"Eigentum ist Diebstahl" - Ein Prozess, welcher der Betroffenen und allen Beobachter*innen viel Kraft gibt

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Am 21.10.2019 wurde unserer Freundin Emma der Prozess wegen (bewaffneten) Diebstahls im Wert von über 700 Euro beim Sporthandel „Decathlon“ gemacht. Emma führte den Prozess politisch, sie selbst und alle Beobachter*innen empfanden die Art und Weise, wie sich Emma und die Beobachter*innen einbrachten und nicht einbrachten sehr kraftgebend für den Umgang mit Repressionsbehörden. Deswegen wollen wir unsere gemeinsamen Erfahrungen an dieser Stelle teilen.

Prozess aus Emmas Sicht

Schon kurz nach der Anzeige spürte ich viel Solidarität und Verbündetenschaft. Menschen teilten ihre unterschiedlichen Erfahrungen, Vermutungen, Meinungen und Ängste mit mir. Obwohl ich anfangs noch verunsichert war, bestärkte mich die inhaltlich-strategische Diskussion und die emotionale Unterstützung in der Überzeugung, dass Solidarität stärker ist als jede staatliche Repression. Dies half mir sehr die Entscheidung zu treffen, einen politischen Prozess zu führen, indem ich eine aktive Rolle einnehme und mich gleichzeitig der juristischen Gaukelei verweigere. Es ging mir immer mehr darum, mich nicht der Logik der Vereinzelung und Entpolitisierung des Gerichts zu beugen. Nach und nach entwickelten wir eine Strategie, die zu mir passt und meinen Möglichkeiten entspricht. Dadurch konnte ich meine Überzeugung festigen und war ich mir sicher, dass ich mit den Konsequenzen zurecht kommen werde.

Am Tag des Prozesses war es trotz der bereits gespürten Unterstützung eine große Freude zu sehen, wie viele solidarische Menschen als Unterstützer*innen kamen. Allen Anwesenden war es wichtig einerseits unterstützend mir gegenüber, aber auch autonom und in ihrem individuellen Möglichkeiten widerständig zu sein. Im Vorfeld waren sich einige Menschen sicher, sich vor der Richterin nicht erheben zu wollen, um ihr und dem Gericht den Respekt zu verweigern. Es wurde über mögliche Konsequenzen für diesen Widerstand gesprochen, um sich gemeinsam darauf vorzubereiten.

Es entstanden viele Momente des kollektiven Widerstandes, die sich gegenseitig bestärkten: die Menschen neben mir klatschen, redeten, lachten, raschelten und aßen genüsslich ihre laut knackenden Snacks. Immer wenn ich mich zu ihnen umdrehte, teilten sie ein Lächeln, ein Nicken und viele weitere Gesten der Unterstützung mit mir. Dies gab mir immer wieder Kraft und bestärkte mich nur darin, mich der Logik von individueller Schuld und Unschuld zu verweigern. Vielleicht klingt es absurd, aber es wird diese Unterstützung sein, die mich den Prozess nicht vergessen lässt - nicht die Angst vor Repression. Vielen Dank an alle Beteiligten für diese gemeinsame Erfahrung!

Die Herablassung der Richterin und des Staatsanwalts konnten dagegen in keiner Weise mithalten. Ihre Worte, die nur darauf abzielten mich einzuschüchtern und ihrer Erzählung zu folgen, trafen mich nicht. Es war deutlich zu sehen, dass die bloße Anwesenheit solidarischer Unterstützer*innen, die Ankündigung den Prozess politisch zu führen und die vielen widerständigen Momente der Richterin ein Dorn im Auge waren. Die Aussage, sie nähme uns und unsere Positionen nicht ernst, führte sie durch ihre offensichtliche Wut ad absurdum. Nachdem das Theater vorbei war, spürte ich durch die erfahrene Solidarität und meiner Strategie, mich dem Prozess juristisch zu verweigern, tatsächlich nur Freude und Stärke.

