"Historische Demonstration" in Santiago, Chile

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Seit einer Woche ist Chile wieder unter Militärkontrolle und mit jedem Tag wächst der Protest. Jeden Abend trotzen mehr und mehr Menschen der Repression, verstoßen kollektiv gegen die vom Militär verhängte Ausgangssperre. Alleine in Santiago gingen heute weit mehr als eine Million Menschen auf die Straße - die größte Demonstration in Chile seit Ende der Militärdiktatur. Hier wird gerade Geschichte geschrieben.

Die Proteste reißen nicht ab, sondern werden immer stärker. Weder die Repression, die bisher über 20 Todesopfer forderte, noch die Beschwichtigungsversuche des Präsidenten, der die Minimalrente um 20% erhöhen will neben anderen Punkten, haben dazu geführt, dass sich die Situation in Chile beruhigt. Stattdessen werden die Proteste immer größer und größer, während das Militär bereits gestern Reservisten einziehen musste und so bald an seine Leistungsgrenze stößt.
Ob es daran liegt, oder als Beschwichtigungsversuch: die Ausgangssperren werden weiter nach hinten verlegt. Heute in der Hauptstadtregion erst ab 23 Uhr, ansonsten startet die Ausgangssperre je nach Stadt zwischen 20 Uhr (Valparaiso) und Mitternacht (Talca), endet meist zwischen 4 und 5 Uhr morgens. In mehreren Regionen wird heute gar keine Ausgangssperre mehr verhängt, darunter Mejillones, Tocopilla, Caldera, Valdivia, Arica,  Parinacota, Iquique und Alto Hospicio. Ein erster, kleiner Erfolg der Bewegung, bei dem sie aber nicht stehen bleiben wird wie es aussieht.

Der Regierung rennt derweil die Zeit davon, denn auch die Medien haben inzwischen mitgekriegt, dass dieses Jahr in Santiago noch zwei große internationale Gipfeltreffen anstehen: der APEC, sowie der Klimagipfel COP25. Die Regierung will weiterhin an diesen Gipfeltreffen festhalten.
Greta Thunberg hat übrigens die Chilenischen Proteste gegrüßt: "Meine Gedanken sind mit den Menschen in Chile" twitterte die schwedische Klimaaktivistin, die beim COP25 ebenfalls erwartet wird.

Währenddessen hat das Menschenrechtsinstitut Chiles die UNO aufgefordert, eine Delegation von Menschenrechtsbeobachtern nach Chile zu schicken, um die "größte Repression innerhalb der Demokratie" zu untersuchen. Ironischerweise ist die amtierende Kommissarin für Menschenrechte der UNO Michelle Bachelet, eine ehemalige Präsidentin Chiles.
Die offizielle Zahl der anerkannten Todesfälle ist inzwischen auf 19 geklettert, dadurch einige an Schusswunden, viele während der Ausgangssperren. Für Aufsehen sorgten dabei auch Foltergeschichten wie die "Kreuzigung" von drei Menschen, (darunter ein 14-Jähriger) welche nach Schlägen die ganze Nacht mit Handschellen an Antennen über der Polizeistation von Peñalolén festgekettet hingen. Ein Richter ordnete daraufhin an, dass sich beschuldigte Polizisten den Opfern nicht näher als 100 Meter nähern dürfen.
Justizminister und Polizeichefs fühlen sich vom Institut für Menschenrechte "unfair behandelt" und erhöhen den Druck, doch nicht zu viel aufzudecken. Etwas, was in Zeiten sozialer Medien schwer zu deckeln ist, wie manch ein Verantwortlicher wohl gerade bitter lernen muss.

Apropos Neuland: Während in Santiago die größte Demonstration der jüngeren Geschichte lief, veröffentlichte Anonymous einen wohl ebenso geschichtsträchtigen Hack: Eine Datenbank mit hochsensiblen Daten (Namen, Personalausweisnummer/RUT, Geschlecht...) über alle Carabineros/Polizisten wurde veröffentlicht.

Und bereits gestern musste das Militär einräumen, dass Soldaten an Plünderungen teilgenommen haben.

Auch gestern musste in Valparaiso das Parlament evakuiert werden, nachdem Demonstranten direkt vor dem Parlament anfingen, die Zäune zu attackieren.

Trotz einwöchiger Proteste und der historischen Demonstration heute - zurücktreten will der Präsident nicht. "Wir haben uns alle geändert" versucht er, die Demonstranten zu beschwichtigen. Soweit geändert, dass das Militär zurückgepfiffen wird, hat er sich aber nicht. Der Ausnahmezustand gilt weiterhin, das Militär verhängt weiter Ausgangssperren und verletzt und tötet weiterhin Menschen auf offener Straße.

Chile despertó
Militär raus aus den Straßen

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Ergänzungen

Ein kurzer Überblick in den deutschsprachigen "Leitmedien":

Weder FAZ noch Spiegel Online noch SZ erwähnen auch nur die Herrschaft des Militärs über den Ausnahmezustand, die verhängten Ausgangssperren und die Schließungen der Supermärkte inklusive dem Ausmaß der Plünderungen. Dass sie die Proteste seit anbeginn klein schreiben und kaum beachten ist ja nichts neues - aber das selbst die größte Demonstration seit dem Sturz der Militärdiktatur nicht dazu führt, dass die Medien berichten, woran sich die Proteste entzünden, sondern die Ausgangssperren und Militärs in den Straßen die Leute tot schießen einfach verschweigen ist schon krass. Die Toten werden einfach unter "Seit Beginn der Proteste..." kulminiert - Erschießungen durchs Militär, Folter in den Polizeistationen, Vorwürfe von Verletzung der Menschenrechte und die Entsendung der UNO zur Untersuchung derselbigen werden nicht erwähnt.

Auch stimmt es nicht, dass die Demonstration gestern in Chile von Polizei unbehelligt blieb - sie wurde zum Ende wieder mit Tränengas angegriffen und es gab sich daraus entwickelnde Straßenschlachten.

Das zeigt mal wieder, wie wichtig selbstorganisierte Medien sind. Verbreitet die Nachrichten wo ihr nur könnt, druckt die Artikel aus und hängt sie an Bushaltestellen etc. Hängt Banner aus euren Fenstern und zeigt Solidarität: Sei es mit Kochtopfdemos vor der chilenischen Botschaft oder Kommentaren in sozialen Medien und unter Spiegel-Online Artikeln etc. Chile ist aufgewacht!

Und Indymedia ist mal wieder das einzige Medium, was wirklich Infos dazu verbreitet. Erinnert an die Proteste 2001/2002 in Argentinien, als der deutsche Pressewald auch schwieg, während auf Indymedia Live-Berichterstattung und Übersetzungen einen wirklichen Überblick über das Geschehen lieferten. Leider ist chile.indymedia.org nicht mehr funktionsfähig seit einigen Jahren. Ein Umstand, der vielen Compas hier inzwischen schmerzhaft bewusst wird.