Übeltäter en masse - über die U-haft von R. in Toulouse

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Veröffentlichung auf Französisch: 1. März 2019 / Aktualisierung: 3. März

In Toulouse spielt sich derzeit der alarmierende Rechtsfall von R. ab. Am 19. Februar haben wir uns deshalb zum Justizpalast begeben, um an der Haftprüfung seiner Untersuchungshaft dabei zu sein (für nähere Informationen sind die Artikel von IAATA, Lundimatin und Mediapart als Link unten auf dieser Seite zu finden). Mehrere Punkte in der Anklageschrift haben uns schockiert, insofern diese allgemeingültige Ideen des Rechtsystems in Frage stellen und so von einer beängstigenden Entwicklung eines Rechtssystems der Ausnahme vor dem brandaktuellen politischen Hintergrund der Gelbwesten zeugen.

Ein kleiner Rückblick auf die Ereignisse: Samstag, den 2. Februar: R. findet sich vor der Haustür seiner Wohnung in einer Identitätskontrolle wieder. In der Wohnung selbst befindet sich die Tochter einer Freundin, auf die er an diesem Samstag aufpassen soll. Da R. es sowohl verweigert sich einer Personenkontrolle zu unterziehen, als auch eine DNA-Probe und Fingerabdrücke abzugeben, kommt er in Polizeigewahrsam und schließlich in Untersuchungshaft, da er verdächtigt wird, an einer kriminellen Vereinigung beteiligt zu sein. Die Beweise? Ein Generalschlüssel für Postboten sowie ein weiterer Schlüsselbund aus Werkzeugen. Den Besitz dieser Gegenstände rechtfertigt der Beschuldigte bezüglich des Ersteren mit einer Liebesbeziehung, und mit der Reparatur von Fahrrädern bezüglich des Letzteren.
Dennoch sollen diese einfachen Gegenstände Grund dafür sein, dass R. sich in Untersuchungshaft befindet, während man auf Beweise der Anschuldigung bezüglich der Beteiligung an kriminellen Vereinigungen wartet. Doch man wird an R. weder einen kriminellen Vereinigten, noch eine materielle Tatsache finden, die den kleinsten Verdacht eines Vergehens bestätigen könnten. Folgt man der Justizlogik, dann wäre das Öffnen von Wohnhäusern durch Postbotenschüssel eine Taktik der Linksradikalen um Kleidung zu tauschen, Steinschleudern und Molotovcocktails zu suchen – diesbezüglich hätten wir gerne einen seriösen Nachweis über den Gebrauch solcher Gegenstände in Toulouser Demonstrationen -, der Besitz eines solchen Schlüssels wird also allein zum Haftgrund. Festzuhalten ist, dass sich R. am 2. Februar eine Stunde vor der Gelbwesten-Demonstration ohne jegliches Schutzmaterial (noch nicht einmal eine Staubmaske) vor seiner Wohnung aufgehalten hat, um eine Zigarette zu rauchen. Diese Art von Anschuldigungen lässt also zumindest theoretisch darauf schließen, dass wer auch immer im Besitz eines Schraubenziehers ist und gleichzeitig verweigert seine Identität preiszugeben, ein potentieller Übeltäter ist und ins Gefängnis gehört,- um dann gegebenenfalls ein Ermittlungsverfahren einzuleiten und so nachträglich irgendein Vergehen nachweisen zu können, von dessen Existenz es bis zu diesem Augenblick keinerlei Spuren gab.

Die Justiz macht es sich bequem

Während der Gerichtsverhandlung rufen R.s Anwälte mehrmals in Erinnerung, dass es keine materiellen Beweise gebe, die die Anschuldigung auf Beteiligung an kriminellen Vereinigungen stützen könnten. Um die Untersuchungshaft zu rechtfertigen, muss der Staatsanwalt also auf ganz neue Mittel zurückgreifen : So erfahren wir denn auch, dass R. während des Ermittlungsverfahrens aus drei Hauptgründen in Untersuchungshaft bleibt:
Auch wenn R. von Polizeikräften auf Fotos wiedererkannt wird und man den Ausweis des Angeklagten während einer Hausdurchsuchung auffindet - ganz abgesehen von den unzähligen Dokumenten, die die Verteidigung erbringt - stellt die Staatsanwaltschaft weiterhin die wirkliche Identität R.s in Frage, ohne dass man verstünde, welches zusätzliche Dokument denn jetzt diese Offensichtlichkeit noch offensichtlicher machen könnte.
Als zweiter Punkt scheint seine Nationalität ein belastendes Element zu sein. R., Schweizer Staatsbürger, könnte in die Versuchung kommen, durch eine Flucht in sein Heimatland potentiellen juristischen Konsequenzen zu entkommen. Man braucht nicht viel, um dann zum Schluss zu kommen, dass Bürger mit anderem Herkunftsland durch das Rechtssystem dieses Landes schwereren Konsequenzen ausgesetzt werden als Franzosen.
Last but not least, der Staatsanwalt wagt es, den „Komfort“ für die Ermittler als Grund für die Inhaftierung zu nennen. Übersetzt heißt das: Wenn die französische Justiz oppositionelle politische Aktivisten wegen einfacher Verdächtigung aber ohne jeglichen Beweis inhaftieren kann, dann fühlt sie sich sicherlich ganz in ihrem Element.