Prozess aus Sicht der Beobachter*innen

Schon vor Prozessbeginn soll sich die Richterin darüber aufgeregt haben, warum etwa 20 Linke wegen eines Ladendiebstahls vor Gericht auftauchen. Da hätte sie wohl keine Lust drauf. Wie gut, dass uns ihre Meinung so überhaupt nicht interessiert.

Kurz vor halb Zehn finden sich Emma und alle Unterstützer*innen im Gerichtssaal ein. Die Stimmung ist gut und die Solidarität spürbar.

Der Prozess startet mit den obligatorischen Fragen zu Emmas Person. Unsere Freundin antwortet auf die Frage nach eigenen Kindern mit einem Kopfschütteln. Das gefällt anwesenden Staatsdiener*innen überhaupt nicht und sie wird dazu aufgefordert,laut und deutlich Auskunft zu geben. Danach verweigert Emma die Angabe, woher sie ihren Lebensunterhalt bezieht. Wenn die Richterin schon vor dem Prozess alles andere als erfreut war, dass der Prozess begleitet wird, ist sie spätestens jetzt auf den Trichter gekommen, welche Reise die Prozessführung annimmt. Dementsprechend ist sie von Anfang an vollkommen abgenervt.

Nach der Anklageverlesung durch einen anscheinend gerade erst frisch auf den Arbeitsmarkt geschmissenen und brutal nervösen Staatsanwalt beginnt der eigentlich wichtige Part der Verhandlung. Emma verliest ihr politisches Statement (https://de.indymedia.org/node/42674). In diesem stellt Sie klar, dass sie nicht vor Ort sei, um sich zu rechtfertigen oder sich verurteilen zu lassen. Sie möchte darauf aufmerksam machen, wie wichtig Widerstand in dieser kapitalistischen Gesellschaft ist und wir uns der Logik des Kapitals keineswegs beugen müssen. Dass Diebstahl auch immer einen politischen Akt darstellt, da wir es hier mit Selbstermächtigung und auch der Klassenfrage zu tun haben – dem Durchbrechen einer sich immer weiter drehenden Spirale des Kapitals.

Was bei dem anwesenden Publikum für Gänsehaut und Applaus sorgt, löst bei der Richterin nur genervtes Stöhnen und angepisstes Armeverschränken aus. Direkt nach dem Statement versucht sie Emma die Welt zu erklären: „Sie können sich glücklich schätzen in diesem Rechtsstaat zu leben“. Danach herrscht Stille. Emma hat alles gesagt. Es wird keine weiteren Äußerungen von ihr und der Anwältin geben. Eine bewusste Entscheidung. Ab jetzt dürfen sich die Staatslakaien selbst bespaßen.

Zeuge Nummer eins ist der Ladensecurity, der Emma bei dem Diebstahl erwischt haben will. Seine Aussage ist eine kleine Achterbahnfahrt. Seine Erzählungen decken sich anfangs nicht mit dem Protokoll. Zwischenzeitig könnte man das Gefühl entwickeln, dass die Richterin ihn nicht für ganz voll nimmt. Das ändert sich auch nicht wirklich als er angibt, eigenmächtig Sicherheitstechnik in dem angeblich gestohlenen Zelt versteckt zu haben. Was ihn dazu bewegte, bleibt ein Rätsel. Selbst die Richterin hält dies für merkwürdig. Übrigens: die Sachen, die Emma gestohlen haben soll, wurden mittlerweile vernichtet. Verschwendung kennt keine Grenzen. Die Richterin bemerkt während der Zeugenaussage dann auch, dass der Wert von über 700 Euro für ein Paar Schuhe, zwei kleine Zelte, einen Magnesiumbeutel und ein Zahlenschloss doch immens hoch sei. Das ein „Haufen in China produziertes Plastik“ so teuer sein soll, scheint selbst ihr schleierhaft. Tja - auch aus Ausbeutung entstandene Produkte lässt sich Decathlon teuer bezahlen.

