[B]: Ein Verfahren, das nicht sein sollte... Von Ermittlungseifer und geplatzten Staatsschmutz-Träumen

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Nach der Räumung der Kadterschmiede im Juni 2016 und der darauf folgenden Belagerung der Rigaer94 findet im Rahmen eines Aktionstags am 5. Juli 2016 eine unangemeldete Fahrraddemo statt. 50 bis 60 Menschen fahren teilweise bunt und schwarz vermummt durch die Straßen Kreuzbergs, begleitet von Musik, Flyern und Parolen. Mehrere Gebäude werden auf dem Weg mit Farbe verschönert, darunter die ehemalige Hausverwaltung der Rigaer94. An diesem Tag wird weder jemand festgenommen, noch werden Personalien festgestellt.

Mehr als drei Monate später am 27. Oktober folgen 14 Hausdurchsuchungen in Berlin und Leipzig, um Beweismaterial gegen die vermeintlichen Organisator_innen und Teilnehmer_innen zu finden. Der Tatvorwurf lautet für alle auf "besonders schweren Landfriedensbruch", eine konkrete Tatbeteiligung an einzelnen Sachbeschädigungen wird niemandem angelastet. Deswegen wird vom Staatsschutz konstruiert, "dass der Zweck des Fahrradkorsos die Sachbeschädigung an Gebäuden war, dass dieser Zweck auch allen Beteiligten bekannt war und dass alle Beteiligten bewusst und gewollt als Deckungsmasse für die Werfer agiert haben."

Noch im Juni 2016 - wenige Tage nach der Räumung der Kadterschmiede - wird die EG LinX gegründet, welche sich mit der Vielzahl von Soli-Aktionen für die Rigaer94 beschäftigen soll und auch die Ermittlungen in diesem Verfahren übernimmt. Die Freude über einen vermeintlichen Erfolg ist groß, da der einzige Triumph während ihrer gesamten Existenz darin besteht, den eigenen "Informanten" beim Autos anzünden festzunehmen. Mit der Meldung zur Razzia schaffen sie es sogar in die überregionale Presse. Die Vorbereitung der Razzia wirkt unprofessionell und auf die Schnelle zusammengeschustert, so ist in den Akten wegen der Öffentlichkeitswirksamkeit von einem Eilbedürfnis die Rede. Die kurzfristige Umsetzung und das dilettantische Vorgehenzeugen davon, medienwirksam doch noch etwas vorweisen zu wollen, bevor die Causa Rigaer wieder aus dem Gedächtnis der Bild-Leser_innen und Twitter-Trolle verschwindet. Die EG LinX löst sich schon kurze Zeit später, gemeinsam mit Frank Henkel, seinerzeit Innensenator von Berlin, in Luft auf.

Bei den Razzien werden fünf der 14 beschuldigten Personen angetroffen und zur ED-Behandlung verschleppt, alle lehnen die freiwillige DNA Entnahme ab. Der Staatsschutz wünscht sich zwar eine angeordnete DNA Entnahme bei allen, die Richterin ist jedoch der Auffassung, dass diese nicht ohne vorherige Anhörung und auch zu einem späteren Zeitpunkt umsetzbar sei. Zu diesem Zeitpunkt ist bereits klar, dass an einigen gefundenen Farbkugeln zu geringe Spuren anhaften und somit Auswertung und Abgleich sowieso ins Leere laufen werden. Bei den später untersuchten Gegenständen stellt es sich genauso dar. Die Kriminaltechnik möchte sich die Finger nicht schmutzig machen und verwendet einige Farbflaschen erst gar nicht, weil sie undicht sind. Bei den eingesendeten Eierschalen probieren sie es ebenfalls nicht, weil sie "sich in feuchtem Zustand befanden und damit für eine molekulargenetische Analyse ungeeignet sind." Die beschlagnahmten elektronischen Geräte werden nebst dem üblichen Vorgehen auf den Suchbegriff "https://linksunten.indymedia.org" überprüft. Beschuldigte, welche später die Abholung von beschlagnahmten Gegenständen selbst vornehmen, werden vor Ort zur ED-Behandlung gezwungen.

