Prävention gegen Rechtsextremismus: „Politische Bildung hat noch nie so richtig gut funktioniert“

<p>Seit dem Erstarken rechter Parteien wird die Forderung nach besserer politischer Bildung lauter. Doch was kann Schule in Zeiten wie diesen überhaupt leisten? Bildungsexperte Aladin El-Mafaalani erklärt, wo die Probleme liegen – und wie man es besser machen könnte.</p>
<p><strong>Herr El-Mafaalani, kann mehr politische Bildung einen Rechtsruck verhindern?</strong></p>
<p>Es ist immer wünschenswert, wenn wir im Bildungsbereich viel ausführlicher und anspruchsvoller politische Themen behandeln und Kompetenzen vermitteln. Wichtig klarzustellen ist aber auch: Der Rechtsruck ist kein Phänomen, das in besonderer Weise junge Menschen betrifft. Menschen, die sich von populistischen Gedanken angezogen fühlen und nicht ausschließen, entsprechend zu wählen, gibt es in allen Altersgruppen.</p>
<p>Würde man also Populismus als ein Defizit an politischer Bildung sehen, dann müsste man zu dem Schluss kommen, dass politische Bildung auch in der Vergangenheit nicht funktioniert hat, wie wir an den vielen Erwachsenen heute ja sehen.</p>
<p><strong>Schieben wir ein Stück weit Verantwortung weg, wenn wir jetzt fordern, Jugendliche besser zu schulen?</strong></p>
<p>Mehr Bildung ist nie verkehrt. Aber Bildung ist auch nicht das Allheilmittel. Außerdem: Veränderungen im Bildungssystem werden erst viele Jahre später Früchte tagen. Daher fände ich es gut, wenn wir Erwachsenen schon mal loslegen würden und nicht einfach nur sagen, wir müssten mal was im Bereich Bildung machen. Politische Herausforderungen löst man über politische Entscheidungen.</p>
<p><strong>Welche Entscheidungen müssten denn getroffen werden, um zum Beispiel ein Erstarken der AfD zu verhindern?</strong></p>
<p>Erst einmal müssen wir den Hintergrund verstehen, warum die AfD gerade so stark ist. Verschiedene Dinge sind da aktuell relevant. Wir leben in einer total unsicheren Zeit. Wir haben weltpolitisch und ökologisch immer größere Herausforderungen, hinzu kommen bei uns die demografischen Veränderungen.</p>
<p>Der wichtige Punkt ist: Wenn die Gegenwart hochproblematisch wirkt, und die Zukunft den Eindruck macht, dass es noch schlimmer werden könnte, fangen viele Leute an, die Vergangenheit zu glorifizieren. Und genau das nutzen Populisten, egal in welches Land wir schauen: Zurück in die angeblich guten alten Zeiten. Die Aufgabe ist daher, die Gegenwart klarer zu beschreiben und eine Zukunftsperspektive zu entwickeln, die Chancen und Orientierung bietet.</p>
<p><strong>Aber warum ist die AfD ausgerechnet jetzt so stark?</strong></p>
<p>Unter anderem deshalb, weil die Regierung wenig zur stärkeren Orientierung beiträgt. Stattdessen wirkt alles noch diffuser. Dabei spreche ich weniger von den Entscheidungen der Ampelregierung als von der Art der Kommunikation. Diese vermittelt nicht den Eindruck, als gäbe es eine Strategie, wie sie den Herausforderungen der Gegenwart begegnet und welche Perspektive es für die Zukunft geben könnte. Wir haben also ein Problem, das die Regierung selbst verstärkt, aber auch die grundsätzliche Herausforderung, dass es Ungewissheiten gibt, die man gar nicht auflösen kann.</p>
<p><strong>Wenn alles unsicher, orientierungslos erscheint, kann Schule es dann überhaupt leisten, aus Jugendlichen mündige Bürger zu machen?</strong></p>
<p>Das sollte eine Zielperspektive sein. Aber erst einmal sollten wir anerkennen, dass das weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart besonders gut geklappt hat. Ich finde es problematisch, wenn die Älteren sagen, gerade heute wäre in dieser Hinsicht etwas nicht in Ordnung. Wir sehen, dass junge Menschen viel mehr partizipieren wollen, dass sie politisierter sind und viele Ungerechtigkeiten wahrnehmen. Wir müssen politische Bildung als übergreifende Herausforderung sehen, also auch in der Erwachsenenbildung. Und wenn Sie jetzt nach Schulen fragen: Man muss sie auch in die Lage versetzen, politische Bildung besser umzusetzen.</p>
<p><strong>Was für Bedingungen bräuchte es dafür?</strong></p>
<p>Es braucht natürlich mehr Geld und bessere Rahmenbedingungen insgesamt, damit die Bildungsinstitutionen überhaupt vernünftig arbeiten können. Dann braucht es aber auch eine Umorganisation. Es gibt massive Veränderungen, unsere Schulen aber sind noch sehr in der Vergangenheit gefangen.</p>
<p><strong>Welche massiven Veränderungen sind es, die auf Schule einwirken?</strong></p>
<p>Eigentlich konnte man noch nie davon ausgehen, dass Kinder in homogenen Lebenswelten aufwachsen, doch heute gilt das weniger denn je. Familienstrukturen haben sich enorm verändert, auch durch Migration ist die Schülerschaft immer diverser geworden. Außerdem geht die soziale Schere enorm weit auseinander und Kinder und Jugendliche leben immer mehr in der digitalen Welt. Allein diese vier Dinge haben sich in den letzten 20 Jahren bezogen auf Kindheit massiv gewandelt. Vielfalt und Ungleichheit sind das neue Normal. Die Bildungsinstitutionen haben auf diese grundlegenden Transformationen mit kleinen Anpassungen reagiert, aber mit Sicherheit keinen Wandel vollzogen.</p>
