Bericht über die Veranstaltung: „Was war los in Hamburg? am Donnerstag, den 10.5., 19 Uhr K9, Kinzigstraße:

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Riot – Was war los in Hamburg? lautete der Titel einer  Diskussionsveranstaltung im Rahmen der Diskussions- und Chaostage. Weil die beabsichtigte Dokumentation der Veranstaltungen in dieser Woche noch Zeit braucht, wollen wir hier einen Bericht über die Veranstaltung geben. Wir denken, dass die Diskussion über Riots in Hamburg und global  wichtig ist und die Veranstaltung und die dort vorgestellten Thesen dafür eine Hilfestellung geben.

Die vielfältigen Formen von Protest und Widerstand gegen den G20-Gipfel in Hamburg liegen mittlerweile  mehr als ein  Jahr zurück. Sie haben ein sehr unterschiedliches mediales und politisches Echo hervorgerufen und der öffentliche Kampf um die Deutungshoheit über das Geschehen dauert weiter an. Aber auch innerhalb der linken Bewegung sind die Ereignisse umstritten und die diesbezüglichen Positionen sehr heterogen, insbesondere
was die Bewertung der Vorgänge während des G20-Wochenendes am Freitagabend, den riot, betrifft, gibt es sehr unterschiedliche Einschätzungen. Die Veranstaltung hatte das Ziel, einige Thesen zu dieser Debatte beizusteuern.  Sie stellten das vor einigen Wochen im Laika-Verlag erschienene Buch Riot - Was war los in Hamburg (
https://shop.laika-verlag.de/shop/diskurs/riot-was-war-da-los-hamburg ) vor.

 

Zunächst hat Sebastian Lotzer einige Passagen aus seinen „Schanzenblues“ gelesen.  Es ist eine poetische Auseinandersetzung mit den Tagen des Riots in Hamburg. Sein Text endete mit dem Satz: „Wenn wir unsere Komfortzonen, unsere Nischen verlassen, uns auf die Anstrengungen einlassen, uns auf die wirklichen sozialen Realitäten mit allen schmerzhaften Widersprüchen  einlassen, mag etwas gelingen, etwas Neues möglich sein.“

Im Anschluss stellte Achim Szepanski die Theorie des US-Soziologen Joshua Clover zur Zunahme der Riots vor. Es ist eine marxistische Analyse, die darauf rekurriert, dass Kampf- und Aktionsmittel mit der Entwicklung in den Produktionsverhältnissen korrelieren. In der Frühindustrialisierung bestimmten  spontane Aufstände (Weber_innenaufstand, Maschienenstürmer_innen etc.) die politische Agenda. Mit dem Anwachsen der großen fordistischen Fabriken entstand eine Klasse von Lohnabhängigen, die länger an einen Ort, einer Fabrik lebten und arbeiteten. Sie legten die Grundlage für eine Arbeiter_innenbewegung, die innerhalb der Betriebe Gewerkschaftsorganisationen der unterschiedlichen politischen Richtungen aufbauten.  Die revolutionären Gewerkschafter_innen setzten auf Aufbau von Gegenmacht in den Betrieben und auf Streiks. Das waren Aktionsformen, die in der Ära der fordistischen  Arbeiter_innenklasse angemessen ist, sieht Clover mit dem Ende des Fordismus die Ära der Riots wieder anbrechen. Wobei  bei Clover Riots mehr als Sachschäden  umfassen. Für ihn gehören dazu Sabotage, Unterbrechungen von Arbeitsprozessen  oder Logistikketten, Diebstahl, Haus und Platzbesetzungen.

Clover stellt eine Verbindung zwischen dem Wiedererstarken der insurrektionalistischen Strömung und dem Ende der fordistischen Arbeitsgesellschaft in den siebziger Jahren her. Das Ende dieser spezifischen Produktionsbedingungen sei durch regionale Deindustrialisierung und eine wachsende Bedeutung von »Kapitalbewegungen in der Zirkulation« gekennzeichnet gewesen, womit er die Ausdehnung des Dienstleistungs- und Verwaltungssektors beschreibt. Clover ordnet Streiks der Phase der fordistischen Produktion zu und die Riots der Zeit, in der der Fordismus an Bedeutung verloren hat.

 

»Die Ära des sozialistischen Kampfes wird identifiziert mit dem Aufstieg der industriellen Produktion – und der Streik geht damit einher. Gerade die großen Theoretiker des Sozialismus erheben den Streik zur Idealform des Kampfes im Gegensatz zum Riot. Beim Streik herrscht Disziplin. Der Riot hingegen ist spontan und chaotisch – die führende Rolle haben nicht die Arbeiter, sondern das von Marx verachtete Lumpenproletariat. Der Streik ergab also in der Zeit des Industriekapitalismus vor dem Hintergrund derselben Strukturen Sinn, die den klassischen sozialistischen Horizont ausmachten. Demnach sollte die organisierte Partei des Proletariats die Staatsmacht ergreifen, um jenes Übergangsregime zu errichten, in dem der Staat dann abstirbt.«

 

Streik – Riots – Gegensätze?