Die Ermittlungen begründen sich hauptsächlich auf Bildmaterial der Bullen. Ihnen liegt ein Video vor, das auf einer Teilstrecke aus einer Wanne heraus gefilmt wurde, welche die Demo verfolgte. Obwohl die Spürnasen viele Kameras auf der Route entdecken, gelingt ihnen nur die Sicherung einer einzigen Kameraaufzeichnung, welche trotz Tageslicht nur unbrauchbare Aufnahmen liefert. Weiterhin haben sie Fotos einer Observation aus dem Volkspark Hasenheide, der in der Nähe des Demo Startpunkts liegt. Der Bericht unterstellt "konspirative Vorbereitungshandlungen", weil ca. 15 Menschen beobachtet werden, die dort sitzen, sich unterhalten, umkleiden, Karten herumzeigen, an Fahrrädern hantieren und Handys in den Händen halten.

Sowohl die Bilder der Observation als auch die Aufnahmen aus der Wanne werden zur Identifizierung herangezogen und miteinander abgeglichen. Dabei werden einige Personen direkt anhand des Materials zugeordnet und die restlichen Bilder landen für drei Monate im Intranet der Berliner Bullen. Für einige beschuldigte Personen folgen zu dem Zeitpunkt unerklärliche Kontrollen bei Demos und Kundgebungen in Berlin und anderswo. Später wird klar, dass es sich um die Feststellung der Personalien für dieses Verfahren handelte. Mehr als ein Jahr nach der Demo wird die letzte Person als Tatverdächtiger aufgenommen, insgesamt gibt es am Ende der Ermittlung 19 Personen in diesem Verfahren.

Eine besondere Rolle bei der "Identifizierung" kommt dem LKA 644 zu, welches umgangssprachlich als PMS bekannt ist. Unter anderem weil die Demo kurzzeitig durch den Zivi-Wagen Volvo B-GC690 beobachtet wurde. Dabei tut sich insbesondere der Zivi mit der Codiernummer 99100564 hervor.Dies ist nicht der erste und wird bestimmt auch nicht der letzte Einsatz diesesselbsternannten Super-Identifizierers sein. Auch im März 2017 erkennt er angeblich Personen auf Bildern im Intranet der Polizei, die beschuldigt werden ein Erste-Hilfe-Kit geklaut zu haben. Der Staatsschutz erklärt sich in diesem Fall zuständig, da das Set laut LKA zur Unterstützung der Rigaer94 benutzt werden solle. Wir hoffen auf weitere Veröffentlichungen zu Ermittlungen, in denen 99100564 und Kolleg_innen sich in dieser Rolle hervortun.

Erst im Juni 2018 konnte Klarheit darüber erlangt werden, was es mit dieser sogenannten "gefahrenabwehrenden Maßnahme, der Observation in der Hasenheide, auf sich hat. Im Untersuchungsausschuss zum "Terroranschlag Breitscheidplatz" erklärt ein Bulle des MEK, dass die Observationen gegen Anis Amri im Juni 2016 eingestellt worden wären. Der Fokus sollte nunmehr auf zwei Personen liegen, die dem Umfeld der Rigaer94 zugerechnet werden und als Gefährder bzw. relevante Person geführt werden. Bei einer der Observationen, die in diesem Zeitraum stattfinden, entstehen die Bilder in der Hasenheide.

Während Anis Amri in dieser Zeit ernsthafte Bemühungen anstellt "... sich mit Schnellfeuergewehren des Typs AK47 zu bewaffnen, ...“ (aus der Observationsbegründung Amris), liegt die Priorität des Staates offenbar darauf, die Folgen der Henkelschen Eskalationspolitik auszubügeln. Der damalige Innensenator hatte mit der Rigaer94 endlich einen Grund gefunden, um seine Law-and-Order-Politik unter Beweis zu stellen. Seine Wiederwahl zu sichern, ist somit einer der entscheidenden politischen Einflussfaktoren im Verlauf des Sommers 2016. Umso peinlicher für Bullen und Senat am Ende, abgesehen von den Hausbesuchen, kein Ergebnis präsentieren zu können.

