Der Versuch eines antifaschistischen Blicks auf den Nahost-Konflikt

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Seit vielen Jahrzehnten verursacht der Nahost-Konflikt Tod, Leid und Unterdrückung. Doch in all den Jahren sind selten so viele Menschen in so kurzer Zeit getötet worden, wie in den letzten anderthalb Monaten. Der Beginn des neuen Krieges war ein, so noch nie dagewesener, Überfall durch die Hamas und ihre Lakaien, mit dem Ziel, jüdische oder israelische Menschen zu ermorden oder zu entführen. Über 1300 Menschen wurden bei diesem antisemitischen, pogromartigen Massaker ermordet. Dies ist ein furchtbares Verbrechen und es gibt keine Worte, die deutlich genug sind um es zu verurteilen.

 

Doch die Menschen, die nun im Gaza-Streifen sterben, sind größtenteils nicht die Verantwortlichen. Die humanitäre Lage dort wird jeden Tage schlimmer, die Leute haben keine Möglichkeit aus dem Gaza-Streifen zu fliehen, zu tausenden sterben sie unter den Bomben, die auch im Süden, den das IDF als „Evakuierungszone“ ausgegeben hat, niedergehen. Hinzu kommt eine Blockade von Strom (der zum Beispiel auch für Krankenhäuser wichtig ist), Benzin, Lebensmitteln und sogar Wasser. Das ist leider keine Überraschung, es war seit Jahren die Politik der Netanjahu-Regierung Bombardements und kollektive Bestrafung der palästinensischen Zivilbevölkerung, als alleinige Antwort auf jedes Problem zu nutzen. Nun zu hinterfragen, ob das ein grausamer Fehler war, wäre politischer Selbstmord für diese Regierung. Stattdessen wird teilweise offen von Rache gesprochen, die Zivilbevölkerung, die ohne Fluchtmöglichkeit in einem dicht besiedelten Gebiet lebt, wird zum „Kollateralschaden“.

 

Auch für die Hamas stellt dieser Massenmord den letzten Schritt in einer langen Eskalation dar.
– Um es hier unmissverständlich klar zu stellen: Jede Fraktion ist für die von ihr direkt begangenen Verbrechen verantwortlich! Wenn Hamas-Kämpfer auf israelische Zivilist*innen schießen, sind sie für deren Tod verantwortlich. Wenn die IDF Bomben auf palästinensische Wohngebiete abwirft, sind sie für die toten Zivilist*innen verantwortlich. Um die Hintergründe zu begreifen, die zu der jetzigen Situation geführt haben, sollte der Kontext und die jahrzehntelange Eskalationsspirale betrachtet werden. Dies ist aber keine Relativierung und keine Verschiebung der Verantwortungen und darf auch keinesfalls darauf hinauslaufen.

 

 

 

Historischer Kontext

 

Der Kontext das Nahost-Konflikts reicht weit zurück, bereits unter der britischen Kolonialherrschaft nahmen die Konflikte zwischen dem zionistischen Siedlungsprojekt und arabischen Nationalist*innen ständig zu und entluden sich blutig. Spätestens die Vertreibung und Flucht hunderttausender Palästinenser*innen in Folge der Staatsgründung Israels (und die gleichzeitige Vertreibung von arabischen Jüd*innen), deren Nachkommen bis heute ein Rückkehrrecht verwehrt wird, legte eine Grundlage für die Auseinandersetzung um Land und Macht im historischen Palästina, in der Israel die Oberhand gewann.