 

»Der Streik ist eine kollektive Aktion, die sich um den Preis der Arbeitskraft und bessere Arbeitsbedingungen dreht, während der Aufstand den Kampf um die Preise und die Erhältlichkeit von Marktgütern inkludiert«, fasst Szepanski die von Clover in dessen Buch vertretenen Thesen zusammen. Eines von Clovers wenigen Interviews in einer deutschsprachigen Zeitung gab er der Jungle World im Jahr 2016 (https://jungle.world/artikel/2016/43/die-aera-der-krawalle). Dort formulierte er einige Thesen, die nach den Riots von Hamburg eine neue Bedeutung bekommen haben. In dem Interview ordnet Clover den Insurrektionalismus historisch ein:

Welche Rolle spielt das für die Ideengeschichte der Arbeiterbewegung? 
 

Die Ära des sozialistischen Kampfes wird identifiziert mit dem Aufstieg der industriellen Produktion – und der Streik geht damit einher. Gerade die großen Theoretiker des Sozialismus erheben den Streik zur Idealform des Kampfes im Gegensatz zum Riot. Beim Streik herrscht Disziplin. Der Riot hingegen ist spontan und chaotisch – die führende Rolle haben nicht die Arbeiter, sondern das von Marx verachtete Lumpenproletariat. Der Streik ergab also in der Zeit des Industriekapitalismus vor dem Hintergrund derselben Strukturen Sinn, die den klassischen sozialistischen Horizont ausmachten. Demnach sollte die organisierte Partei des Proletariats die Staatsmacht ergreifen, um jenes Übergangsregime zu errichten, in dem der Staat dann abstirbt. Dazu ist es bekanntlich nie gekommen. Das sozialistische Projekt stagniert erst, bricht nach langem Siechtum in sich zusammen – und schließlich kehrt der Riot zurück.

Aus:  Jungle World 2016/46 

 

Weiter unten in dem Interview kommt dann eine Passage, in dem Clover eine fast pathetische Eloge auf die Riots formuliert:

Gibt es ein Äquivalent zur Idee des Generalstreiks – so etwas wie den »general riot«? 
Das Meisterwerk über den Generalstreik ist Rosa Luxemburgs Essay von 1906. Es gibt darin diese brillante Passage, wie eine Vielzahl unterschiedlicher Kämpfe als kleine Bäche und Flüsse zusammenlaufen, um am Ende einen mächtigen Strom zu bilden. Während es nicht in der spontanen Natur von Riots liegt, dass in Hunderten Städten gleichzeitig mit dem Ziel einer kommunistischen Gesellschaft Riots ausbrechen, kann man sich durchaus vorstellen, dass Riots auf die beschriebene Weise um sich greifen, bis aus kleinen Riots Megariots werden. Bis ein Bewusstsein von Riots nicht als sinnentleerte Zerstörung von Eigentum, sondern als erste praktische Akte kommunistischer Aneignung entsteht. Wer selbst einen erlebt hat, weiß, dass Menschen im Moment des Riots sehr viel geneigter sind zu teilen als sonst. Dass die Menschen beginnen, Riots nicht als feuriges Gewaltspektakel zu begreifen, sondern als Maßnahmen, um ein anderes Verhältnis zu Dingen, ein nichtkapitalistisches zu haben. Dass das um sich greift. Dass in Berlin, in Leipzig, überall die Riots expandieren, bis sie sich ver­einigen – das ist die optimistischste Vision, die ich mir vorstellen kann.“

 

 Auch wenn man diese politische Positionierung   kritisch betrachtet, muss man  feststellen, dass Clover  einer der wenigen Theoretiker_innen ist, der eine marxistische Definition der Riots liefert, der  die Riots mit der Entwicklung der Arbeiter_innenklasse verbindet. So liefert er die Grundlagen für eine Diskussion über Riots jenseits von moralischen (Ver)urteilungen und Distanzierungen.

Es gab nach dem Vortrag von Achim Szepanski zunächst zahlreiche Verständnisfragen, weil es sich um eine schwierige theoretische Materie gehandelt hat.  Bestimmte  Begriffe wie Suprlus-Bevölkerung sind schließlich kaum bekannt. 

Im Anschluss wurden einige Fragen zu den Thesen von Clover kritisch gestellt:

Stimmt es denn überhaupt, dass Streiks heute der Vergangenheit angehören?

Gibt es nicht sehr wohl erfolgreiche Arbeitskämpfe, beispielsweise in der Logistikindustrie?

Ist die Riot-Definition von Clover nicht mehr für die französischen Banlieus und die US-Ghettos weniger aber für Hamburg zutreffend?

Waren die Auseinandersetzungen in Hamburg nicht von der radikalen Linken vorbereitete Aktionen, die wenig mit der Definition von Clover zu tun haben? 

 

Das waren nur einige der gestellten Fragen. Es lohnt sich, diese und andere Fragen, die sich aus den Arbeiten von Clover ergeben, weiter zu diskutieren. Vielleicht auch mit Joshua Clover selber, der in den nächsten Monaten im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit in Berlin leben wird. Die Veranstaltung hatte den Zweck, den Raum für diese Diskussion zu öffnen. Damit sie nicht im Sommerloch verschwindet, wurde dieser sicher subjektive Bericht jetzt heir veröffentlicht, auch mit den vielen offenen Fragen, die sich in der Veranstaltung gestellt haben. 

 

Einige Links zu den Texten von Clover auf englisch und Deutsch:

https://www.versobooks.com/books/2084-riot-strike-riot

 

https://non.copyriot.com/joshua-clovers-riot-strike-riot-theorie-und-praxis-der-sozialen-aktion/

 

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