Tristan Leoni - Adieu Leben, Adieu Liebe … Ukraine, Krieg und Selbstorganisation

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Tristan Leoni zum Krieg in der Ukraine und den Diskussionen dazu in den radikalen Milieus.

So viel gutes Blut hat diese Erde getrunken,Blut von Arbeitern und Blut von Bauern,Weil die Banditen, die Kriege verursachen,Niemals dabei sterben, man tötet nur die Unschuldigen! [1]

Um die Ungewissheit des Schlachtfeldes zu evozieren, sprach Clausewitz vom „Nebel des Krieges“, der Begriff könnte genauso gut auf die mediale Lawine angewandt werden, die wir seit dem 24. Februar 2022 bezüglich der Ukraine erleben. Die beiden Lager liefern sich einen ziemlich klassischen Propaganda- und Bilderkrieg, der auf noch nie dagewesene Art und Weise durch die sozialen Netzwerke verstärkt wird. Von diesem Standpunkt aus sind die Ukrainer im Vorteil; viele Bilder sind auf ihrer Seite verfügbar (aufgenommen von Zivilisten oder Journalisten), viel weniger auf russischer Seite (keine Smartphones für die Soldaten, keine Zivilisten, kaum Journalisten). Daher kam am Anfang die Überfülle an zerstörten russischen Fahrzeugen. Das ist es, was die Abendländer (wir) sehen, doch es handelt sich nur um einen Teil der Realität. Umso mehr, weil die Algorithmen unsere jeweiligen kognitiven Verzerrungen verstärken, sie drängen uns dazu, jene Informationen zu begünstigen, welche unsere Meinungen und Vorannahmen bestätigen: Das ist das „Diagoras-Problem“, aber in Kriegszeiten wird dieses alltägliche Los exzessiv, erstickend. Es ist nicht einfach, die notwendige Distanz und einen genügend kühlen Kopf zu bewahren, um zu verstehen, was geschieht, und eventuell dementsprechend zu handeln: Das ist es noch weniger, wenn man in einem kriegführenden oder am Krieg beteiligten Land lebt.

Zwei glorreiche Halunken

Keine Angst, die gehen raus. [2]

Russland ist in der Ukraine eingefallen und nicht umgekehrt. Der Unterschied zwischen „Angreifer“ und „Angegriffenen“ ist jedoch, so wichtig er auch sein mag, kein hinreichendes Kriterium, um die Situation zu verstehen. Der Demokrat und der Autoritäre, der Nette und der Böse usw.

Am 28. Juli 1914 erklärt das mächtige Österreich-Ungarn (50 Millionen Einwohner) nach der Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand dem kleinen Serbien (zehnmal weniger Einwohner) den Krieg. In den darauffolgenden Tagen treten alle europäischen Mächte durch das Bündnisspiel in den Krieg ein und eines der Argumente Frankreichs und Englands ist die Verteidigung des Schwachen gegen den Starken. „Niemand kann in gutem Glauben davon ausgehen, dass wir die Angreifer sind“, erklärt René Viviani, Regierungschef einer sehr demokratischen französischen Republik, der das zwangsläufig despotische und grausame Deutschland gerade den Krieg erklärt hat. Obwohl die Sozialdemokraten (und sogar einige Anarchisten wie z.B. Kropotkin) aller Länder grossmehrheitlich diese Erzählung und jeweils die Burgfriedenspolitik mittragen, verweigert sich die Sozialistische Partei Serbiens der Landesverteidigung und stimmt gegen die Kriegskredite. Im Jahr 1914 ist es selten, dass Revolutionäre nicht der Kriegspropaganda erliegen [3].