 

Noch bevor Israel im Sechstagekrieg den Gazastreifen und das Westjordanland erobert und besetzt, wurde 1964 die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) gegründet. Sie ist eine sekulär-nationalistische Bewegung, mit einem stärkeren eher rechten und einem linken bis marxistischen Flügel. Damit ist sie keine isolierte palästinensische Erscheinung, sondern orientiert sich an den zu dieser Zeit starken panarabischen Bewegungen wie dem Nasserismus in Ägypten und den Baath-Parteien im Irak und Syrien. Diese erfuhren außerdem zunehmend Unterstützung durch die Sowjetunion, während sich Israel den USA annäherte, der Konflikt ist zu dieser Zeit auch ein Teil des kalten Krieges. Die spätere Hamas hingegen, die zunächst als Ableger der ägyptischen Muslimbruderschaft gegründet wird, repräsentiert jene politische Strömung im arabischen Raum, die sich erst im langsamen Aufschwung befand: Den politischen Islam. Dabei konzentrierte sie sich zunächst auf humanitäre und Infrastrukturprojekte sowie die Agitation in Moscheen. Gegner*innen waren zunächst vor allem linke und sekuläre Palästinenser*innen, gegen die auch militant vorgegangen wurde (so wurden in den 80er Jahren etwa Anschläge auf Videotheken verübt). Aufgrund der Gegnerschaft zur damals wesentlich relevanteren PLO wurde die Hamas von Israel zunächst mindestens geduldet, ob es finanzielle Unterstützung gab, ist umstritten. Erst während der 1. Intifada (1987-93) begann auch die Hamas, sich militant gegen Israel zu wenden.

 

Die Hamas gewann ihre Vorherrschaft gegenüber anderen palästinensischen Gruppen ab den späten 90er Jahren. Damals fanden die Friedensgespräche zwischen der PLO unter Jassir Arafat und der israelischen Regierung unter Jitzchak Rabin statt. Die PLO machte dabei weitreichende Zugeständnisse, wie die Anerkennung des Staates Israel und einer (teilweisen) Entwaffnung, im Gegenzug zur Perspektive eines (von der PLO zu regierenden) Staates Palästina. Die Hamas lief dagegen Sturm, und erklärte das nur eine 1-Staaten-Lösung, mit Vertreibung der eingewanderten/vor der Shoah geflüchteten Jüd*innen und ihrer Nachkommen eine akzeptable Lösung wäre. Der PLO warf sie Verrat vor – wobei sie zumindest damit nicht alleine war, auch linke Organisationen wie die PLFP und DLFP lehnten die Ergebnisse der Oslo-Verhandlungen ab und traten aus der PLO aus. Im Gegensatz zu den islamistischen Kräften Hamas und Islamischer Dschihad konnten sie jedoch kaum politisches Kapital daraus schlagen und wurden, wie die palästinensische und arabische Linke allgemein, zunehmend bedeutungsloser.

 

Die Hamas sammelte ihre Anhänger zunächst unter jenen, die keine Aussöhnung mit Israel akzeptieren wollten, vor allem aber auch unter jenen, die kein Interesse an einem säkularen palästinensischen Staat hatten, sondern sich ein islamistisches Regime wünschten. Diese Entwicklung ist auch im Kontext des damals aufsteigenden und sich radikalisierenden islamischen Fundamentalismus zu betrachten. Doch die meisten Palästinenser*innen hatten anfangs kein Ohr für die Hamas. Zu groß war die Hoffnung auf Frieden und einen eigenen Staat. Was stand dem auch im Wege? Bis zum Beginn der 90er Jahre galt der „Nahost-Konflikt“ im wesentlichen als Stellvertreter-Krieg im Kalten Krieg. Und der war ja vorbei, viele ehemalige Stellvertreter-Kriege endeten in diesen Jahren, von Südafrika bis Kambodscha.

 