Ein Meinungsdelikt

Denn genau dies beunruhigt die Justiz und rechtfertigt gleichzeitig die missbräuchliche Praxis der Inhaftierung : Man vermutet, dass R. der anarchistischen Strömung angehört. Und in der Tat, R. wurde kurz nach anderen Personen einer Identitätskontrolle unterzogen, die schon vorher als politische Aktivisten erfasst worden waren ( das heißt also anscheinend, dass er sie kennen müsste) und zusätzlich hat man dann auch während der ansonsten wenig fruchtbaren Hausdurchsuchung seines Wohnsitzes Bücher und Plakate gefunden, die diese Zugehörigkeit belegen sollen. Die Logik der Justiz scheint nun erschreckend einfach : Wenn R. Broschüren und Bücher besitzt, die eine anarchistische oder gar pro-Gelbwesten-Tendenz aufweisen, dann muss er schuldig sein. Er bleibt so lange im Knast, bis man ihm endlich etwas nachweisen kann. 17 Tage ist es nun her, die Akte ist immer noch leer, aber das spielt eben keine Rolle.

Die Geisterjäger

«Wenn du es nicht bist, dann ist es eben dein Bruder.» «Ich hab gar keinen» - Dann ist es eben einer von den Deinen.» Eine traurige Illustration der La Fontainschen Fabel. Die Parabel zeigt, wie die Mächtigen mit Hilfe ihrer Macht ihr eigenes Recht aufstellen. Was in der Sache R. zugrunde liegt, das ist eine Anschuldigung gegen die gesamte Linksradikale, für die R. als Repräsentant genommen wird, und folglich als Sündenbock für die Justiz. Und genau nach diesem Muster wird die Verhandlung eröffnet. Auch wenn R. nicht während einer Gelbwesten-Demonstration verhaftet wurde, sondern eine Stunde vorher, während er auf die Tochter einer Freundin Acht gab und deshalb auch gar nicht die Absicht hegte, sich dort später hinzubegeben, dient eine endlose Liste von Straftaten im Zusammenhang mit der Gelbwesten-Bewegung als Eröffnungsrede des Prozesses. Im Ordner von R. findet sich sicherlich ein Bericht über den aktuellen Kontext, aber nichts deutet darin auf seine Präsenz noch auf irgendeinen Delikt in Bezug auf Demonstrationen hin. Da er aber den Linksradikalen angehören soll, muss er doch irgendeine Schuld dafür tragen, und, warum denn nicht, die der ganzen Bewegung zusammen?
Im Übrigen ist es genau diese Bürde, die den Linksradikalen im Allgemeinen aufgeladen wird. Ohne mit der Wimper zu zucken wiederholt die Richterin den polizeilichen und mediatisierten Brei, nach dem es Anarchisten seien, die die Gelbwesten-Bewegung unterwandert und instrumentalisiert hätten und nun steuern würden. Als Beweis führt die Richterin die Inhaftierung einer Person für den Besitz eines Brandsatzes im Dezember an. Die Person ist als politischer Aktivist erfasst (fiche S). Unter den 40 Gelbwesten, die momentan im Gefängnis Toulouse-Seysses inhaftiert sind, darunter mehrheitlich Arbeiter, Familienväter -oder mütter ohne Vorstrafe, hat man endlich einen Randalierer gefunden. Folglich wird die ganze Bewegung von den Linksradikalen manipuliert. Q.E.D Das, was sowohl Justiz als auch Medien nicht sehen wollen, ist, inwieweit diese Revolte einen wesentlichen Teil der Gesellschaft bewegt. Natürlich ist es bequemer, eine Infiltration seitens der verlorenen Radikalen zu proklamieren, um sowohl die Gelbwesten zu entmutigen (die sich allerdings nicht täuschen lassen), als auch die Leute zu spalten. Antoinette Rouvroy, zurückgetretene Juristin, erinnert in einer Konferenz über ihren enttäuschten Glauben in das Justizvermögen reale Situationen und Gesellschaftsbewegungen zu berücksichtigen um sich davon inspirieren zu lassen, oder sich denen anzupassen. Doch das, was sich hier ereignet, offenbart sich als sklerotische Verhärtung einer Justiz, die danach strebt, Ausnahmemaßnahmen zu verallgemeinern, um die aktuelle Bewegung durch Repression in den Griff zu bekommen. Wir stehen hier vor einem allgemeinen Trend, der zeigt, dass die Strafen von Jahr zu Jahr schwerer werden, und vor einer sozialen Bewegung, die so viele politische Gefangenen zählt wie seit den 70er Jahren nicht mehr. Der wirkliche Spalt tut sich zwischen Justiz und Gesellschaft auf.

