludierende Formen von Solidarität und Gemeinschaft Handlungsfähigkeit und Sicherheit – auf Kosten anderer und auf Kosten von humaneren und empathischeren Formen des Miteinanders. Wie sehr dieses Angebot Früchte trägt, hängt von vielen Faktoren ab, unter anderem auch davon, ob die Menschen eine echte Alternative wahrnehmen können oder nicht.

Jetzt kommen die wirklich schlechten Nachrichten: Fast alle Trump-Wähler*innen (91 Prozent!) gaben bei exit polls an, dass sie der Meinung sind, dass Corona (so gut wie) vorbei ist, dass Trump die Coronakrise gut oder sehr gut gemeistert hat (96 Prozent!) und dass die Wirtschaft zu schützen ist, auch wenn das bedeuten würde, dass sich die Pandemie beschleunigt entwickeln würde (86 Prozent!). Diese scheinbare Irrationalität ist gar nicht so irrational beziehungsweise nur die Irrationalität einer bestimmten Form von Rationalität: In einem Land wie den USA, in dem man von einem Tag auf den anderen ohne irgendwelche sozialen Sicherheiten gefeuert werden kann – über 20 Millionen Jobs gingen während der Pandemie in den USA verloren – und zahlreiche Menschen keinerlei Rücklagen haben, hängen viele Arbeiter*innen und Familien ganz existenziell an ihren Jobs. Wenn dann noch die Arbeiter*innenklasse demobilisiert und von ihren traditionellen Repräsentant*innen zurecht entfremdet und frustriert ist, bedarf es oft nur eines charismatischen falschen Propheten wie Trump, der sich habituell scheinbar auf Augenhöhe bewegt und ihnen Sicherheit und Jobs verspricht. Dies, gekoppelt mit einer reaktionären sozialdarwinistischen Ideologie und Trumps sonstigen sexistischen, antifeministischen und rassistischen Auswucherungen kann dann vergleichsweise erfolgreich darin sein, den berechtigten Unmut und die berechtigte Wut vieler Menschen herrschaftsfunktional und autoritär zu kanalisieren und organisieren. Und das ist genau deshalb auch ein sehr großes Problem: Umso mehr Trump oder einem neuen falschen Propheten dies gelingt, umso mehr setzen sich tatsächlich reaktionäre, sexistische, rassistische und, verschärft im Fall von Corona, sozialdarwinistische Vorstellungen und Handlungsweisen in immer weiteren Teilen auch der Arbeiter*innenklasse fest und erschaffen zunehmend eine autoritäre Basis für eine potenzielle Zeit nach Trump, die immer schwieriger zu erreichen sein wird für linke Positionen.

Auch die steigende Zustimmung für Trump in Nicht-Weißen Communities könnte sich so erklären lassen. Dass Trump explizit versuchte, Schwarze Wähler*innen mit phantastischenInvestitionsversprechen zu umgarnen, die drei Millionen Jobs für Schwarze kreieren sollten, will der Liberalismus so wenig wahrhaben wie den Umstand, dass es vor allem konservative, junge Schwarze Männer im Mittleren Westen waren, die die Zustimmungswerte von Trump unter Schwarzen steigerten. Es ist nicht unwahrscheinlich und auch eine ungemütliche Erkenntnis, dass die etwas höheren Zustimmungswerte unter nicht-weißen Communities zu Polizeipräsenz in Vierteln sowie zu Gesetz und Ordnung unter Umständen einer zunehmenden Entfremdung von den Demokraten – verbunden mit einer allgemeinen Unsicherheit – ebenfalls zu einem Einfallstor für Trump wurden. Gleichwohl muss man sehen, dass weiterhin eine sehr große Mehrheit der Schwarzen Bevölkerung (80 Prozent) den Befund teilt, dass Trump ein Rassist ist.

Jetzt auf keinen Fall versumpfen!