Doch es kam anders. Auch in Israel hetzten Scharfmacher gegen einen gerechten Frieden, sie wollten die in den besetzten Gebieten errichteten Siedlungen ausbauen und sich weiter an den dortigen Süßwasserressourcen bedienen. Den Palästinenser*innen demokratisches Mitspracherecht und staatliche Souveränität zu geben, hätte dem einen Strich durch die Rechnung gemacht. Und im November 1995 ermordete ein israelischer Rechtsradikaler den Staatschef Rabin. Nachdem Rabin von einem israelischen Nationalisten ermordet wurde, scheiterte der Friedensprozess. In Israel bildete sich eine Regierung unter dem militaristischen Scharfmacher Benjamin Netanyahu. Die Gründung eines palästinensischen Staates rückte wieder in weite Ferne, statt dessen gab es eine neue Offensive des Siedlungsbaus in den palästinensischen Gebieten, das angedachte palästinensische Staatsgebiet wurde immer weiter zerschnitten. Dabei verfestigte sich (neben einer Diskriminierung auch in den israelischen Kerngebieten) die politische, juristische und ökonomische Ungleichheit in den besetzten Gebieten. Während die Siedler*innen als israelische Staatsbürger behandelt werden, viele Siedlungen auf palästinensischen Land durch die israelische Regierung legalisiert wurden, diese infrastrukturell bevorzugt werden und zunehmend politischen Einfluss gewannen, stehen die Palästinenser*innen bis heute unter Militärrecht. Nur in einem Teil des Landes wird der Autonomieregierung beschränkter Einfluss zugestanden. Als palästinensische Antwort begann die zweite Intifada.

 

Der PLO kamen ihre bereits gemachten Zugeständnisse nun teuer zu tragen. Sie hatte dem israelischen Militär kaum noch etwas entgegen zu setzen. Auch durch zahlreiche Fälle von Korruption verfestigte sich zunehmend der Eindruck einer machtlosen und auf Selbsterhalt ausgelegten Kollaborationsregierung. Die Hamas sah ihre Stunde gekommen. Zwar hatte sie auch nicht die militärischen Möglichkeiten, der IDF wirklich etwas entgegenzusetzen, z.B. in dem sie palästinensische Dörfer gegen israelische Angriffe verteidigt hätte, doch statt dessen setzte sie auf Brutalität indem sie, gemeinsam mit dem verbündeten islamischen Dschihad, eine Welle von Selbstmordanschlägen auf, überwiegend zivile, israelische Ziele verübte.
Die Antwort der israelischen Regierungen unter Netanjahu und Scharon darauf war ebenso einfach wie unmenschlich: Rache und Kollektivstrafe. Mit Raketenschlägen wurden ganze Wohnblöcke zerbombt, in denen einzelne Verantwortliche der Hamas vermutet wurden, widerständige palästinensische Dörfer (oder solche die dem Siedlungsbau im Weg waren) wurden mit Bulldozern niedergewalzt, oft ohne jede Rücksicht auf Menschenleben.
Die Folge war ein blutiger, bis 2005 andauernder Konflikt, in dem über 1000 Israelis und über 3000 Palästinenser*innen getötet wurden. Auf beiden Seiten waren die Toten ganz überwiegend unschuldige Zivilist*innen.

 

Nach der zweiten Intifada begann die israelische Regierung mit dem Bau einer Mauer, um die palästinensischen Gebiete quasi kollektiv in Festungshaft zu setzen. Im Westjordanland dürfen sich die Palästinenser*innen seitdem nur noch in eng begrenzten Gebieten („C-Bereichen“) aufhalten und brauchen Sondergenehmigungen um sich dazwischen ( durch „B-Bereiche“) zu bewegen, während der Siedlungsbau, unter aktiver Unterstützung der israelischen Regierung, durchgesetzt mit den Panzern der IDF, weiter vorangetrieben wird (in den „A-Bereichen“ deren Betreten den Palästinenser*innen komplett verboten ist).
Der Gaza-Streifen dagegen war viel zu dicht besiedelt, um dort noch in nennenswerten Umfang Siedlungen zu bauen oder einen Überschuss an Wasser abzuzweigen (2,3 Millionen Menschen auf 365 km²). Die israelische Regierung entschied, die Mauer einfach um den Gaza-Streifen zu bauen, die wenigen Siedlungen, die es dort gab, zu räumen und die Region komplett abzuriegeln.

