Die Menschheit ist schlecht organisiert

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Auf vielfachen Wunsch eines Einzelnen wird hier das Wort zum Sonntag von den Sylter Chaostagen veröffentlicht.

Liebe Mitmenschen, es gibt unterschiedliche Ansichten, was "Punk" eigentlich ausmacht. Eins der wenigen Dinge, auf die sich fast alle einigen können, lässt sich mit dem Wort "Konformitätsverweigerung" zusammenfassen. Deshalb habe ich mich auch entschlossen, das Wort zum Sonntag hier auf den Chaostagen 2025 zum Thema "Ordnung" zu halten. Meine These: Die Menschheit ist schlecht organisiert.

Vielleicht verstehen Sie das besser, wenn ich mit einem Beispiel anfange, das weit weg ist und Sie selbst nicht betrifft, denn andere zu kritisieren ist ja immer einfacher. Es gibt da eine Insel im Pazifik, wenn ich mich recht entsinne, wurde sie von irgendwelchen Eroberern Osterinsel genannt. Die Menschen dort lebten in sehr einfachen Verhältnissen, doch es fanden sich viele Spuren einer Vergangenheit, in der das anders gewesen sein musste. Die Forschung fand schließlich heraus, dass es auf der Insel früher viel Wald gab -- und eine weit entwickelte Zivilisation, die auf der Nutzung von Holz basierte. Aber eines Tages war der letzte Baum gefällt und die Leute fanden sich in kürzester Zeit buchstäblich in der Steinzeit wieder.

Wie das genau abgelaufen ist und warum niemand was dagegen getan hat (zumindest nicht erfolgreich), ist nicht überliefert, aber es scheint ein hierarchisches System bestanden zu haben mit irgendwas wie Königen. Die Leute haben sich drauf verlassen, dass die da oben das schon richten werden und die da oben haben das Problem entweder nicht erkannt oder keine Lösung dafür gefunden oder es war ihnen egal, jedenfalls haben sie dafür gesorgt, dass das Leben einfach weiterging wie immer (zu ihrem eigenen Vorteil -- vielleicht haben sie sogar Leute bekämpft, die etwas daran ändern wollten), bis es irgendwann nicht mehr weiterging. Das meine ich mit schlecht organisiert -- sie waren so organisiert, dass sie ein offensichtliches, existenzielles Problem nicht lösen konnten, ja vielleicht sogar so, dass mögliche Lösungen aktiv verhindert wurden.

Das Lachen über die Dummheit irgendwelcher Menschen weit weg bleibt Ihnen allerdings sehr schnell im Hals stecken, wenn Sie beginnen, über die aktuelle Situation der Menschheit insgesamt nachzudenken, denn dann sehen Sie, dass wir gerade genau dasselbe betreiben. Die größte Dummheit ist der Krieg. In der aktuellen Organisationsform der Menschheit, mit Staaten, Herrschaft, Besitz usw. ist es logisch, dass Menschen sich diese gewaltsam aneignen wollen. Und wenn andere verhindern wollen, dass jene das auf ihre Kosten tun, müssen sie sich Mittel verschaffen, um sie gewaltsam daran zu hindern. Also werden irrsinnige Ressourcen in die Rüstung gesteckt und wenn sie zum Einsatz kommen, passieren noch irrsinnigere Dinge. Aber alle Beteiligten erklären uns mit den vernünftigsten Argumenten, dass sie so handeln müssen, weil sie von den anderen dazu gezwungen werden. Es ist logisch im Rahmen unserer Organisationsform, obwohl es neutral von außen betrachtet absolut schwachsinnig ist.