Aber man kann die Ursachen des Ersten Weltkrieges nicht mehr auf diese Art und Weise erklären. Der Auslöser oder auslösende Zwischenfall eines Konflikts ist nur ein Element in einer viel komplexeren Gesamtsituation [4]. Jedes Land kann legitimerweise behaupten, dass es sich verteidigt, das überfallene gegen den Invasoren natürlich, aber auch der Invasor, der interveniert, um einen Dritten daran zu hindern, das überfallene Land zu besetzen, zu beherrschen oder zu manipulieren. Die UdSSR handelte 1956 in Ungarn so, Grossbritannien und Frankreich in Ägypten im gleichen Jahr, die USA in Vietnam, die UdSSR in Afghanistan usw. Die Schwachen existieren nur durch die Starken, die sie gegen andere Starke beschützen, und jeder verteidigt sich, um seinen Nachbarn daran zu hindern, ihn anzugreifen oder als Basis dafür zu dienen.

Wie so viele vor ihm ist der sich heute auf dem ukrainischen Territorium abspielende Krieg Teil einer breiteren Konfrontation zwischen grossen Blöcken; und die Charakterisierung der beteiligten Regime (demokratisch oder nicht) ist (wie gewohnt) anekdotisch.

Im Westen beklagen gute Geister die Tatsache, dass während dem Zerfall des Warschauer Pakts nach der Auflösung der UdSSR 1991 die USA, statt die NATO aufzulösen, dieses militärische Bündnis progressiv erweitert und sogar die meisten ehemaligen Satellitenstaaten der UdSSR daran beteiligt haben. Wie würden die USA reagieren, falls Mexiko oder Kanada sich einem gegen sie gerichteten militärischen Bündnis anschlössen [5]? Im Jahr 2022 hat die russische Invasion den Vorteil, die Ausweitung der NATO zu rechtfertigen und fortzusetzen (Schweden, Finnland).

Das Problem liegt nicht hier. Es war selbstverständlich für die USA (und ihre Verbündeten), von der Gelegenheit des Verschwindens der UdSSR zu profitieren, um ihre Interessen durchzusetzen und die russische Macht zu beschränken. Genau wie die UdSSR es in der Vergangenheit auch jedes Mal tat, wenn sie es konnte. Die Ukraine ist strategisch ein viel zu wichtiges Territorium (insbesondere der Osten und der Süden des Landes), als dass das eine oder das andere Lager akzeptierte, es leichtfertig aufzugeben (Bevölkerungs- und somit proletarische Massen, Industrien, Bewässerung, etliche bestehende oder potenzielle Rohstoffe auch unter dem Schwarzen Meer, Zugang dazu und Kontrolle darüber usw.).

„Kein Krieg. Glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet ihr belogen.“ Es brauchte Mut für Marina Owsjannikowa am 14. März 2022, um es zu wagen, öffentlich den von ihrem Land geführten Krieg zu verurteilen. Es ist fraglich, ob die Fernsehnachrichten eines grossen französischen Senders eines Tages um 20 Uhr durch eine unangebrachte Hinterfragung der westlichen Kriegspropaganda unterbrochen werden können. Gibt es vielleicht mehr Pazifisten in Moskau als in Paris?

Rudyard Kipling hat vielleicht nie geschrieben, dass „die Wahrheit […] das erste Opfer des Krieges [ist]“, aber trotzdem… Man konnte freilich damit rechnen, aber es ist erstaunlich, die Geschwindigkeit festzustellen, mit welcher die Medien in jedem Land einen Konsens ausdrücken, welcher der Politik der Regierenden entspricht [6]. Die mehr oder weniger allgemeine Akzeptanz der staatlichen Verwaltung der Covid-19-Krise seitens der Bevölkerungen hat minoritäre und trotzdem mit einem gewissen Echo wiederholte Akte des Protestes nicht verhindert. Der Krieg hingegen erschafft nicht nur eine Unterwerfung, sondern eine Zustimmung – auf jeden Fall so lange sich der Konflikt nicht bis zu einem Punkt in die Länge zieht, wo die Ziele als immer weniger glaubwürdig erscheinen. Es ist nämlich bekannt, dass man 2022 nicht mehr Dutzende Millionen Männer einberuft: Man mobilisiert hunderte Millionen Zuschauer vor ihren Bildschirmen.