 

Im Gaza-Streifen übernahm die Hamas fast sofort die Kontrolle, und entmachtete die der PLO loyalen Sicherheitskräfte und Behörden. Um sich vor der IDF zu schützen und die Kontrollpunkte an der ägyptischen Grenze zu umgehen, begann die Hamas ihr gigantisches Tunnelnetzwerk zu graben. Israel reagierte damit, den bereits abgeriegelten Gaza-Streifen einer fast vollständigen Blockade zu unterziehen, in der Absicht die Bevölkerung durch Aushungern gegen die Hamas aufzubringen. Doch das Gegenteil trat ein: die Hamas nutzte ihre extrem enge Verbindung zur in Ägypten mächtigen Muslimbruderschaft, sowie ihre großen finanziellen Mittel aus Katar, um das Tunnelnetzwerk nach Ägypten so weit auszubauen, das ganze LKWs tonnenweise Lebensmittel, Medikamente und natürlich auch Waffen in den Gaza-Streifen liefern konnten. Diese Tunnel wurden zu den ökonomischen Lebensadern des Gaza-Streifens, und die Hamas hatte die totale Kontrolle über sie.

 

In den Folgejahren setzte die Netanjahu-Regierung immer wieder auf ihr altes Allheilmittel, und bombardierte den Gaza-Streifen. Die Hamas nahm ebenfalls mit improvisierten „Qassam“-Raketen zivile Ziele in Israel unter Beschuss, natürlich mit unverhältnismäßig viel schwächerer Feuerkraft, die zudem auf ein zunehmend perfektioniertes Abwehrsystem traf. In den Kriegen 2009 und 2014 wurden 86 Israelis und ca. 3600 Palästinenser*innen getötet. Militärisch war Israel durch die Mauer und seine Lufthoheit also (für den Moment) in der absoluten Überlegenheit.

 

Die Hoffnung auf Frieden oder gar einen palästinensischen Staat wurde zu einer fernen Erinnerung. Auch weil die israelische Regierung im Westjordanland, trotz der Entwaffnung der Fatah, obwohl von dort keine Raketen auf Israel geschossen wurden, niemals die in Oslo gegebenen Versprechen einlöste. Die Situation der Menschen dort wurde immer unerträglicher. Viele Palästinenser*innen, in der Region wie im Exil, begannen die Hamas, mit ihrer Unversöhnlichkeit und ihrer strikten Ablehnung Israels, als konsequente Antwort zu sehen.
Gleichzeitig ruhte sich die Netanyahu-Regierung auf den niedrigen israelischen Todeszahlen in dem Konflikt aus, und erklärte eine friedliche Lösung aufgrund der militärischen Überlegenheit für unnötig.

 

Wie schon in der zweiten Intifada setzte die Hamas auf die Strategie, ihre Unterlegenheit gegenüber den IDF durch Grausamkeit an der Zivilbevölkerung zu kompensieren, und versuchte mit dezentralen Messerangriffen und Bombenanschlägen Druck auf Israel auszuüben, oder sich zumindest gegenüber den Palästinenser*innen als militärisch nicht machtlos darzustellen.

 

 

 

Hier und jetzt

 

Die jüngste Eskalation stellt die unfassbar grausame und tragische Steigerung dieser Strategie zu ihrem bisherigen Höhepunkt dar.
Es mag abgedroschen klingen von Gewalt- und Eskalationsspiralen zu reden, doch das aktuelle Sterben zeigt deutlich: so darf es nicht weitergehen! Es wird niemals einen Frieden unter Unterdrückung und Besatzung geben, es wird niemals einen Frieden unter Vormacht fundamentalistischer, antisemitischer Terroristen geben.

 