Das Theater auf CNN und auch die bisherigen Wortmeldungen und siegestrunkenen Analysen aus dem liberalen Lager lassen darauf vermuten, dass die Elefanten souverän weiter ignoriert werden. Ins Biden-Lager übergelaufene ex-Republikaner wie John Kasich, ex-Gouverneur von Ohio, feiern schon den Sieg Bidens als Sieg der Mitte über die „extreme Linke und extreme Rechte“ und als eine Rückkehr zur Normalität. Auch CNN reichte die ganze Woche über die Hand aus in die „vernünftigen“ Teile des republikanische Lager – ganz im Sinne der jahrzehntelangen Biden-Linie. Innerhalb der Demokratischen Partei hat indes schon das Hauen und Stechen auf die paar Hand voll Linken angefangen: Sie werden – wegen ihres angeblich „extremen Sozialismus“ – dafür verantwortlich gemacht, dass die Wahl Bidens letztlich so knapp ausfiel! Der Sozialismus, so die Logik hinter den Vorwürfen, habe die Leute abgeschreckt, sonst wäre alles viel besser gelaufen. Linksliberale wie Judith Butler machen ungewollt mit beim Theater: Sie sind glücklich darüber, dass die schon längst dysfunktional gewordene amerikanische elektorale Demokratie gerettet wurde. Sie sehen in Trump jemanden, der das Reaktionärste des Landes verkörperte und diesem eine Bühne gab – und der deshalb zum Glück besiegt wurde; diesmal, im Gegensatz zu 2016, ohne auch nur zu fragen, warum und wie eigentlich Trump so viele Wähler*innen mobilisieren konnte.

Der Liberalismus arbeitet somit mit aller Macht daran, jede auch nur ansatzweise linke Perspektive zu zerschlagen, um den Status quo zu erhalten. Wer über die verständliche Erleichterung der Niederlage von Trump hinaus Freude über den Sieg Bidens empfindet, der arbeitet willentlich oder unwillentlich daran mit. Und damit bereitet das Biden-Lager auch den potenziellen Comeback des autoritären Populismus 2024 vor. Ein Trumpismus nach Trump, also eine rabiate rechtspopulistische Partei, die Teile der Arbeiter*innen- und insbesondere Mittelklassen zunehmend über ethnische Grenzen hinweg organisieren kann, ist, wenn man die Erfolge Trumps bedenkt, keine unwahrscheinliche Perspektive für die Republikaner. Mal davon abgesehen, dass noch gar nicht klar, ob sich Trump verabschiedet: Bisher hat er seine Niederlage nicht anerkannt, kämpft in letzter Sekunde noch um Kontrolle über das Militär, überzieht die Bundesstaaten mit Klagen wegen angeblichen Wahlfälschungen und hat immer noch – entgegen den Wünschen von CNN – die explizite Unterstützung wichtiger Republiker wie den Mehrheitsführer des Senats McConnell und den Minderheitsführer des Repräsentantenhauses McCarthy.

Es gibt aber auch gute Nachrichten: Entgegen der Thesen des Demokratischen Establishments haben nämlich vor allem linke Kandidat*innen der Demokraten für den Kongress sehr gut abgeschnitten. 26 der 30 von den linkssozialistischen Democratic Socialists of America (DSA) unterstützten Kandidat*innen wurden wiedergewählt; etwa die bekannte Alexandria Ocasio-Cortez aus New York, die zur de facto Sprecherin des linken Flügels innerhalb der Demokraten avanciert ist, oder Cori Bush aus Missouri, eine Black Lives Matter-Aktivistin, die für einen Mindestlohn von 15 US-Dollar, für eine gesetzliche Krankenversicherung für alle (Medicare for all) und gegen die Aufrüstung der Polizei (defund the police) streitet. Eine erste Querschnittsanalyse zeigt, dass Abgeordnetenkandidat*innen mit fortschrittlicherem oder liberalem Programm besser abschnitten als solche mit konservativem Programm. Alle Demokratischen Kongresskanditat*innen, die die angeblich extrem sozialistische – realiter sozialdemokratische – Forderung nach Medicare for all teilten, wurden erfolgreich (wieder)gewählt. Gerade diejenigen swing states des berühmten Midwestmit linken Abgeordnetenkandidat*innen wie Ilhan Omar in Minnesota oder Rashida Tlaib in Michigan konnten die Demokraten wieder gewinnen, eben weil sie im Zuge einer grassroots-Bewegung die Wahlbeteiligung und die Stimmen für die Demokraten in die Höhe trieben, während Kasichs Ohio bei Trump blieb.

