Proteste in Chile halten weiter an

Regionen: 

Chile will einfach nicht wieder einschlafen: Es kommt weiterhin zu täglichen Protesten und Aufruhren im gesamten Land. Proteste werden allmählich zum Normalzustand. Neue Verfassung wird auf Nachbarschaftsversammlungen vorbereitet.

Die Proteste in Chile sind nach wie vor ungebrochen. Im gesamten Land kommt es zu kleineren und größeren Demonstrationen. Immer wieder auch zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, die das Fehlen des Militärs durch mehr Gewalt wettzumachen sucht. Selbst kleinere, friedliche Demonstrationen werden inzwischen oft angegriffen - aber auch riesige wie letzten Freitag in der Hauptstadt Santiago, bei der sich zum "größten aller Märsche" versammelt werden sollte und die absolut friedlich blieb, wurde mit viel Tränengaseinsatz aufgelöst.

Fast schon eine Kopie der täglichen Proteste davor in der Hauptstadt:
Jeden Nachmittag versammeln sich Tausende in Santiago, ohne dass dazu explizit aufgerufen wird. Die Demonstration wird dann von der Polizei angegriffen, weil sie nicht autorisiert ist - woraus sich dann oft Straßenschlachten entwickeln. In deren Rahmen kommt es dann oft zu Plünderungen.

Auch in anderen Städten wie Concepción ist das fast schon ein Standard-Rezept: Um sich gegen Übergriffe der Polizei zu wehren werden Geschäfte geplündert und mit deren Inventar Barrikaden gebaut.

Im ganzen Land kommt es weiterhin zu Attacken auf Regierungsgebäuden, Banken und Plünderungen von Supermärkten und Filialen, darunter inzwischen auch kleinere Läden. Die Polizei gibt inzwischen knapp 1000 Verletzte in ihren Reihen an, davon 87 schwer. Die Zahl scheint aber sehr hoch gegriffen und will wohl von der übermäßigen Gewalt ablenken, mit denen die Polizei vorgeht. Mindestens ein bestätigtes Todesopfer gibt es: Alex Nuñez Sandoval starb nachweislich durch Schläge der Polizei.

Die Krise ist nicht überstanden, der Normalzustand längst nicht wieder erreicht. Das geht so weit, dass die Gemeinde Santiago das laufende Schuljahr bereits heute schließt und in die Ferien entlässt:
"Wir können die Sicherheit von Schülern und Lehrkräften nicht garantieren"
Der verpasste Stoff soll dann im neuen Schuljahr nächsten März nachgeholt werden.

Im Süden des Landes wird es derweil zum Volkssport Statuen von spanischen Eroberern zu köpfen, zu zerstören oder umzugestalten, was für amüsante Bilder sorgt und an den Jahrhundertealten Kampf erinnert, den die Mapuche gegen die Eroberer aus Europa führen und eine Wiederaneignung der Geschichte.

Auch die Fahrraddemos gehen weiter: mehrere critical-mass mäßige Demonstrationen zogen diese Woche durch Santiago. Dabei steigt die Teilnehmerzahl momentan noch an. Die größte critical mass bisher zog heute zur Präsidentenresidenz.

Währenddessen beschwört ebendieser Präsident via Twitter das bestehende Wirtschaftssystem und die bestehende Verfassung ja nicht anzufassen. Wenn das nicht mal Hoffnung macht - immerhin hat ebendieser Präsident in Person damals für einen Verbleib unter Pinochet geworben und gestimmt. Wenn er jetzt also den Kapitalismus beschwört...

Die Mobilisierungen der "Remainer", die alles eigentlich so lassen wollen wie es ist und "einfach wieder zur Normalität" zurückkehren wollen ist derweil ein Rohrkrepierer:
Demonstrationen werden meist zurückgezogen, eine Demonstration von 500 Leuten in Osorno wird in den Medien gepusht. Wobei zugegeben 500 für Osorno nicht schlecht ist, aber in Anbetracht der Proteste, die von dort bis hoch zur Grenze nach Peru reichen, dann doch eine lächerlich geringe Mobilisierung.
Auch die Zustimmungsraten zum Präsidenten sind so gering wie noch nie: gerade mal 16% Zustimmungsrate wurde für ihn diese Woche ermittelt.

Derweil steigt die Zustimmung zu den Protesten für einen sozialen Wandel und eine neue, pinochet-freie Verfassung: Immer mehr Sektoren erheben eigene Forderungen und tragen sie mit Demonstrationen auf die Straße und in die Öffentlichkeit, so wie eine für morgen angekündigte Autocaravane von 500 Taxis in Valdivia. Es entstehen spontane Netzwerke und gewerkschaftsähnliche Strukturen, oft über Whatsapp organisiert.
Aber auch physische Treffen finden statt: es wird von vielen Nachbarschaftsversammlungen berichtet, insbesondere in der Hauptstadt Santiago, auf denen Nachbarn sich über ihre und die aktuelle Situation im Land austauschen und teilweise bereits an Ideen für eine neue Verfassung basteln. Anarchistische und feministische Gruppen spielen dabei je nach Viertel eine kleinere oder größere Rolle.

Wie es weitergeht weiß keiner. Wann und ob es aufhört auch nicht.
Es scheint ein gutes Zeitfenster zu sein, in dem vieles möglich ist. Die Proteste halten länger stand und sind vehementer als alle sich vorgestellt haben. Vieles ist möglich, es bleibt spannend.

Chile desperto!

webadresse: 
Lizenz des Artikels und aller eingebetteten Medien: 
Creative Commons by-sa: Weitergabe unter gleichen Bedingungen