<p>Gleichzeitig verbringen Kinder immer mehr Zeit in den Bildungsinstitutionen. Kinder kommen mit früherem Lebensalter in die Bildungseinrichtungen und verbringen immer mehr Stunden am Tag dort. Die Bildungsinstitutionen müssten also einen Teil des früheren Familienlebens ersetzen. Umso tragischer ist es, wenn die Institutionen in einem so schlechten Zustand sind.</p>
<p>Es bräuchte also viel Veränderung, um die Qualität, die wir aktuell haben, überhaupt aufrechterhalten zu können. Eingeleitet haben wir unser Gespräch aber mit der Feststellung, dass politische Bildung noch nie so richtig gut funktioniert hat. Die Gesellschaft war nur früher weniger komplex und wirkte weniger krisenanfällig, deswegen fiel es nicht so auf.</p>
<p><strong>Wie könnten wir politische Bildung denn dann besser machen?</strong></p>
<p>Durch partizipatorische Strukturen, in denen Kinder und Jugendliche durch ihr eigenes politisches Handeln erleben: Ich treffe hier eine Entscheidung und die war gut oder nicht gut. In denen sie merken, dass es nicht den einen richtigen Weg und die eine einfache Lösung gibt und es als Haltung verinnerlichen, dass der einfachste Weg regelmäßig nicht der beste ist. Sondern dass es darum geht, abzuwägen, Vor- und Nachteile zu erkennen, andere Menschen zu berücksichtigen und nach einem Kompromiss zu suchen.</p>
<p>Also zusammengefasst: Weil es nicht die eine Lösung gibt, muss man sich umso intensiver mit den Dingen beschäftigen. Das sind hoch anspruchsvolle Erkenntnisse, die man besser durch tägliches Erleben und Handeln lernt als durch Schulbücher.</p>
<p><strong>Sind die Lehrkräfte überhaupt ausreichend ausgebildet, um politische Themen mit den Jugendlichen entsprechend zu bearbeiten?</strong></p>
<p>Das ist eine Riesenherausforderung. Nehmen wir jetzt nur die zwei aktuellen Themen: Der 7. Oktober, also der Überfall der Hamas und seine Folgen, und die sogenannte Remigrationskonferenz. Das sind zwei Ereignisse, die unter den Schülerinnen und Schülern für Unruhe sorgen — ob man sie nun als Lehrkraft thematisiert oder nicht. Die meisten Lehrkräfte hatten das Gefühl, sie müssten das ansprechen. Und gleichzeitig wissen sie nicht, wie, und fühlen sich damit überfordert. Vieles deutet darauf hin, dass sie bezogen auf sehr aktuelle weltpolitische Ereignisse nicht angemessen ausgebildet sind, um darauf einzugehen.</p>
<p><strong>Fühlen sich Lehrkräfte mit dieser Aufgabe alleingelassen?</strong></p>
<p>Soweit ich das mitbekomme, eindeutig ja. Und daran etwas zu ändern, ist kurzfristig ganz schwierig.</p>
<p><strong>Was bräuchte es dafür?</strong></p>
<p>Neben der verbesserten Ausstattung in Bildungsinstituten und umfangreicheren außerunterrichtlichen Ganztagsangeboten für die Schüler brauchen wir ein richtig starkes Fortbildungssystem für das pädagogische Personal. Wir reden viel über die Ausbildung von Lehrkräften und Erzieherinnen. Viel wichtiger aber ist die Fortbildung, denn darüber kann man alle erreichen.</p>
<p>Mit einem richtig ausgebautem Fortbildungssystem, das inhaltlich und von der Form her auf dem neuesten Stand ist, hätten wir schon vor Jahren festgestellt, dass Themen, die mit deutscher Erinnerungskultur, Rassismus und Antisemitismus zu tun haben, eine ganz große Rolle in den Schulen spielen.</p>
<p><strong>Inwiefern haben sich Themen wie Holocaust und Antisemitismus verändert?</strong></p>
<p>Wir besprechen den Holocaust und die deutsche Verantwortung in der Schule noch immer als historisches Thema. Bei den Schülerinnen und Schülern aber wird der Anteil derer immer größer, für die das kein historisches Thema ist, sondern ein aktuelles. Auch ein emotionales, weil sie zum Beispiel Familie im Nahen Osten haben. So etwas allein durch eine historische deutsche Brille zu sehen, funktioniert nicht mehr. Über Tiktok und Instagram stoßen junge Menschen auf ganz viele problematische Deutungsangebote.</p>
<p>Der pädagogische Leitsatz „Kinder dort abholen, wo sie stehen“ ist schnell gesagt. Aber das ist eine hochkomplexe Aufgabe, denn man muss sich zu allererst fragen, wo sie überhaupt stehen, bevor man sie dort abholen kann. Und da hat sich – wie schon gesagt – unheimlich viel verändert, ohne dass darauf in angemessener Weise reagiert wurde.</p>
<p><strong>Auch wenn es Jahre oder Jahrzehnte dauern sollte: Könnte bessere politische Bildung einen Rechtsruck in Zukunft verhindern?</strong></p>
<p>Wenn man Menschen darin bestärkt, gestaltungsfreudig und kreativ zu sein, sie dabei darin schult, die Risiken zu sehen, aber die Chancen zu ergreifen, komplex zu denken und pragmatisch zu handeln, dabei Partizipation einfordert und zugleich real ermöglicht, dann hat man zumindest alles getan, um Rückzug, Resignation oder Radikalisierung zu verhindern.</p>

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Autor/Gruppe: 
Leonie Schulte - LVZ
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Sonntag, März 10, 2024 - 10:34