Re: Nordkiez Update; für mehr Konflikte in der Stadt

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Ursprünglich als eine Erwiderung auf den Text „Nordkiez Update Anfang 2020“ (https://de.indymedia.org/node/68294) gedacht, wird an dieser Stelle nun doch etwas weiter ausgeholt werden müssen, um den Zusammenhang eines lokalen Konflikts mit dem gegenwärtigen Ausnahmezustand zu verdeutlichen. Wenn auch dem Grundtenor des Beitrags gar nicht widersprochen werden soll, kennzeichnet ihn vermutlich für nicht wenige Leser*innen eine starke Selbstbezogenheit inklusive Abarbeiten an der offiziellen Politik. Diese Annahme beruht auf dem regelmäßigem Ausbleiben von (öffentlichen) Gegentexten, Kritiken oder Anmerkungen, während in persönlichen Gesprächen häufig die Aktivitäten im Nordkiez als „abgehoben“, „isoliert“ oder „in der eigenen Blase lebend“ bezeichnet werden.

 

 

 

Bezug soll deshalb ebenfalls auf die Aufforderung aus der Interim 811 genommen werden, die in ihrem Vorwort schreibt, „Die nicht offen geführte Diskussion, ob die Scharmützel im Nordkiez sinnvoll oder gar kontraproduktiv sind, sollten vielleicht breiter geführt werden … Machts besser und lasst uns davon wissen.“

 

Die Beschränktheit des Widerstands in Friedrichshain liegt nicht an den Akteur*innen der Projekte und deren Umfeldes. Eine offen arbeitende Widerstandsstruktur wäre unglaubwürdig, würde sie nicht in der eigenen Straße den Gegner konfrontieren. Die Wahrnehmung der Situation im Nordkiez beruht vor allem auf der Nicht-Existenz sozialer Kämpfe in der Stadt. Würden auch an anderen Orten gelegentlich Bullen mit Steinen beworfen, brennende Container auf die Straße geschoben oder Kiezzerstörer*innen aus der Nachbarschaft gedrängt, wären Dorfplatz und umliegende Straßen gar nicht der überpräsente Ort, auf den sich alles projizieren lässt. Widerstand braucht Orte und Strukturen, die greifbar sind für andere und an denen auch Kritik geübt werden kann. Davon gab es in Berlin mal wesentlich mehr und ihr verschwinden hat damit zu einer Anonymisierung des Widerstands geführt.

 

Mit den Orten sind auch gegenkulturelle Angebote und unruhige Milieus aus der Stadt verschwunden. „Scharmützel“, wie die Bezeichnung im Interim Vorwort dafür ist, lieferten sich Jugendliche, Antifas und Autonome noch Anfang der 2000er Jahre im Mauerpark, im Viktoriapark, im Görli und Wrangelkiez, am Heinrichplatz, im Volkspark Friedrichshain, vor der Köpi, in der Umgebung der Bunten Kuh, am Rosenthaler Platz, in der Kreutziger Straße …

 

Die Stadt ist für uns kleiner geworden und damit auch das Bewusstsein für die Möglichkeiten die sie bietet, um Wut und Widerstand eine Praxis zu geben. Wo in der Vergangenheit der Konflikt mit der Macht gesucht wurde, scheint er für viele heute kaum noch vorstellbar. Für die unzweifelhaft existierenden Zusammenhänge und Individuen, denen der relative Frieden in der Stadt unerträglich ist, bieten sich allerdings wenig Orte an, an denen sich getroffen und die Auseinandersetzung gesucht werden kann. Also ist nicht die konfliktive Praxis in der Rigaer das Problem, sondern das andere Projekte und Kieze darauf verzichten um Frieden mit den Nachbar*innen zu haben und keinen Ärger mit den Bullen zu riskieren.

