Klassenjustiz: 19-jähriger Algerier zu 10 Monaten wegen Ladendiebstahls verurteilt!
Am Vormittag des 03. Juli sitzt der 19-jährige Abdel Haddad (Name geändert) mit Fußketten in Saal 8 des Freiburger Amtsgerichts. Nur zwei Stunden später wird er zu 10 Monaten Jugendstrafe ohne Bewährung verurteilt werden.
Die Vorgeschichte
Abdel Haddad wurde im September 2005 in Algerien geboren, als Sohn eines Fischers und einer Hausfrau; es gibt drei Brüder und eine Schwester. Als er 2023 Algerien in einem Schlauchboot verlässt und im Mittelmeer nach Spanien übersetzt, kommt er auf Mallorca für einige Monate in ein Pflegeheim für Minderjährige, bevor er, nach mehreren Zwischenstopps in anderen Ländern, schließlich vor einem Jahr in Deutschland einreist. Kurz nach der Einreise wird er im Zusammenhang mit Diebstählen verhaftet und von Anfang September bis Februar dieses Jahres in Haft gehalten. Für einige wenige Diebstähle, Fußballschuhe die schon zwei Jahre alt waren, zwei Smartphones und einem E-Scooter, wird er zu sechs Monaten Jugendstrafe verurteilt. Fast die komplette Strafe verbringt er in Untersuchungshaft. Am 27. Februar 2025 wird er nach Vollverbüßung entlassen.
Die Anklage
Insgesamt legt die Staatsanwältin, Abdel Haddad fünf Diebstähle zur Last, darunter einen Nagelknipser und ähnliches in einem EDEKA (Wert: ca. 26 €), Drogerieartikel von knapp 40 € in einem dm, einem Mitarbeiter der Freiburger Stadtreinigung soll er sein Diensthandy geklaut oder als Diebesgut für 20 € gekauft haben. Im Breuninger-Kaufhaus habe er eine Jogginghose für 120 € mitgehen lassen (wobei er vor Verlassen des Ladengeschäfts festgehalten wurde).
Schlussendlich soll er zudem einer jungen Frau am Freiburger Bahnhof das Smartphone aus der Jackentasche gestohlen haben. Seit dem 12. März befindet er sich wegen dieser Vorwürfe in Untersuchungshaft.
Die Hauptverhandlung
Da Abdel Haddad noch keine 21 Jahre alt und deshalb Heranwachsender ist, findet die Verhandlung vor dem Jugenschöffengericht unter Vorsitz von Richter Wachter statt. Neben der Sitzungsstaatsanwältin sitzt noch ein Vertreter der Jugendgerichtshilfe, Herr M. Verteidigt wird Abdel Haddad von dem sehr erfahrenen Freiburger Rechtsanwalt Dr. Klaus Malek. Auf die Vernehmung von Zeug*innrn wird weitestgehend verzichtet. Es werden einige Videos aus Ladengeschäften vorgeführt, auf diesen soll zu sehen sein, wie der junge Mann Sachen klaut.
Dieser sitzt meist still, etwas verschüchtert zwischen Verteidiger und Dolmetscher. Wenn er spricht, dann sehr leise. Die aktuelle Haft belaste ihn sehr, insbesondere die Unterbringung in einer Einzelzelle, er wolle lieber mit anderen zusammen sein- in diesen Momenten wird seine Verlorenheit spürbar. Ebenso, wenn sein Rechtsanwalt sagt, sein Mandant habe ihm erzählt, er liebe Deutschland, und er ihm darauf erwidert habe: "Deutschland liebt aber Sie nicht: schauen Sie wo Sie sind."
Einziger Zeuge der vernommen wird, ist der Mitarbeiter der Stadtreinigung, dem das Diensthandy auf dem Stühlinger Kirchplatz geklaut worden war.
Die Verhandlungsführung des Vorsitzenden ist gewöhnungsbedürftig: mal blätterte es stumm minutenlang in Akten, dann wiederum insistierte er nachdrücklich beim Angeklagten, weshalb dieser keinen Pass bei sich habe, sondern diesen in Italien, bei einem seiner Brüder gelassen habe. Das sei für ihn nicht nachvollziehbar. Der Verteidiger verweist darauf, dass sich Abdel und der Bruder gestritten hätten und Abdel dann eben ohne Pass abgehauen sei.