Die Zeit drängt jedoch: Wie bereits in der Einleitung geschrieben, verhängte Israel unmittelbar nach dem 9. Oktober eine Totalblockade gegen Gaza, die auch Wasser, Nahrungsmittel und Strom umfasst. Diese Blockade wurde bis zum Erscheinen dieses Artikels nur in geringen Maße, vor allem von ägyptischer Seite, gelockert. Die humanitäre Katastrophe dauert an. Hinzu kommt die dauernde Bombardierung ziviler Häuser und ziviler Infrastruktur, die tausende Menschen obdachlos macht und mit der reinen Behauptung, hier würden sich Hamas-Kämpfer aufhalten, nicht zu rechtfertigen ist. Parallel dazu äußern sich israelische Politiker*innen immer wieder in entmenschlichender Weise über Palästinenser*innen, so begründete der Verteidigungsminister die Blockade mit den Worten: „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere, und wir handeln entsprechend.“ Daher wächst die Angst vor einem genozidalen Charakter dieses Krieges, eine Einschätzung, die mittlerweile auch von einigen Genozidforschern geteilt wird. Hinzu kommt die drohende ethnische Säuberung durch Vertreibung – so rief etwa die israelische Geheimdienstministerin die internationale Gemeinschaft dazu auf, eine „freiwillige Umsiedlung“ der Palästinenser*innen in andere Länder zu fördern. Ob diejenigen, die der Aufforderung der Flucht in den Südteil des Gazastreifens gefolgt sind, wieder zurückkehren können – sofern ihre Häuser noch stehen – bleibt fraglich. In diesem Sinne birgt auch die grundsätzlich richtige Forderung nach der Grenzöffnung zu Ägypten für Zivilisten die Gefahr, dass dies für eine dauerhafte Vertreibung genutzt wird, eine „neue Nakba“, um es in den Worten des israelischen Landwirtschaftsministers zu sagen. Gleichzeitig sind die Auswirkungen des Krieges nicht auf den Gazastreifen beschränkt, die Siedlergewalt im Westjordanland, die schon vor den aktuellen Ereignissen auf einem neuen Höchststand war, nimmt weiter zu und wird vom israelischen Staat nicht gestoppt. Demgegenüber muss die kurzfristige Forderung nach einem Waffenstillstand und dem Ende der internationalen Rückendeckung für diesen Krieg – wie er von Deutschland rhetorisch und auch in Form von Waffenlieferungen stattfindet – das Gebot der Stunde sein. Politische Verhandlungen werden unter anderem auch in Israel selbst von Angehörigen der Geiseln immer stärker gefordert, dem sollten wir uns als Internationalist*innen anschließen.

 

Auch wenn ein gerechter Frieden gerade noch so unrealistisch und fern scheinen mag, ist er letztlich die einzige überhaupt realistische Lösung, da es klar sein muss, dass es ohne faire Rechte und Verteilung ökonomischer Ressourcen kein Ende des Krieges geben wird. Wenn die vergangenen 75 Jahre eines bewiesen haben, dann das.
Dabei muss auch die Bezeichnung aller jüdischen Bewohner*innen des israelischen Kernlandes als „Siedler*innen“ zurückgewiesen werden, die teilweise in pro-palästinensischen Kreisen kursiert und auch zur Relativierung der Massaker des 7. Oktober herangezogen wird. Auch wenn historisch durchaus ein Teil der heutigen jüdisch-israelischen Bevölkerung auf Siedlungsaktivitäten zurückgeht, leben diese nun bereits seit vielen Generationen auf dem Land. Es handelt sich nicht um einen aktiven „Siedlerkolonialismus“ in einem fremden Land, sondern Israel ist heute die Heimat dieser Menschen. Nationalismus, der eine ganze Bevölkerung als einheitliches Kollektiv betrachtet, kann nicht die Lösung sein. Demgegenüber ist es wichtig festzustellen, dass es sich bei Israel und Palästina weiterhin um kapitalistische Klassengesellschaften handelt. Auch wenn palästinensische Arbeiter*innen doppelt unterdrückt sind, entspricht es keinem natürlichen Interesse israelischer Arbeiter*innen, Besatzung, diskriminierende Gesetze und dauernden Kriegszustand aufrecht zu erhalten. Ein Ende dieses Zustands kann nur durch eine Bewegung von unten erreicht werden, eine militärische Lösung ist nicht oder nur aus israelischer Sicht mit vollständiger Vertreibung der anderen Bevölkerungsgruppe denkbar. Eben diese Perspektive einer bi-nationalen, klassenkämpferischen Bewegung von unten wird, durch ein Vorgehen wie jenes der Hamas, aktuell leider weiter in die Ferne gerückt.

