Die Frage nach der Schuld oder wieso Ereignisse nie kausal sind.

Heute (streng genommen gestern) ereignete sich auf der A3 ein Auffahrunfall mit einer schwerverletzten Person. Dieser Unfall wird mit dem Protest am Dannenröder Wald in Verbindung gebracht, weil die Ursache des Staus, in welchem der Unfall geschah, eine Blockade der A3 durch eine autonome Kleingruppe war. In Folge dessen entstand ein unglaublicher Shitstorm, an dem sich selbst Bundespolitiker*innen und Herausgeber*innen nationaler Zeitungen beteiligt haben. Das Presseteam der Waldbesetzung hat ein Statement dazu veröffentlicht, in dem sie letztendlich darum bittet, erst ab morgen mit der Politisierung des Geschehenen zu beginnen und den heutigen Tag dem Mitgefühl für die verletzte Person zu widmen. Im Folgenden mein Versuch, das geschehene zu prozessieren und in einen ersten Rahmen zu setzen. Disclaimer: Aufgrund der Uhrzeit habe ich den Artikel nicht mehr Korrektur gelesen.

Dannenrod, 13.10.2020

Heute war ein Tag wie jeder andere. Die Sonne ist morgens hinter dicken Wolken aufgegangen und abends unter, die Wolken sind über den Himmel gezogen und haben hier und da etwas Wasser gelassen und Pflanzen, Tiere und Menschen sind auf ihren ziellosen Missionen ihrem Tagewerk nachgegangen.

Alleine in Deutschland wurden heute ungefähr 1900 Kinder geboren und 2400 Menschen sind gestorben. Ungefähr 1100 Ehen mit ungefähr 2200 Menschen wurden geschlossen, 680 Menschen haben ihre Bachelorarbeit heute abgegeben und knapp 400 ihre Masterarbeit. Ungefähr 25 Menschen haben sich heute das Leben genommen, 910 Menschen sind an Herz-Kreislauf-Erkrankungen gestorben, 630 an Krebs, und ungefähr 8 Menschen bei Verkehrsunfällen. Ungefähr 1100 Menschen wurden heute bei Verkehrsunfällen verletzt. Jede dieser Verletzungen trägt ihre eigene Geschichte. Jede diese Verletzungen hat eine eigene Schwere. Jede dieser Verletzungen ist unendlich bedauernswert und schade. Manche dieser Verletzungen sind selbst verursacht, manche von den liebsten Menschen, manche von wildfremden Personen. Manche Verletzungen entstanden aus Unachtsamkeit, manche aus Willkür oder Überschätzung, manche aus Pech.

Aber eine Verletzung aus dem Verkehr hat heute eine ganz besondere Aufmerksamkeit bekommen. Selbst die Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft, Julia Klöckner, hat Stellung zu diesem Unfall bezogen. Carsten Knop, der Herausgeber der FAZ, hat schon Minuten später einen offiziellen Kommentar auf der FAZ-Homepage veröffentlicht, in dem er schwere Vorwürfe erhob. Das spannende ist, dass niemand von ihnen gefragt hat, wie es dem Menschen, der bei einem Auffahrunfall auf der A3 schwer verletzt wurde, eigentlich geht. Niemand hat gefragt, wie genau der Unfall sich zugetragen hat. Heute ist sich die Medienwelt mit der Politik – besonders die konservativen Seiten – einig, dass dieser eine Verkehrsunfall eines der Hauptereignisse des Tages war und, dass die Schuld eindeutig bei der Stau-Ursache zu finden ist. Das könnte damit zusammenhängen, dass die Ursache dieses Staus politischer Natur war. Die Autobahn wurde von der Polizei gesperrt, weil Menschen im Namen des Umweltschutzes Banner an Autobahnbrücken angebracht haben und sich dazu von der Brücke abgeseilt haben.

Und auf einmal stellt sich die Frage nach der Schuld. Anders als bei üblichen Verkehrsunfällen spielt hier aber nicht der unmittelbare Hergang des Autounfalls die entscheidende Rolle – ob vielleicht überhöhte Geschwindigkeit, Unachtsamkeit, Ablenkung, zu wenig Abstand, ein zu abruptes Bremsmanöver oder zu lange Fahrzeiten dafür gesorgt haben, dass die nun schwer verletzte Person nicht verhindern konnte, auf den vorfahrenden Lastkraftwagen aufzufahren. Bei diesem Unfall sind alle direkten Unfallteilnehmer unschuldig. Die Schuld – und darauf hat sich die Allgemeinheit schon fast geeinigt – liegt beim Protest.