Sogar die von Fox News zusammengestellten exit polls zeigen eine breite Zustimmung in der Bevölkerung für progressive Forderungen: Eine übergroße Mehrheit der Befragten möchte ein gesetzliches Gesundheitssystem (70 Prozent), sieht die Legalisierung von Papierlosen als einen machbaren Weg an (71 Prozent), ist für staatliche Investitionen in grüne Energien (68 Prozent), sorgt sich um den Klimawandel (70 Prozent) und stimmt zu, dass es ein Rassismusproblem in den USA gibt (70 Prozent). Die Mehrheiten für diese fortschrittlichen Positionen sind so breit, dass sie bis in die Trump-Basis reichen. Wie sich das mit den oben erwähnten reaktionären und sozialdarwinistischen Überzeugungen vieler Trump-Wähler*innen verträgt? Schon Gramsci sprach von der Widersprüchlichkeit des Alltagsbewusstseins, in der sich fortschrittliche und reaktionäre Elemente zugleich artikulieren. Dies kann man am deutlichsten im Bundesstaat Florida sehen: Am selben Tag stimmten ein Großteil der dortigen Bevölkerung für die Einführung eines Mindestlohns von 15 US-Dollar – eine linke Forderung – wie für Trump als Präsidenten. In mehreren republikanischen wie demokratischen Bundesstaaten wurden viele kleinere progressive Reformen umgesetzt wie die Legalisierung von Drogen, die Erhöhung von Steuern zur Finanzierung von Schulen und sozialen Programmen, stärkere Rechte von Mieter*innen und so weiter.

Die Aufgabe von Linken ist es, die fortschrittlichen Mehrheiten im Rahmen einer Politik, die die Arbeiter*innenklasse und die Unterdrückten des jeweiligen Landes ermächtigt, zur Geltung zu bringen und die reaktionären Elemente und ihre Wortführer*innen zu bekämpfen. Insofern sind die Wahlergebnisse der Präsidentschaftswahlen in den USA als bestmöglichste und zugleich zweitschlechteste zu sehen. Sie sind die bestmöglichsten Ergebnisse, weil Trump verloren hat, das technokratisch-neoliberale Zentrum aber nicht durchregieren konnte, was den Linken viel Raum eröffnet; die zweitschlechtesten, weil sich zeigt, dass der autoritäre Populismus weiterhin Massen mobilisieren kann. Vier Jahre haben die Linken in den USA jetzt Zeit, Politik für die Mehrheit der Bevölkerung zu machen; beziehungsweise, genügend Druck und Massenmobilisierung für eine solche Politik aufzubauen, gegen den Widerstand der Republikaner wie den des Demokratischen Establishments. Wir sollten sie dabei unterstützen und uns nicht in den liberalen Sumpf begeben. Es wird keine Wiederkunft Christi geben. Es gibt kein höh’res Wesen; uns aus dem Elend zu erlösen, das können wir nur selber tun. Dafür braucht man das Rückgrat, nicht vor dem Bestehenden einzuknicken. Nur wenn wir uns das nicht auf die Fahnen schreiben, bleibt’s so duster wie in der Yeats’schen Apokalypse.


Anmerkungen:

[1] Zum Einstieg seien hier nur der längere Artikel von Nathan J. Robinson, Redakteur vonCurrent Affairs, vom 7. März dieses Jahres empfohlen („Democrats, You Really Do Not Want To Nominate Joe Biden“) sowie Marcetics’ Yesterday’s Man. The Case Against Joe Biden.

[2] Max Zirngast und ich haben beizeiten das Wahlergebnis 2016 detailliert interpretiert, siehe: „Der Sieg Trumps, der Tod des Liberalismus und die Widerstandsfront“, in: Solidaritätskampagne #FreeMaxZirngast (Hrsg.), Die Türkei am Scheideweg. Und weitere Schriften von Max Zirngast, Münster, 2019, S. 261-297, insbesondere S. 261-83.

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