 

Wir wollen nicht behaupten, in einem deutschen Positionspapier den Nahostkonflikt lösen zu können, das wäre vermessen. Trotzdem können wir nicht einfach zuschauen, sondern müssen da Druck ausüben, wo es aus internationalistischer Perspektive möglich ist.
Kurzfristig müssen das Eintreten für einen sofortiger Waffenstillstand, das Ende der israelischen Blockade von Wasser, Essen und Strom in Gaza, die Freilassung der Geiseln und die Zurückweisung antisemitischer wie rassistischer Instrumentalisierung die dringendsten Forderungen sein.
Dabei gilt: Weder die Hamas noch die Likud-Regierung werden jemals einem gerechten Frieden zustimmen. Es muss den Palästinenser*innen gelingen die Hamas zu stürzen, und den Israelis die Likud-Regierung abzusetzen, bevor es ernsthafte Verhandlungen über eine längerfristige Lösung geben kann. Das ist jedoch kaum möglich, wenn Bomben fallen und eine ganze Generation damit aufwächst, dass ihnen Israel die Lebensgrundlage nimmt – und islamistische Kräfte dann diejenigen sind, die sich erfolgreich als Widerstandskräfte inszenieren können.

 

Langfristig gibt es gerade keine „realistische“ Lösung, in dem Sinne, dass sie wahrscheinlich ist. Trotzdem können wir uns mit Menschen solidarisieren, die auf eine solche hinarbeiten und den Diskurs in unserem Land beeinflussen. Die Zweistaatenlösung ist vor allem durch den Siedlungsbau der letzten Jahrzehnte immer unwahrscheinlicher gewesen, auch wenn sie zweifellos besser als der Status Quo wäre. Eine binationale Gesellschaft, in der alle Bevölkerungsteile ohne Angst demokratisch zusammenleben können, wäre wünschenswert. Die kurdische Freiheitsbewegung, die das Konzept regionaler Konförderationen ins Spiel gebracht hat, könnte hierfür zum Beispiel ein Vorbild sein. Realistisch ist die Einstaatenlösung momentan nur in Form einer israelischen Annektion aller palästinensischen Gebiete mit fortgesetzter Apartheid, also ohne gleiche Rechte. Die israelische, wie auch palästinensische Linke ist so schwach wie nie zuvor. Wir dürfen allerdings nicht vergessen, dass dies für die radikale Linke weltweit und insbesondere auch in Deutschland gilt. Auch hier ist keineswegs gesagt, dass wir es schaffen, uns einem zunehmenden Rechtsruck erfolgreich entgegenzusetzen oder gar einer sozialistischen Gesellschaft näher kommen. Unser Bezugspunkt der internationalen Solidarität müssen daher weiterhin Kräfte sein, die sich für einen gerechten Frieden einsetzen, in dem alle Bevölkerungsteile gleichberechtigt zusammenleben können.

 

 

 

Unsere Rolle in Deutschland

 

Auch aus unserer Perspektive, einer Linken in der Bundesrepublik Deutschland, ist die Position nicht neutral. Der deutsche Staat unterstützt in diesem Konflikt seit Jahrzehnten einseitig die Kriegspolitik Israels, bei jeder Eskalation redete Deutschland von “Solidarität” und schickte Waffen, bei Friedensverhandlungen stand Deutschland auf der Bremse und sabotierte. Diese Politik wird durch mediale Berichterstattung, am extremsten von der Springerpresse, vorangetrieben. Hier wird der israelische Staat mit allen jüdischen Menschen der Welt gleichgesetzt, und jede Kritik an seiner Politik zu Antisemitismus erklärt. Das Kalkül dahinter ist einfach: Wer möglichst radikal Israel in seinen Konflikten unterstützt, immunisiert sich damit selbst gegen (berechtigte) Antisemitismus-Vorwürfe, und insbesondere jede historische deutsche Verantwortung. Als “Israel-solidarisch” gilt in diesem Sinne natürlich nur die Unterstützung israelischer Kriegspolitik bzw. der israelischen Rechten, nicht die Unterstützung von Friedensinitiativen. Im Klartext: Um uns Deutsche selbst von unserer Verantwortung freizusprechen, wird aktiv darauf hin gearbeitet, dass Israelis und Palästinenser*innen niemals in Frieden leben können.