 

Die Schwäche von Strukturen ist, wenn sich ihre Stärke und Handlungsfähigkeit nur durch den Druck des Gegners aufbaut und an dessen Aggression gekoppelt ist. Natürlich rücken Chaot*innen und Nachbar*inne bei Repression wie im Nordkiez zusammen, lässt diese wieder nach, zerfällt auch die eigene Organisierung. Eine Perspektive für die nächste Phase könnte sein, aus dieser Reaktionsschleife auszubrechen und außerhalb repressiver Momente gemeinsam mit der Nachbarschaft zum Angriff auf das Bestehende, womit nicht nur die Schweine in der eigenen Straße gemeint sind, überzugehen. Dabei wird der fehlende soziale Konflikt spürbar, denn die Nachbarschaft in der Rigaer befindet sich bis auf wenige Ausnahmen ja nicht in einem klassenkämpferischen Widerspruch zur kapitalistischen Normalität. Ob der Eingangs erwähnte Update Text diese Realität erfasst, oder sich um eine optimistische Deutung der Potentiale im Nordkiez bemüht, sei dahingestellt. Jedenfalls kommt er nicht um den Widerspruch herum, das Vorgehen des Feindes als wesentlichen Bezugspunkt eigenen Handelns zu akzeptieren. Das aber wäre die revolutionäre Bestimmung autonomer Anti-Politik: ungeachtet der Maske des Innensenators und der Agenda der demokratischen Gewalt, einen eigenen Raum zu besetzen; materiell und nebenbei auch kulturell, philosophisch, sozial und ethisch.

 

Noch geht es einer Mehrheit der Bewohner*innen Berlins zumindest erträglich aushaltbar. Und von denen, denen es schlecht geht, wohnen kaum welche im Nordkiez. Mithin fehlt eigentlich die Basis, um eine revolutionäre Veränderung der Herrschaftsverhältnisse in diesem Viertel herbeizuführen. Als Herausforderung an die Projekte dort bietet es sich damit an, zunächst möglichst vielen Leuten, die aus unterschiedlichsten Gründen von den Herrschaftsverhältnissen und ihren Erscheinungsformen angewidert sind, einen Ort des Zusammenkommens anzubieten. Senat und Polizei wollen durch ihren Druck verhindern, dass sich etwas entwickeln kann, was außer der Verteidigung gegen Räumung, Bullen- und Naziterror, eigene Dynamiken zum überfälligen Bruchs mit der Gesellschaft entstehen lässt.

 

2020 sollte nicht nur als Jahr von Urban Operations und Ausnahmezustand in die Geschichte eingehen, sondern als Jahr der stadtweiten, dezentralen Angriffe auf den Staat und seine Helfer*innen, wobei der Gegenentwurf zu einem besseren Leben im Nordkiez zumindest Projekte vorfindet, die sich dazu bekennen. Mit dem ratlosen Akzeptieren der momentanen Beschränkungen in der ganzen Stadt, ist der Orwellsche Überwachungsstaat seinem Ziel, bedingungsloser Gehorsam und Selbstüberwachung, ein gutes Stück näher gekommen. Das es erneut nur in der Rigaer Straße zu einer Zusammenrottung kam (letzten Freitag), ist zwar mehr als Nichts. Verdeutlicht aber, dass die Anwesenheit der Bullen erst zerbrochen werden muss, um einer gesellschaftlichen Entwicklung Platz zu verschaffen. Gleichzeitig droht durch eine Überbeschäftigung mit dem Instrument des Gefahrengebiets, die Definitionsmacht an den Staat zurück zu fallen. Lediglich über die Konfrontation mit der Polizei, ließ sich in jüngster Zeit keine weitere Positionierung der Nachbarschaft erreichen. Und was den Bau der CG Gruppe betrifft, reiht sich das Scheitern einer Verhinderung ein, in Initiativen gegen Mediaspree und Ausbau der A 100; wo der bürgerliche Protest seine Grenzen erreicht, kann der militante Widerstand auch kein Projekt stoppen. Ob sich mangelnde Schlagkraft durch populistische Aktionen, wie der Verteilung geplünderter Mangelware, ausgleichen ließe, wäre eine organisatorische Frage, deren Beantwortung uns dem Ziel eines unregierbaren Viertels näher bringen wird. Ein Beitrag aus dem Umfeld Autonomer Gruppen, 22. März 2020

 

 

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