Mich persönlich interessiert es überhaupt nicht, wer die Schuld dieses Unfalls trägt. Das macht den Unfall nicht rückgängig. Es macht mich nur traurig, dass es uns als Gesellschaft offensichtlich wichtiger ist, zu klären, wohin wir mit unserem Finger zeigen dürfen, als zu schauen, wie es dem schwer verletzten Menschen jetzt geht. Und den anderen der 1100 Menschen, die heute im Straßenverkehr verletzt wurden. Letztendlich liegt die Schuld nämlich bei der Statistik. Wenn sich 1100 Menschen am Tag im Verkehr verletzen müssen, damit die Statistiken aufgehen, dann passiert zwangsläufig auch mal ein Auffahrunfall auf einem Stauende. Wie absurd.

Im Endeffekt lässt sich die Schuldfrage an jedem beliebigen Punkt beantworten. War es die Person im Auto, weil sie halt draufgefahren ist? War es die Person im LKW, weil sie halt gebremst hat? Waren es die Autos vor dem LKW, weil sie alle gebremst haben und damit den LKW zum Bremsen genötigt haben? War es die Polizei, weil sie die Autobahn abgesperrt hat und damit die Autos zum Bremsen genötigt hat? Waren es die Menschen, die das Banner aufgehängt haben, weil sie die Polizei genötigt hat, die Autobahn abzusperren? Waren es die Rodungen am Dannenröder Forst, die von massiver Polizeigewalt begleitet werden, weil sie die Menschen zur Autobahnblockade genötigt hat? War es die Waldbesetzung des Dannenröder Waldes, weil sie die Polizei zur Gewalt nötigt? Ist es die Politik, weil sie mit ihren Entscheidungen die Menschen nötigt, den Wald zu besetzen? Ist es der kapitalistische Druck, weil er die Politik nötigt, „mitzuziehen“? Oder ist es letztendlich die Autobahn, weil es ohne Autobahn diesen Auffahrunfall nicht gegeben hätte, vielleicht sogar die Autoindustrie, weil es ohne sie keine Autos und damit keine Auffahrunfälle gäbe? All diese Fragen lassen sich sowohl mit „ja“ als auch mit „nein“ beantworten und keine Antwort ist mehr oder weniger richtig als die anderen. Damit verliert die Frage nach der Schuld für mich persönlich den letzten Reiz, weil sie mir nicht nur kein Stück hilft, mit der Situation umzugehen, sie ist auch einfach so dermaßen willkürlich.

Die Schuldfrage folgt argumentativ der Kausalkette der Ereignisse. Das Problem ist, dass die Realität zu jedem Zeitpunkt von so vielen Dingen gleichzeitig beeinflusst wird, dass wir nicht mal gemeinsam alle Zusammenhänge nachvollziehen können. Dass ich jetzt hier sitze und diesen Text schreibe, hängt nicht nur damit zusammen, dass dieser Unfall heute passiert ist, es hängt auch damit zusammen, dass ich aktuell sehr sensibilisiert bin um die Ereignisse im Dannenröder Wald. Es hängt auch damit zusammen, dass ich die Worte und die Zeit habe und sie mir nehme, meine Gedanken dazu niederzuschreiben. Und damit, dass ich überhaupt einen Computer habe und in der Lage bin, ihn zu bedienen. Und damit, dass es draußen so kalt ist, weshalb ich mich einfach noch nicht dazu entschlossen habe, endlich Feierabend zu machen und raus zu gehen. Was auch damit zusammen hängt, dass ich heute morgen lange geschlafen habe. Der Autounfall hängt aber wahrscheinlich nicht damit zusammen, dass ich heute lange geschlafen habe. Vielleicht hängt er aber damit zusammen, dass es heute so kalt ist; vielleicht wäre die Blockade der Autobahn bei angenehmeren Temperaturen etwas früher oder etwas später gewesen, dann hätte der Auffahrunfall vielleicht vermieden werden können. Alles hängt mit allem zusammen und nichts ist so klar wie es scheint. Wie absurd.

Okay, klar, ich weiß, dass ich nichts weiß und ich denke, also bin ich und so… Schöne viele nette Worte und am Ende ist eh immer alles egal. Wen juckt das. Egal, was ich schreibe, egal, wie ich es drehe, heute wurde ein Mensch in einem Autounfall schwer verletzt, der sich an einem Stauende zugetragen hat, welcher von einer Protestaktion induziert wurde. Carsten Knop schrieb: Es ist völlig egal, was auf dem Banner stand. Dem möchte ich widersprechen. Das wirklich absurde an der Geschichte ist nämlich, dass die Forderung des Protestes die radikale sozialverträgliche Verkehrswende ist. Weg vom Auto – nicht nur, aber auch, weil es das mit Abstand gefährlichste Verkehrsmittel ist. Und, eben weil das Individualverkehrsnetz so unglaublich störungsanfällig ist – es braucht nur eine Brücke, einen Hippie und ein Seil.