 

Seit dem 7. Oktober 2023 und dem darauf folgenden Angriff der israelischen Armee auf Gaza läuft eine beispiellose rassistische Kampagne unterschiedlicher politischer Lager und Institutionen gegen in Deutschland lebende Palästinenser*innen und jede sich mit der palästinensischen Bevölkerung solidarisierende politische Stimme. Die Polizei geht dabei mit massiver und teilweise eindeutig rassistischer Repression vor. Verboten werden Demonstrationen, Demoparolen, Nationalfahnen und Kleidungsstücke. In einzelnen Stadtteilen werden migrantisch gelesene Menschen von der Polizei mit rassistischen Kontrollen versucht einzuschüchtern und von öffentlichen Plätzen fernzuhalten. Die BILD erklärt jede palästinasolidarische Demonstration zu einer Ansammlung von Terror-Unterstützer*innen und antideutsche Journalist*innen betiteln Demonstrationen für eine Waffenruhe oder in Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung, noch bevor diese überhaupt stattgefunden haben, als „antisemitische Demonstration“.

 

Derartige Angriffe auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit müssen klar verurteilt und bekämpft werden, vor allem auch die jüngst geforderten Massenabschiebungen und Entziehungen der Staatsbürgerschaft aus politischen Motiven. Eine Linke muss sich klar mit den Unterdrückten solidarisieren, und gegen das Töten von Zivilist*innen eintreten! Hier in Deutschland ist eine der wichtigsten Forderungen dazu auch der Stopp der Ausbildungs- und Rüstungskooperation zwischen Deutschland und Israel sowie der Waffen- und Rüstungslieferungen deutscher Firmen (bzw. der Stopp von Waffenexporten insgesamt), der sich im Vergleich zum vergangenen Jahr verzehnfacht hat und Rüstungsfirmen wie Rheinmetall, Hensoldt und Thyssen-Krupp saftige Gewinne beschert.

 

Allerdings müssen wir auch tatsächlichen Antisemitismus erkennen und bekämpfen wo er auftritt, und eine klare Trennlinie ziehen, zwischen Akteuren, die sich von der Hamas abgrenzen und Angriffe auf Zivilist*innen verurteilen, und solchen die das nicht tun. Zu oft lassen palästina-solidarische Gruppen aktuell eine solche klare Trennlinie vermissen, und machen sich so zu Handlangern des Antisemitismus.

 

Auch unabhängig davon steigen klar antisemitische Straftaten wie Anschläge gegen Synagogen oder antisemitische Schmierereien an. Das muss klar verurteilt werden, jüdische Gemeinden verdienen hier unsere Solidarität.

 

Gleichzeitig rufen rechte Hetzer*innen von CDU bis AfD mit dem Verweis auf Antisemitismus, der gerade in Deutschland bekanntlich immer nur importiert sein kann, nach Ausweisungen, geschlossenen Grenzen und fordern offen (noch mehr) Gewalt gegen Menschen auf der Flucht. Auch eine Kopplung der Einbürgerung an die Zustimmung zur deutschen außenpolitischen Staatsräson ist in der Diskussion. Der FDP-Politiker mit dem klingenden Namen Mordhorst (immerhin Teil der Regierungskoalition) forderte gar ein komplettes politisches Betätigungsverbot für Nicht-EU-Ausländer, das Versammlungsrecht sei nur ein „Deutschengrundrecht“.

 

Die Ampelparteien greifen diese rassistische Hetzkampagne auf und übertreffen sich gegenseitig darin, sie eilig in möglichst unmenschliche Gesetzesvorhaben zur weiteren Verschärfung der Situation von Geflüchteten umzusetzen. Während also das Land der Aiwangers weiter seine Gaskammer-und-Genickschuss-Phantasien in Schultaschen mit sich herumtragen kann, schützt es sich mit Polizeigewalt auf den Straßen, Kleidungs-Verboten an Schulen in Neukölln und Mord und Totschlag an den Außengrenzen volksgemeinschaftlich gegen jeden Antisemitismus – und von Ricarda Lang bis Julian Reichelt können alle endlich wieder ruhig schlafen.