Da anscheinend selbst dem Staatsschutz bewusst geworden ist, wie nichtig und wenig nachhaltig die Entdeckung einer Fahrrad-Sponti ist, werden beflissentlich gefährlich klingende Konstrukte heraufbeschworen. Es wird daher versucht das Ereignis in einen größeren Kontext zu setzen: "Die im hiesigen Ermittlungskomplex beschuldigten Personen tauchten und tauchen immer wieder auch in anderen polizeilichen Ermittlungen zu Straftaten mit einer vermuteten linkspolitischen Motivationslage auf. Dabei agieren sie in kleineren oder größeren Gruppen miteinander, in verschiedenen Konstellationen, meist mit weiteren Personen, die im hiesigen Verfahren nicht erfasst sind." Belegt wird dies mit der Aufzählung von Namen der Beschuldigten, die darlegen soll, wer, wann, mit wem auf Demos oder vor Kneipen gesehen wurde, um daraus zu schlussfolgern: "Hier wird davon ausgegangen, dass die Personen Teil einer, durch Freundschaften und gleichgerichtete politische Überzeugungen eng verbundenen, Gruppierung sind, die sich, aus verschiedenen linkspolitisch besetzten Begründungszusammenhängen heraus, immer wieder zu Straftaten zusammenfinden."

In den folgenden Monaten wird das Verfahren bei diversen Personen eingestellt. Übrig bleiben neun Personen gegen die im September 2018 Anklage erhoben wird. Die Auswahl beschränkt sich dabei auf diejenigen, von denen die Bullen glauben, sie sowohl auf Bildern der Observation in der Hasenheide als auch der Demonstration erkennen zu können.

Es dauert weitere sieben Monate bis zu einer erneuten Regung des Justizapparats. Die Eröffnung des Hauptverfahrens wird von der Richterin am Amtsgericht abgelehnt, weil eine Verurteilung nicht zu erwarten sei, da selbst die Staatsanwaltschaft zugeben muss, dass die Farbbeutelwürfe keinen konkreten Personen zugeordnet werden können. Es sei außerdem kein auffälliges Verhalten festzustellen, dass ein arbeitsteiliges Vorgehen der Teilnehmer_innen zur Unterstützung des Farbbeutelwerfens belegen würde.

Weiterhin wird begründet, dass die Teilnahme an einer politischen Demonstration, aus der heraus Straftaten begangen werden, an sich keine Straftat darstellen könne: „Würde man allein das Mitfahren in dem Fahrradkorso ausreichen lassen, so könnte man auch bei anderen politischen Demonstrationen, wie beispielsweise der Revolutionären 1. Mai-Demo sämtliche Veranstaltungsteilnehmer festnehmen, weil einzelne Versammlungsteilnehmer Straftaten begangen haben (im Fall der Revolutionären 1. Mai-Demo sogar mit besserer Begründung, weil jedem, der an dieser Demonstration teilnimmt, klar sein muss, dass einzelne Versammlungsteilnehmer Straftaten begehen werden).

Außerdem wird bei keiner der Personen eine gesicherte Identifizierung angenommen. Da die Personen während der Demonstration mehrheitlich vermummt waren, seien die Fotos von der Demo zur Wiedererkennung ungeeignet. Sie teilt außerdem noch einen Seitenhieb in Richtung der "szenekundigen" Zivis aus, die sich bei jeder Identifizierung auf den Observationsfotos 100-prozentig sicher waren: „Das Photo ist zur Identifizierung gänzlich ungeeignet, daran ändert sich auch nichts dadurch, dass ein Polizeibeamter der Meinung ist, er hätte sie wieder erkannt.

Welch ein Verurteilungswille in diesem Fall besteht, macht Oberstaatsanwalt Fenner, zuständig für politisch motivierte Verfahren und somit wohlbekannt, mehr als deutlich klar. Er legt sofort Beschwerde gegen den o.g. Beschluss ein, dabei verärgert es ihn insbesondere, dass die Identifizierungs-Fähigkeiten der Polizeizeug_innen in Frage gestellt werden. Außerdem erkennt er bereits "durch die Beteiligung [...] eine psychische Beihilfe an einem besonders schweren Landfriedensbruch".

