[Kolumbien] Der Friedensprozess als Chance der Politisierung
Der Versuch eine kurze Analyse und Bestandsaufnahme der FARC-EP unter der Führung des Zentralen Generalstabs im Kontext des aktuell anvisierten Friedensprozesses.
Der derzeitig beginnende Friedensprozess des sogenannten Zentralen Generalstabs der FARC-EP mit der kolumbianischen Regierung unter Präsident Petro ist gewissermaßen ein Experiment und kann zu einer politischen Stärkung, ja Politisierung der aufständischen Strukturen beitragen. Nie zuvor gab es in der aufständischen Bewegung eine Fülle an politischen Diskussionen, als zum jetzigen Zeitpunkt. Ursächlich dafür sind Gründe wie der Friedensprozess, der für Diskussionen in den verschiedenen Strukturen führt, aber auch die relative Ruhe und Sicherheit der Kämpfer, gegeben durch den Waffenstillstand mit den staatlichen Sicherheitskräften. Doch auch innerhalb der Führungsebene findet eine Politisierung statt. Gefördert wird diese nun durch Treffen der verschiedenen Kommandierenden, erleichtert durch die temporäre Aussetzung von Haftbefehlen und den Transport unter Mithilfe des Internationalen Roten Kreuzes. Diese und andere Faktoren sorgen dafür, dass der beginnende Friedensprozess als eine Politisierung der aufständischen Strukturen angesehen werden kann.
Schaut man sich die historische Entwicklung der FARC-EP, Zentraler Generalstab, an, dann wird klar, dass wir es mit einer sogenannten dissidentischen Organisation zu tun haben, die sich zu recht auf die Tradition der alten FARC-EP beruft. Die alte FARC-EP vollzog mit der kolumbianischen Regierung unter Santos einen Friedensprozess, der im Jahr 2016 in ein Friedensabkommen mündete. Doch bereits während des Friedensprozesses gab es Strukturen, die sich dem verweigerten und einen Verrat an der revolutionären Sache sahen. Gentil Duarte, einst als Kommandant von der alten sich im Friedensprozess befindlichen FARC-EP in die Region Guaviare entsandt, um dissidentische Strukturen wieder einzufangen, schloss sich prompt den Strukturen um die 1. und 7. Front an. Gentil Duarte und Iván Mordisco sammelten alle Gruppierungen im Osten Kolumbiens um sich, die sich vom Friedensprozess abwandten. Hinzu kamen neue Rekrutierungen, so dass die Strukturen der FARC-EP unter Waffen immer größer wurden und erste Kontakte zu anderen Landesteilen, wie zu Kämpfern und Milizionären der ehemaligen 6. Front im Norden Caucas.
Schließlich wurde das revolutionäre Projekt der Fortführung der FARC-EP im Laufe der Zeit immer größer, denn die Unzufriedenheit mit der Umsetzung des Friedensabkommens war ersichtlich und wurde immer größer. Oftmals verlief dieser Prozess jedoch nicht gleich und noch fehlten eine gemeinsame Führung und Organisation. Häufig entstanden die Gruppen unabhängig voneinander, ohne weitreichende Kontakte zueinander und ohne eine politisches Gesamtziel. Deshalb muss diese aktuelle FARC-EP unter Iván Mordisco und dem Zentralen Generalstab historisch auch anders betrachtet werden, als die alte FARC-EP, die in Aufbau, Struktur und Befehlsgewalt anders funktionierte und als koordiniertes Gesamtprojekt betrachtet werden kann. Die aktuellen Strukturen der FARC-EP sind teilweise verschiedene Phänomene und Fraktionen und beginnen erst jetzt mit dem Prozess der Vereinheitlichung als eine integrierte Struktur unter einer Befehls- und Kontrolleinheit. Man kann dies als eine Art Föderation ansehen, die in ihren Interessen, Arbeitsweisen und Grad der Artikulation unterschiedlich sind sowie über ein hohes Maß an Autonomie auf territorialer Ebene verfügen.
Die Gründung eines Zentralen Generalstabs zur Koordinierung dieser Strukturen ist noch gar nicht so alt und im Zuge des aktuellen Friedensprozesses findet nun also die Kommunikation und operative Koordinierung ihrer Strukturen statt, de vorher kaum gegeben war. Es ist ein hohes Maß an Aufwand vorauszusetzen, dass überhaupt einheitlich Vorgespräche zum Friedensabkommen und gar ein Waffenstillstand zu Stande gekommen sind. Der Zentrale Generalstab ist nun eine Organisation, die in Form einer Föderation unter anderem das Westliche Koordinationskommando, das Östliche Koordinationskommando und auch den Block Magdalena Medio miteinander verbindet. Doch auch hier, innerhalb des Zentralen Generalstabs, bilden sich erst jetzt die Mechanismen der Arbeits- und Funktionsweise, der Befehls- und Kommandogewalt, aus. Die Unterschiede und fehlende Befehls- und Kommandogewalt wird zum Beispiel in der Durchsetzung des Waffenstillstandes deutlich, in dem die Strukturen des Westlichen Koordinationskommandos deutlich auffälliger brüchig gegenüber den festgelegten Protokollen sind.
Damit kann man den politischen Aspekt der aufständischen Regierung nicht negieren, denn als Guerilla und anerkannter politischer Akteur ist zwar eine hierarchische Organisation mit einheitlicher Befehlsgewalt, politisches Statut, Rekrutierung und Finanzierung elementar, doch muss die (Neu-)Organisation der aufständischen Bewegung immer im Kontext der geringen Zeit, staatlichen Repressionen und unterschiedlicher Sozialisation gesehen werden. Während bei Gentil Duarte, Iván Mordisco oder Calarcá eine Sozialisation bereits in der alten (farianischen) FARC-EP stattgefunden hat, fehlt sie aktuell bei vielen Kämpfern und Kommandierenden. Mittlere Ränge der FARC-EP des Zentralen Generalstabs haben keine politisch-militärische Sozialisation in der alten FARC-EP genossen, sondern sind erst über die letzten Jahre ihres Bestehens, oder gar ganz neu, zur Guerilla dazugestoßen. Dieser Grund, sowie die unterschiedlichen territorialen Entwicklungen und ein fehlendes Statut, sowohl politisch als auch militärisch in Bezug auf Befehlsgewalt und Sanktionen bei Fehlverhalten, sorgen sicher für die noch vorhandene Differenzierung der Strukturen.
Sich mit diesen Aspekten zu befassen, kann zu einer politischen Orientierung und Einordnung der aufständischen FARC-EP in Kolumbien führen. In den Medien oftmals als Dissidenten und kriminelle Gruppen dargestellt, reduziert auf die illegalen Geschäfte und den bewaffneten Konflikt, lässt jedoch den Kontext eines kapitalistischen Ausbeuterstaates außen vor, der trotz seiner Reichtums den Großteil seiner Bevölkerung in Armut und Ungerechtigkeit leben lässt, während eine Elite reich wird. Von daher kann die aktuelle Zeit als Chance begriffen werden, Schulung und Aufrechterhaltung des politischen Projektes zu fördern. Die Frage bleibt jedoch bestehen, wohin der Prozess der FARC-EP des Zentralen Generalstabs führt? Denn sollte die Stärkung der Rolle des Zentralen Generalstabs und einer einheitlichen Kommandoebene nicht stattfinden, besteht die Gefahr, dass die verschiedenen Strukturen wieder auseinander driften, die individuellen Interessen im Vordergrund stehen und ein einheitliches revolutionäres Projekt wie in der alten FARC-EP nicht möglich erscheint.