Der große Unterschied liegt glaube ich darin, dass wir uns entweder mit dem Symptom oder mit der Ursache beschäftigen können. Wenn wir Symptome behandeln wollen, können wir auch wieder Schuld-Bingo spielen. Beides führt nämlich zu nichts. Ich würde mich aber gerne mit der Ursache beschäftigen. Wieso haben sich diese Menschen genötigt gefühlt, sich von der Autobahn abzuseilen? Die Antwort ist ganz einfach: Weil ihnen nicht zugehört wird. Weil ihre Forderungen nicht ernst genommen werden. Und da es bei den Forderungen um nicht weniger als die Lebensgrundlage unserer und aller folgenden Generationen geht, ist damit zu rechnen, dass harmlose Autobahnblockaden erst der Anfang dessen sein wird, wohin autonome Kleingruppen wie diese zu gehen bereit sind – wohin wir alle zu gehen bereit sind. Der Klimawandel ist real. Die infrarotabsorbierende Wirkung des CO2 ist real. Der Anteil des Verkehrs an unseren Emissionen ist real. Genauso real wie dieser Autounfall heute. Der eigentliche Skandal ist, dass immer und immer wieder Opfer tragischer Geschichten instrumentalisiert werden, um einen politischen Standpunkt zu festigen. Wer weiß, vielleicht hätte die Person sogar Verständnis für den Protest gehabt, wenn sie es geschafft hätte, rechtzeitig zu bremsen, vielleicht ist sie sogar selbst aktive Klimaschützer*in. Würde sie dann noch die gleichen Beileidsbekundungen erhalten? Vielleicht war sie auch gerade auf dem Weg, einen Terroranschlag auszuführen und durch die Aktion wurde noch schlimmeres verhindert. Und wenn dem so wäre, hätte sie nicht trotzdem das gleiche Recht auf körperliche Unversehrtheit?

Mein Wunsch wäre, dass wir nach vorne schauen. Wie können wir dazu beitragen, dass es dieser Person schnell wieder gut geht – genau wie all den anderen der 1100 verkehrsverletzten des heutigen Tages. Wie können wir dazu beitragen, dass es vielleicht bald nur noch 1000 Menschen pro Tag sind, bald vielleicht sogar nur 500? Wie weit können wir die Zahl der Verkehrsverletzten reduzieren? Denn eigentlich ist jede Verletzung, die im Verkehr entsteht, zu viel. Und wie können wir gleichzeitig dafür sorgen, dass wir jungen Menschen uns nicht genötigt sehen, mit immer rabiateren Mitteln unsere Anliegen vorzutragen, sondern das Gefühl bekommen, dass wir gehört werden? Dass unsere Anliegen, unsere Angst um unsere Zukunft endlich so ernst genommen wird, wie sie es für uns selbst ist? Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, aber ich glaube, solange wir damit beschäftigt sind, herauszufinden, auf wen oder was wir mit dem Finger zeigen dürfen, mache ich mir besser keine Illusionen. Also bleibt mir – also bleibt uns – nichts anderes übrig, als das Heft weiter in die Hand zu nehmen. Auch diesen Shitstorm über uns ergehen zu lassen und zu hoffen, dass er uns hilft, unser eigentliches Anliegen ein kleines Stück weiter in den öffentlichen Diskurs zu bekommen. Denn solange ein Andi Scheuer seine Rede in der aktuellen Stunde zur A49 damit beginnt, seiner Fraktion in den Hintern zu kriechen, bevor er ein emotional berührendes Beispiel eines autobahnfreundlichen – Überraschung – alten weißen Mannes zum besten gibt, nachdem er Milliarden in einem schwarzen Loch hat verschwinden lassen und darüber offensichtlich den Bundestag angelogen hat, solange eine Julia Klöckner lieber mit Nestlé paktiert, als sich die Stimmen der Bürger*innen anzuhören, solange ein Carsten Knop es für wichtiger hält, seine unqualifizierte Meinung zum Besten zu geben, als einen Beitrag zur journalistischen Qualität zu leisten, solange müssen wir uns um unsere Belange selbst kümmern. Denn die, die uns vertreten sollen, die, die uns informieren sollen, die, die uns zuhören sollen, die sind vor allem mit sich selbst beschäftigt.

Wir werden heute Nacht jedenfalls das erste Mal eine Nachtwache am Camp postieren. Ein Individuum aus unserem Camp, welches einen etwas höheren Bekanntheitsgrad hat und bereits ein Stück weit mit dem Protest hier assoziiert wird, wurde heute Abend bereits Opfer eines ersten absolut geschmacklosen Hatestorms. Ich treffe mich mit einer Freundin zusammen morgen früh um 11 mit dem Pfarrer des Dorfes, um zu überlegen, wie wir als Gemeinschaft mit der Politisierung dieses Ereignisses gegen uns umgehen sollen. Für jetzt hoffe ich vor allem, dass wir es zurück in die inhaltliche Debatte schaffen. Vorher werden wir nämlich nicht aufhören. Wohin das letztendlich führen wird, weiß niemand. Aber wir sind viele. Und wir werden immer mehr.

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