Dass wir Menschen schlecht organisiert sind, zeigt sich auch im Umgang mit der anderen existenziellen Bedrohung, dem Klimawandel. Mit dem Aufkommen der modernen Physik im 19. Jahrhundert wurde es möglich, Strahlungsmengen und Wärmeenergie zu berechnen, aber dabei zeigte sich eine Differenz: Mit der errechneten Strahlungsenergie der Sonne ergab sich für die Erde eine durchschnittliche Oberflächentemperatur von minus 15 Grad. Offensichtlich war die Erde aber kein Eisplanet, sondern mit durchschnittlich plus 18 Grad deutlich wärmer. Das Rätsel wurde schließlich gelöst: Es gibt Gasmoleküle, die die Sonnenstrahlung so zurückhalten können, dass die Wärme nicht gleich wieder in den Weltraum entweicht, der sogenannte Treibhauseffekt. Dass Kohlendioxid eins dieser Gasmoleküle ist, dass durch die Verbrennung von Kohle zusätzliches Kohlendioxid in die Atmosphäre gelangt und dass dadurch die Durchschnittstemperatur auf Dauer irgendwann ansteigen muss, wurde ebenfalls noch im 19. Jahrhundert erkannt. Konsequenzen hatte diese Erkenntnis nicht.

Spätestens Ende der 1980er-Jahre lagen ausreichend wissenschaftliche Beweise für den Zusammenhang zwischen Temperatur und Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre vor und es wurde von der Wissenschaft benannt, dass hier Handlungsbedarf bestehe. So stand 1989 im Mannheimer Forum, dass die Wirtschaft entsprechend umgestellt werden müsse, dass das eine sehr große Aufgabe sei, aber machbar, wenn man jetzt damit begänne -- dass aber zu befürchten sei, dass die Politik erst reagiere, wenn das Problem deutlich sichtbar und die Zeit entsprechend knapper sei. Es kam noch schlimmer. Tatsächlich reagierte die Politik zwar in den 1990ern mit dem Kyoto-Protokoll und diversen Klimakonferenzen, aber effektiv ist der Treibhausgasausstoß bis heute nicht zurückgegangen, obwohl das Problem 25 Temperaturrekordjahre später mehr als offensichtlich ist.

In einer vernünftig organisierten Welt würden wir längst auf erneuerbare Energien umstellen und -- wenn das nicht reicht -- auch ernsthaften Konsumverzicht betreiben. Vielleicht müssten wir auch gar nicht verzichten, wenn wir mehr gemeinsam nutzen würden. Es ließe sich für alle eine vernünftige Lösung finden. Dass wir nicht einfach den Ast absägen können, auf dem wir sitzen, ist doch eigentlich sonnenklar. Aber genau wie es die Menschen auf dieser eingangs erwähnten Insel nicht geschafft haben, den Wald zu retten, von dem sie lebten, scheitert die Menschheit als Ganzes an dieser Aufgabe. Es liegt an unserer Organisationsform. Alle fossilen Rohstoffe der Erde sind insgesamt -zig Billionen Dollar/Euro/... wert. Jetzt im Moment. Wenn wir das Klima retten und auf erneuerbare Energie umstellen, sind sie nur noch wertloser Dreck im Boden. Nur ein minimaler Teil davon würde vielleicht noch für irgendwelche chemischen Anwendungen gebraucht -- kaum Nachfrage, viel Angebot, Preis nahe null. Nun gibt es aber zu all diesen -zig Billionen jemanden, der hofft, sie verdienen zu können und deshalb verhindern möchte, dass sie sich in Luft auflösen. Und genau das ist die Fallhöhe, bzw. der Rahmen für das Budget, das die jeweiligen Personen und Institutionen nach der herrschenden Logik dafür einsetzen können und müssen, um zu verhindern, dass das Klima gerettet wird.

Da kämpfen plötzlich die traditionell größten Feinde Seite an Seite, russische Staatsorgane in trauter Eintracht mit texanischen Ölbaronen, miteinander konkurrierende Konzerne und ideologisch verfeindete Organisationen, Parteien und Regierungen. So überflutet uns eine Welle von Desinformation und Propaganda bis hin zur Gehirnwäsche. Na schauen Sie sich doch mal um! Wieviele Menschen gibt es da, sogar hier auf dem Platz, die bei Stichworten wie "Grüne" oder "Umweltschutz" reflexartig Gift und Galle spucken, bzw. Parolen, die ihnen tagtäglich eingetrichtert werden, etwa über "Verbotsparteien" und "Klimaideologie"? Dabei ist die Ideologie, die sie selbst nie hinterfragen schlicht: Brumm brumm muss sein, ich muss mit dem Flieger in den Urlaub und mit Tempo 200 über die Autobahn brettern, sonst bin ich nicht "frei".