Im Publikum saßen nur vier Menschen, allesamt im Rahmen einer „CourtWatch“-Gruppe, die öffentliche Verhandlungen besucht- ohne sie, wären die Zuschauer:innenreihen leer geblieben.
Der Vertreter der Jugendgerichtshilfe war nur teilweise eine Hilfe für den Angeklagten: ja, bei diesem sei Jugendstrafrecht anzuwenden, denn in seinem Reifegrad sei er noch nicht einem Erwachsenen gleich zu stellen. Allerdings bestünden „schädliche Neigungen“, in Gestalt fortgesetzter Diebstähle, es sei auch künftig mit solchen Taten zu rechnen.
Seitens des Vorsitzenden wurde noch ergänzt, die Ausländerbehörde strebe die Überstellung des Angeklagten nach Spanien an. Dies sei bislang nur daran gescheitert, weil die Bundespolizei keine Kapazitäten für die Abwicklung habe aufbringen können.
Das Urteil
Während Rechtsanwalt Malek für seinen Mandanten eine Strafe von nicht mehr als sechs Monaten Jugendstrafe forderte, verurteilte das Gericht Abdel Haddad zu jenen 10 Monaten, wie sie die Staatsanwältin gefordert hatte. Abdel entschuldigte sich in seinem letzten Wort noch ausdrücklich für die Taten, aber das sollte ihm nicht helfen.
Es lägen „schädliche Neigungen“ vor, so das Gericht. Die Rechtsprechung versteht darunter eine „nachhaltig vorhandene, tief verwurzelte, zur Begehung erheblicher Straftaten drängende Fehlentwicklung, die ohne intensive erzieherische Einwirkung nicht zu beseitigen ist“. Zudem liege ein besonders schwerer Fall des Diebstahls vor, denn Abdel Haddad hätte gewerbsmäßig gehandelt, um zumindest teilweise seinen Lebensunterhalt zu finanzieren.
Zwar habe man sich seitens des Gerichts hinterfragt, bringe der Strafvollzug denn überhaupt etwas, aber es gehe nicht an, zu sagen, „es bringt eh nichts“. Der erzieherische Bedarf des Angeklagten sei als hoch einzuschätzen, und daran habe man sich orientiert, auch wenn in naher Zukunft mit der Überstellung nach Spanien zu rechnen sei.
Bewertung und Ausblick
Das Verfahren ist zwanglos einzuordnen unter den Begriff der Klassenjustiz: ein junger Mann, der es geschafft hat, das Mittelmeer im Schlauchboot zu überqueren, ohne zu ertrinken, wird für Bagatelldiebstähle zu einer zehnmonatigen Haftstrafe verurteilt, von der selbst der Vorsitzende sagt, man könne ohne weiteres fragen, wie sinnvoll das sei und Fälle wie diese seien „ernüchternd“. Aber in der Jugendstrafanstalt Adelsheim könne man nun erzieherisch auf ihn einwirken, wenn er das Urteil gleich annehme. Dann hätte man dort nämlich immerhin sechs Monate Zeit. Hier wurde es in der Begründung des Gerichts erratisch, denn noch kurz zuvor rechnete der Richter vor, dass die Ausländerbehörde und Bundespolizei hart daran arbeiteten, Abdel Haddad so bald wie möglich nach Spanien zu verschicken.
Joachim Walter, Jurist und Psychologe, langjähriger Leiter genau jener Anstalt in Adelsheim, in welcher nun angeblich wertvoll erzieherisch auf Abdel Haddad eingewirkt werden soll, schreibt heute: „Ich habe noch nie einen Menschen kennengelernt, dem es gut ging, wenn ihm die Freiheit genommen wurde. Das Problem ist, dass das massenhafte Wegsperren aller Straftäter unter denselben Bedingungen nicht richtig sein kann.“ (Badische Zeitung)
