Gegen den Genozid? Unbedingt!
Gegen den Genozid? Unbedingt! Aber am 11.10 auf die Strasse gehen? Nicht mit uns!
Verschiedene Gruppierungen aus der revolutionären Linken und aus der Palästina-Solidaritätsbewegung rufen am 11.10 zu einer Demo mit dem Slogan "2 Jahre Genozid - 100 Jahre Widerstand" auf. Die Demo wird als Abschluss einer Aktionswoche (4.10 bis zum 11.10) für die Befreiung Palästinas beworben. Diverse offene antifaschistische Treffen reden davon, dass der dekoloniale Kampf der Palästinenser:innen für die Befreiung Palästinas ein antifaschistischer Kampf sei. Der Demoaufruf, welcher erstaunlicherweise nicht auf Barrikade, sondern nur auf Social Medias zu finden ist, geht noch einen Schritt weiter. So ist in diesem Aufruf beispielsweise folgender Satz zu finden: "Seit Al-Aqsa-Flut ist klar geworden: Dekolonialisierung ist kein abstraktes theoretisches Konzept, sondern eine materielle Realität für die an allen Fronten gekämpft werden muss."
Klar und deutlich müssen wir darauf jedoch antworten: Das Abschlachten von Jüd:innen ist keine dekoloniale Realität, welche wir als revolutionäre Linke gutheissen können und widerspricht unseren Anliegen diametral. Die Gräueltaten der Hamas dürfen gerade aus antifaschistischer Sicht weder verharmlost noch umgedeutet werden - unabhängig vom genozidalen Verhalten des israelischen Staates an der palästinensischen Bevölkerung, welches genauso zu verurteilen ist.
Wir haben mit dem Fortschreiten des Krieges und des Genozids bemerkt, dass sich etwas tut in der Solidaritätsbewegung. Wir haben erste kleine Demos gesehen, an denen sich Islamist:innen versucht haben breit zu machen. Wir haben grössere Demos gesehen, an welchen bekannte Coronaleugner:innen und Antisemti:innen am Schluss mitgelaufen sind. Uns ist durchaus bewusst, dass die fraglos notwendige Solidartiät mit der Bevölkerung von Palästina leider auch das Potenzial aufweist dubiose Gestalten anzuziehen. Wir wissen, dass es nicht immer möglich ist, den Überblick über eine gesamte Demo haben zu können und dass solche Leute von dieser Tatsache profitieren können. Wir gehen somit davon aus, dass dies nicht bewusst von der revolutionären Linken mitgetragen wurde. Dennoch müssen wir uns mit den damit einhergehenden Gefahren - die wir ungewollt schaffen können - beschäftigen. Wir haben in der Schweiz das Glück einen anderen Diskurs führen zu können als in Deutschland, wo das Thema Palästina in der Linken für enorme Sprengkraft sorgt. So haben wir in der Schweiz beispielsweise keine grosse Tradition von Anti-Deutschen und diese Tatsache können wir in den allermeisten Fällen als durchaus positiv bewerten. Und doch gibt es da einen Punkt, den wir hier reflektieren müssen: das Geschichtsbewusstsein der Anti-Deutschen die Shoa betreffend, würde vielen Linken in der Schweiz vielleicht doch gut tun.
Da sich die revolutionäre Linke in der Schweiz - auch aufgrund der historischen Gegebenheiten - nicht gleich entwickelt hat, wie die revolutionäre Linke in Deutschland, erlauben wir uns an dieser Stelle auch, eine Selbstreflexion zu wagen, die weniger von internen Grabenkämpfen geprägt ist, als bei unseren Genoss:innen in Deutschland.
In diesem Sinne wagen wir es hier zu kritisieren, dass die berechtigte Demoforderungn von einem Ende des Genozids zu einem Feiern des Widerstandes übergeht. Wir verstehen zwar die Hilflosigkeit und Ohnmacht, die angesichts des barbarischen Leids, welches die rechtsradikale israelische Regierung in Gaza verursacht, entsteht und wir empfinden genauso. Wir teilen auch die Wut über die starke Ausbreitung von rechtsradikalen und religiösen Siedlungen in der Westbank. Und wir fühlen denselben Frust in Bezug auf die Zerstörung zahlreicher palästinensischer Dörfer und Städte.