Im August 2019 kassiert OStA Fenner eine weitere Niederlage. Seine Beschwerde wird durch das Landgericht Berlin zurückgewiesen. Nach mehr als drei Jahren wird das Verfahren somit ein für alle Mal ad acta gelegt. Das Landgericht schließt sich weitestgehend dem Beschluss des Amtsgerichts an. Auch das Landgericht bestätigt, dass nur die nachweisliche Beteiligung an Gewalttaten aus einer Menge heraus, nicht der bloße Anschluss an eine unfriedliche Menge eine Strafbarkeit wegen Landfriedensbruch erfüllt.

Auch unabhängig von den Entscheidungen der Gerichte, fällt unsere Bilanz dieser Zeit positiv aus. Wir denken das Konzept eines dezentralen Tag X, welches auch zur Räumung der Kadterschmiede 2016 angewandt wurde, hat gut funktioniert. Es gab zahlreiche bunte, sowie militante Aktionen und äußerst wenig Festnahmen in den drei Wochen der Belagerung der Rigaer94. Die Fahrrad-Demo war eine der wenigen Aktionen, abseits der angemeldeten Demonstrationen, bei denen die Bullen überhaupt einen Ermittlungsansatz hatten. Entsprechend erfreut waren sie darüber, der Hauptstadtpresse nach Wochen der Berichterstattung über deutschlandweit eskalierende nächtliche Militanz, endlich einen vorgeblichen Ermittlungserfolg präsentieren zu können. Die Durchsuchungen in 14 Wohnungen und Projekten dienten zwar ihrem Zweck, kurzzeitig ein Bild polizeilichen Durchgreifens zu vermitteln und möglicherweise auch einzelne solidarische Menschen und Gruppen zu verunsichern. Mittel- und langfristig zeigte sich jedoch für uns, dass ihre Ermittlungen zu keinem Zeitpunkt geeignet waren, den Erfolg der damaligen Wochen oder den einer Fahrrad-Demo als anschlussfähiger Aktionsform zu schmälern. Wir begrüßen den Ansatz, am helllichten Tag selbstbestimmt - statt öffentlich, nur intern mobilisiert - mit vielen Menschen unterwegs zu sein, mit Raum für eigene Ideen und Straftaten.

Dennoch bedauern wir heute wie damals schon, dass eine angemessene Reaktion der Szene auf diesen und ähnliche Repressionsschläge weitestgehend ausblieb. Wir müssen weiter daran arbeiten, uns besser zu vernetzen und Strukturen zu schaffen, die in der Lage sind spontane und wütende Antworten auf solche Angriffe zu geben. Und so abgedroschen die folgende Phrase mittlerweile auch klingen mag, zwar waren wir in diesem Verfahren betroffen, aber es ist ein Angriff auf uns alle. Aus diesem Grund ist es uns von Anfang an auch wichtig gewesen, unsere Informationen zu teilen und damit in Zukunft eine bessere Verteidigung unserer Strukturen für alle zu ermöglichen.

Für mehr wilde Demos!

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Ergänzungen

In diesem Zusammenhang nochmal rausgekramt die Karte der Soliaktionen während der Belagerung:

https://umap.openstreetmap.fr/en/map/rigaer94-tage_93586#12/52.5062/13.3965

Wenn ihr dort raus zoomt seht ihr auch die Aktionen im Bundesgebiet aber besonders Interessant dürfte die Verbreitung über einen großen Teil des (Innen-)Stadtgebiets sein. Wenn ihr links im Menü die gestapelten Scheiben auswählt werden die Aktionen auch in einer Liste dargestellt und es lassen sich einzelne Tage ein- und ausblebenden. Die Fotos funktionieren bei den meisten Einträgen nichtmehr und bei den Links müsst ihr die Links zu einem Linksunten-Archiv ändern um sie klicken zu können.

Bilder: 

 

hat die richterin auch den 1.mai vergleich in klammern gebracht?

Würde man allein das Mitfahren in dem Fahrradkorso ausreichen lassen, so könnte man auch bei anderen politischen Demonstrationen, wie beispielsweise der Revolutionären 1. Mai-Demo sämtliche Veranstaltungsteilnehmer festnehmen, weil einzelne Versammlungsteilnehmer Straftaten begangen haben (im Fall der Revolutionären 1. Mai-Demo sogar mit besserer Begründung, weil jedem, der an dieser Demonstration teilnimmt, klar sein muss, dass einzelne Versammlungsteilnehmer Straftaten begehen werden).