Den Einen mit dem Anderen bekämpfen

Man muss sich eigentlich hier fragen, wen die Macht mit diesem abgekarteten Spiel auf diese Weise zu bekämpfen versucht : Die Linksradikalen oder die Gelbwesten? Es zeigt sich nun, dass sie sich den Einen bedient um die Anderen zu treffen und vice versa. Jean-Luc Moudenc, republikanischer Bürgermeister in Toulouse und bekannt dafür, eine paranoide Besessenheit für die anarchistische Strömung zu haben, gab sehr frühzeitig seine Analyse der aktuellen politischen Situation ab: Laut der Lokalpresse habe er sich während einer Demonstration angeblich in die Randalierer eingeschleust, wo er Rechts- und Linksextremisten Hand in Hand gesehen haben solle. Schnell werden für 40 Fälle Ermittlungen eröffnet, und die Lokalpresse berichtet, dass es sich zu großen Teilen um die „Ultra-Linke“ handle. Somit gibt die aktuelle Bewegung der Autorität Gelegenheit, Jagd auf Staates Schreckgespenst zu machen. Mit der Behauptung, dass es die Linksradikalen seien, die die Bewegung im Kern steuern würden, wird versucht, Angst zu verbreiten, um so die gesamte Bewegung schachmatt zu setzen. Es geht also darum, „Ultra-Linke“ und Gelbwesten gegeneinander auszuspielen. Doch zum Leidwesen des Bürgermeisters und dessen Konsorten wurden nicht nur sehr wenig offenkundige Anarchisten gefangen genommen, sondern die Straße hört neuerdings Slogans wie «Antikapitalist» und «Nieder mit den Bullen, dem Staat und den Faschos».

Wer in die Falle geht, der wird erfasst

Die einzigen Beweise, die im Falle R. gegen ihn benutzt werden, sind die Nennung einer imaginären Identität sowie die Verweigerung der Abgabe von Fingerabdrücken und DNA. Unter normalen Umständen hätte dies eine simple Gesetzesbelehrung zur Folge gehabt oder schlimmstens eine Bewährungsstrafe, und die Entscheidung hätte durch eine sofortige oder spätere Anhörung vor dem Haftrichter stattgefunden, nicht aber einen Haftbefehl und Untersuchungshaft. Der Beschuldigte wird aufgefordert, die Verweigerung der Abgabe zu rechtfertigen, eine Verweigerung, die aber im heutigen Kontext der allgemeinen Erfassung unserer Daten leicht zu verstehen sein sollte. Am Ende der Verhandlung bittet man ihn, sein Vergehen zu korrigieren, das heißt, seine DNA abzugeben. Doch mit welchem Recht? Bis hierhin gibt es keinen Schuldspruch eines Vergehens außer dem der Verweigerung der Abgabe …. im Falle eines erwiesenen Vergehens. Vergessen wir nicht, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Frankreich dafür am 22. Juni 2017 sanktioniert hat; die disproportionierte Verwendung der DNA-Abnahme in Frankreich wird vom Gerichtshof als unangemessener Eingriff in das Privatleben verstanden. Und eine europäische Entscheidung hat nun einmal mehr Gewicht als die nationale Legislation. Am 22. Juni 2017 wurde ein baskischer Bauer, dem Gewalt gegen Polizeibeamte (anscheinend mithilfe eines Regenschirms) vorgeworfen wurde, freigesprochen, da sich die Beweislage als unzureichend herausgestellt hatte. Die Verweigerung von DNA und Fingerabdrücken zog keinerlei Strafe mit sich. Man könnte sich also eine Jurisprudenz in dem Land erwarten, das sich rühmt, jenes der Menschenrechte zu sein...

Am 22. Februar wurde das Urteil betreffend der Haftentlassung von R. gefällt. R. bleibt für den „Komfort“ der Justiz in Haft. (mittlerweile seit 6 Wochen)

Weitere Artikel zu dem Fall

Deutsch:

Von einer Identitätsfeststellung zu U-Haft. Vorwurf der kriminellen Vereinigung in Toulouse.

Französisch:

https://iaata.info/D-un-controle-d-identite-a-une-detention-provisoire-une-collaboration-police-3113.html

https://lundi.am/Nous-sommes-le-samedi-2-janvier-acte-XII-des-Gilets-Jaunes-dit-contre-les

https://www.mediapart.fr/journal/france/170219/toulouse-sur-fond-de-gilets-jaunes-resurgit-le-spectre-d-une-affaire-tarnac

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