In letzter Zeit kommt eine weitere Argumentationsfigur hinzu. Leute, die bis vor kurzem abgestritten haben, dass es den Klimawandel überhaupt gibt, erklären nun, dass man gegen den Klimawandel sowieso nichts mehr machen könne und sich halt anpassen müsse. Dabei gibt's für den Treibhauseffekt kein Limit! Wenn man sich an zwei Grad Erwärmung anpasst, aber weiter Treibhausgase produziert, muss man sich in absehbarer Zeit an vier Grad mehr anpassen, dann an sechs Grad usw. Das ist, als würde man sich in einem brennenden Haus einfach in ein Zimmer zurückziehen, das noch nicht brennt, und wenn's dort auch brennt, ins nächste... aber auf gar keinen Fall das Feuer löschen wollen. Angesichts der Lage glatter Wahnsinn, aber in einer um Profit und Herrschaft organisierten Menschheit einfach nur logisch konsequentes Handeln.

Ein Problem ist, dass wir gar keine Vorstellung davon haben, wie wir uns anders organisieren können. Also natürlich gibt es diverse Vorstellungen, aber sie kommen selten weit über das Bestehende hinaus. Manchmal finde ich einen Text mit einem interessanten Ansatz, doch nach zwei oder zwanzig Seiten mündet er dann doch wieder in das klassische Runterbeten marxistischer Glaubenssätze und den Staatskapitalismus. In der anarchistischeren Variante läuft's auf freier und selbstbestimmter organisierte Strukturen raus, die dann aber doch wieder in Wirtschaftsbeziehungen treten sollen, die das Tauschprinzip nicht überwinden und letztlich zu Konkurrenz führen. Zu viel wird nachgeplappert, zu wenig selber nachgedacht, dabei müssen wir die heutigen Verhältnisse stürzen und nicht die von vor 150 Jahren.

Eigentlich hat die Menschheit über zehn Millionen Tonnen Hirn zur Verfügung und könnte sie einsetzen, um ihr Überleben zu organisieren, aber offensichtlich fehlt die Fantasie dazu. Es erinnert mich an die Geschichten von brennenden Ställen. Ein Freund von mir ist bei einer Dorffeuerwehr und da sterben bei solchen Stallbränden manchmal Tausende von Tieren. Gerade Schweinefabriken sind ein Problem. Die Batterieschweine rennen nämlich nicht einfach raus, wenn man ihnen das Stalltor aufmacht. Die wissen ja gar nicht, was "draußen" ist, weil sie da nie waren und deshalb keinerlei Vorstellung davon haben, was es bedeuten könnte. Selbst wenn sie -- Schweine sind ja intelligent -- durch philosophische Überlegungen zu dem Schluss kämen, dass es ein "Draußen" geben muss, z. B. weil sie Sachen fressen, die offensichtlich irgendwo herkommen und nicht im Stall entstehen, ist es ihnen nicht möglich zu erkennen, dass der unbekannte helle Fleck hinter dem Stalltor dieses "Draußen" ist und ein angenehmerer Aufenthaltsort als der brennende Stall sein könnte. Stattdessen drängen sie sich in Panik zusammen und verrecken gemeinsam, wenn die Feuerwehr es nicht schafft, sie einzeln rauszutreiben.

In diesem Sinne wünsche ich uns allen, dass die Chaostage helfen mögen, Grenzen der Vorstellung vom Zusammenleben zu überwinden, ja Grenzen unserer Vorstellungskraft zu erweitern und den Verstand für Ungewohntes zu öffnen, jenseits von Kapital und Herrschaft. Raus aus dem Schweinestall, sonst geht's ab in die Steinzeit. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Anmerkung: Dieser Redetext ist nur ein Denkanstoß und erhebt keinen Anspruch auf vollständige historische, physikalische oder sonstige Korrektheit. Korrekturhinweise deshalb gern ergänzen.

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