Da noch im Raum steht, dass der Diebstahl bewaffnet stattgefunden haben soll, wird er dann nach eben dieser Waffe gefragt. Der Ladensecurity behauptet, Emma hätte einen Seitenschneider dabei gehabt. Die Richterin korrigiert: es handelte sich um eine Nagelschere.

Beim zweiten Zeugen handelt es sich um den 24-jährigen Bullen Cornelius Unbehauen. Seine Aussage ist sehr kurz. Er wurde zum Laden gerufen, durchsuchte Emma, fand die Nagelschere und ging. Während er erzählt, hallen, von der Richterin unkommentiert, unsere Essgeräusche und Lacher durch den Saal.

Es folgt die Forderung des Staatsanwaltes nach einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen. Die Richterin ermahnt völlig entnervt, der Staatsanwalt hätte „die Einziehung der Nagelschere vergessen“. Sie zieht sich zurück. Bei ihrer Rückkehr sollen sich alle Anwesenden zur Urteilsverkündung erheben. Die meisten Beobachter*innen verweigern das und so droht die Richterin mit Saalräumung. Diese Drohung hält sie ganze drei Sekunden aufrecht, um dann mit einem Kopfschütteln und dem Genuschel "Ach, ist mir eh egal was ihr denkt." fortzufahren. Emma wird zu 120 Tagessätzen á 15 Euro und zur Zahlung der Gerichtskosten verurteilt. Dies wird damit begründet, dass es sich tatsächlich um bewaffneten Diebstahl handelt, da sie die Nagelschere bei sich trug. Zum Schutz der Gesellschaft oder sowas wird die Nagelschere eingezogen.

Offensichtlich hat die Strategie von Emma und ihr Statement, sowie das Publikum die Richterin derart genervt, dass sie noch abschließend ihre Meinung kundtun muss: „Sie alle wissen offensichtlich nicht den Rechtsstaat zu schätzen. Sie können froh sein, dass wir noch in einem leben.“ Noch? Was sie uns damit prophezeien will, bleibt im Interpretationsspielraum aller Zuhörer*innen.

Gemeinsames Fazit aller Beteiligten

Schon bei Prozessbeginn waren die Staatsschweine genervt von der politischen Prozessführung Emmas. Ebenso abgenervt waren sie von den Beobachter*innen, welche gerne lachten, sich unterhielten, genüßlich aßen und sich weigerten, den Forderungen der Richterin zu beugen. Auch wenn die Richterin am Ende behauptete, Emma ihr Statement nicht abzunehmen und sie den politischen Wert ihrer Tat nicht anerkennen würde, so hat sich an diesem Tag eines ganz klar gezeigt:

Es ist uns gemeinsam gelungen, Richterin und Staatsanwalt bloßzustellen und ihnen zu zeigen, dass sie mit ihrer Forderung nach Respekt und Anerkennung ihrer Autorität, der heuchelei, es würde hier angeblich um irgendwas „rechtliches“ gehen sowie ihrem Bestreben, alle Anwesenden in ihrem Ausdruck des Widerstandes zu unterdrücken, nicht weit gekommen sind. Es entstand ein Moment des kollektiven Widerstandes, der uns sehr in unseren Haltungen bestärkt hat. Es ist uns gemeinsam gelungen diesen Prozess als politisch zu entlarven und Sand im üblichen Getriebe des Gerichts zu sein.

Solidarität und eine politische Prozessstrategie können aus einem so widerlichen Schmierentheater eine gute Erfahrung machen. Solidarität und Unterstützung für diejenigen die sich widersetzen, ist in den Zeiten des zunehmenden Faschismus, unbändiger Dekadenz, Ausbeutung und Unterdrückung vieler durch einige Wenige sehr wichtig. Also begleitet eure Gefährt*innen zu Prozessen! Wehrt euch gemeinsam, lasst niemanden allein!

 

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