Was wir jedoch nicht verstehen können, ist die zunehmende, undifferenzierte Glorifizierung des palästinensischen Widerstandes. Die unkritsche Haltung gegenüber der historischen PFLP sei davon ausgeklammert. Fakt ist jedoch, dass die heutige PFLP ohne den Willen der Hamas nichts mehr tun kann. Der bewaffnete palästinensische Widerstand ist vollständig unter Kontrolle von Jihadisten. Diese sind jedoch weder unsere Genoss:innen noch unsere Freund:innen. Dieser Widerstand hat keine emanzipatorische Perspektive. Warum sollen wir diesen glorifizieren? Warum wollen wir dessen Propaganda reproduzieren - sei es mit der Verwendung des roten Dreiecks in Videos als Markierung von Zielen (wie es auch die Hamas verwendet) oder durch die unkritische Rezitierung von Begrifflichkeiten der Hamas in Demonstrationsaufrufen?
Und dass im selben Text sogar noch das Abschlachten von knapp 1200 Jüd:innen und das Verschleppen von weiteren 250 jüdischen Opfern als dekolonialer Erfolg gefeiert wird, lässt uns komplett ratlos und empört zurück. Wir sehen die Notwendigkeit mittels Druck auf der Strasse die lokalen Player des Genozids in Bedrängnis zu bringen. Wir sehen die Notwendigkeit unser Möglichstes zu tun, um das Massaker in Gaza zu beenden. Wir sehen die Notwendigkeit die Hiflosigkeit und Barbarei zu druchbrechen. Aber nicht so!
Das Abfeiern eines Massakers an Jüd:innen kann nicht emanzipatorisch, revolutionär oder antifaschistisch sein. Der Umstand, dass unter den Opfern auch zahlreiche Kritiker:innen der rechtsradikalen Regierung waren, zeigt uns: Hier wurden wahllos Menschen massakriert. Hier mussten Menschen sterben, nur weil sie Jüd:innen waren.
So etwas kann und darf eine revolutionäre Linke niemals feiern.
Allein die Tatsache, dass die Demo so kurz nach dem Jahrestag dieses Massakers stattfindet ist schon fragwürdig. Der Umstand dass die vorhergehende Aktionswoche den Jahrestag selbst sogar miteinschliesst scheint zynisch. Dass aber die Demo von einem solchen Aufruf begleitet wird, geht uns definitiv zu weit.
Die Komplexität der Situation in Palästina ist uns bewusst und dass unser Aktivismus zu diesem Thema unbeabsichtigt auch Menschen eine Plattform bieten kann, deren Werte wir nicht teilen, ist vermutlich nicht in Gänze zu vermeiden. Dass die revolutionäre Linke jetzt jedoch selbst in Teilen zu Verharmlosung und Glorifizierung von solchen Gräueltaten tendiert, können wir so nichtmehr hinnehmen. Antifaschismus darf Unmenschlichkeit niemals gutieren. Spätestens seit diesem fragwürdigen Demoaufruf sehen wir uns gezwungen offen Kritik in den eigenen Reihen zu üben und bewusst ein Zeichen zu setzen. Wir möchten betonen das uns dieser Schritt nicht einfach fällt, aber wir finden, er ist jetzt nötig: Wir werden dieser Demonstration mit Absicht fernbleiben.
Uns ist bewusst das an der Demo wohl zahlreiche Menschen ohne Kenntnis von dem konkreten Inhalten des Demoaufrufs teilnehmen werden. Wir verstehen auch die Zwickmühle den Aufruf schlichtweg scheisse zu finden und dennoch den Drang zu verspüren an die Demo zu gehen. Trotzdem denken wir, dass es genug weitere Möglichkeiten gibt, sich für die Bevölkerung in Palästina zu engagieren - ohne solche Aufrufe zu verbreiten.
Falls ihr dennoch an die Demo geht, äussert euch doch selbst, mittels eigenen Transpis, mittels Flyer, mittels Parolen. Zeigt, dass ihr das Abschlachten von Jüd:innen genau so scheisse findet wie den Genozid. Und vergesst auch nicht die zahlreichen Menschen in Israel, welche gegen die rechtsradikale Regierung aktiv sind und welche z.B.den Militärdienst verweigern. Diese Menschen sind uns näher als Jihadist:innen.
Einige Anarchist:innen