 

Der antipalästinensische Rassismus betrifft dabei keine kleine Gruppe: Deutschland hat die größte palästinensische Diaspora in Europa, Schätzungen gehen von bis zu 225.000 Menschen mit palästinensischem Hintergrund aus, viele davon staatenlos. Etwa ein Fünftel davon lebt in Berlin. Viele der in Berlin lebenden Menschen mit palästinensischem Hintergrund waren in den siebziger Jahren aufgrund des Bürgerkrieges aus dem Libanon geflüchtet und erleben seitdem eine Kontinuität der Ausgrenzung, bis in die neunziger Jahre wurden geduldeten Kindern teilweise sogar der Schulbesuch verwehrt. Die aktuelle anti-palästinensische Kampagne reiht sich außerdem in einen generellen Kontext von antimuslimischen Rassismus ein, der nicht mit der aktuellen Eskalation des Nahostkonfliktes begann und auch unabhängig von der tatsächlichen Religion der Menschen funktioniert (dass es eine nicht ganz kleine christliche Minderheit unter den Palästinenser*innen gibt, wird meistens ignoriert). Die „migrantische“ Bevölkerung Neuköllns steht schon seit Jahren in der medialen Schusslinie, die aktuelle „Sonnenallee-Debatte“ ähnelt jener nach der vergangenen Silvesternacht, als ebenfalls eine ganze Bevölkerungsgruppe unter Generalverdacht gestellt wurde. Auch Verschärfungen des Asylrechts sind keine neue Entwicklung, sondern müssen im Kontext eines allgemeinen Rechtsrucks verstanden werden, bei dem die regierenden Parteien eine Forderung der AfD nach der anderen erfüllen. Auch die Abwälzung des Antisemitismus auf eine „nicht-deutsche“ Bevölkerung, die unter dem Stichwort „importierter Antisemitismus“ (was die lange deutsche Tradition des Antisemitismus sowie die Tatsache, dass in den Jahresstatistiken hierzu immer noch rechtsradikale Deutsche führen, ausblendet) stattfindet, ist in den letzten Jahren bereits zunehmend betrieben worden. Wir dürfen nicht den Fehler begehen, diese Rechtfertigung für eine rassistische Politik durchgehen zu lassen.

 

In diesem Sinne:
Schluss damit! Keine Ruhe dieser autoritären Formierung! Stoppt die rassistische Kampagne in Politik und Gesellschaft! Stoppt die rechte Hetze! Auf die Straße gegen (antipalästinensischen) Rassismus, gegen Antisemitismus, gegen Polizeigewalt und Demoverbote und gegen die rassistische Asylpolitik der Ampelparteien!
Schluss mit der bedingungslosen moralischen Rückendeckung, den Rüstungslieferungen und finanziellen Hilfen Deutschlands, am Massenmord in Gaza! Für einen sofortigen Waffenstillstand, den Austausch der Gefangenen / die Freilassung aller Geiseln und das Ende von Besatzung & Apartheid! Als Antifaschist:innen gilt unsere Solidarität allen betroffenen Zivilist:innen und fortschrittlichen Kräften in Israel / Palästina! Für ein gleichberechtigtes Zusammenleben in Frieden!

 

 North East Antifa, Dezember 2023

 

 

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Ergänzungen

Vielen Dank für diesen wichtigen Text. Doch eines verstehe ich nicht: warum schreibt ihr von  "fortgesetzter Apartheid"? Meines Wissens gibt es über 20% arabisch-muslimische Israelis (die Diskriminierung erfahren müssen, aber keine Apartheit) aber keine jüdischen Menschen in Gaza oder der Westbank (außer trauriger Weise aktuell als Geiseln). Mit dem Apartheits-Begriff zieht ihr leider keine klare Grenze zu pro-palästinensischen Gruppen, denen die Dämonisierung Israels am Herzen liegt.