In Paris oder in Marseille sind alle gegen den Krieg – aber wünschen sich den Sieg der Ukraine, fordern, dass man ihr mehr Waffen liefert oder sogar, dass man französische Soldaten dorthin schickt. Die „pazifistischen“ Kundgebungen in den Farben Gelb und Blau sind ziemlich ruhig und überschaubar im Vergleich zu den heftigen Demonstrationen gegen den Krieg 2003, wo sich, man sollte es nicht vergessen, niemand den Sieg des Iraks wünschte, niemand schlug vor, Bagdad Waffen zu liefern, damit die amerikanischen Flugzeuge abgeschossen werden können. Es ist wahr, dass diese sehr spezielle Spezialoperation offiziell zum Ziel hatte, das Land zu entbaathifizieren und zu demilitarisieren, gegen den Terrorismus zu kämpfen, ein Volk zu befreien und ihm die Demokratie zu bringen. Man verliert sich darin ein bisschen.

Aber warum also?

- Es ist ein Krieg gegen den Faschismus …- Es ist ein Krieg. Mit seinen tieferen Ursachen, seinen historischen Gründen, seine Erklärungen. Der Nationalismus, der Versailler Vertrag, die Rivalitäten zwischen expansionistischen Industriemächten. [7]

Warum also hat Russland diese Operation lanciert, deren Folgen katastrophal sein werden, auch für Russland selbst? Was war sein Interesse?

Schliessen wir zuerst die psychologisierenden oder pathologisierenden Erklärungen aus, die im Moment sehr in Mode sind, sobald es darum geht, von einem Gegner zu sprechen; die Senilität oder die geistige Verwirrung irgendeines politischen Führers erklären nichts; schliessen wir auch die Personalisierung aus, denn man steht nie allein an der Spitze.

Die Geschichte zeigt uns, dass die Auslösung des Krieges, dieses „Wahnsinns“, in Wirklichkeit zu einem gegebenen Zeitpunkt jene Option für einen Staat ist, welche als die vernünftigste erscheint; doch die Interessen der Führungsschichten unterscheiden sich stark von jenen der ehrlichen Leute und der Proletarier.

Halten wir zuerst fest, dass, obwohl die Drohung in der Luft lag, die Lancierung dieser Operation und allen voran ihr Ausmass fast die Gesamtheit der Beobachter und Spezialisten überraschten. Die Invasion der Ukraine war in Betracht gezogen und geplant worden (die Führungsstäbe machen immer Pläne für die verschiedensten Situationen) und folgte auf riesige Manöver in Weissrussland. Aber es ist alles andere als sicher, dass die Operation wirklich gewählt wurde und noch weniger das Datum ihrer Lancierung; sie hat sich vielleicht den russischen Anführern aufgedrängt aufgrund einer komplexen Verkettung von Umständen, welche die Konfrontation zwischen der NATO und Russland (vor allem seit 2014) als Rahmen haben und in welcher man folgende Elemente findet:

- die Rivalität zwischen den USA und Russland bezüglich der Energieversorgung Europas;

- die verstärkte Truppenstationierung durch die NATO in der Region in den letzten Jahren (baltische Länder, Polen und Rumänien);

- vermehrte westliche Waffenlieferungen an die Ukraine 2021 und somit das Erstarken der ukrainischen Armee, die künftig (aber wann?) stark genug sein könnte, um die sezessionistischen Territorien im Donbass zurückzuerobern oder zumindest um sich effizient einer erneuten russischen Invasion entgegenzustellen;

- die Entwicklung und das Scheitern der Verhandlungen über den Status der Ukraine (Neutralität? Demilitarisierung? Beitritt zur NATO?) und des Donbass (Autonomie? Unabhängigkeit?), auch in den Wochen vor der Offensive;

- die Erklärungen Joe Bidens, der, während die USA die unmittelbar bevorstehende russische Invasion verurteilen, ankündigt, er habe „nicht die Absicht, amerikanische oder NATO-Truppen in die Ukraine zu entsenden“ (25. Januar 2022) – was in der Diplomatie als „genehmigt“ interpretiert werden kann [8];

- europäische Länder, die als schwach, gespalten und zu abhängig von Russland erscheinen, um gegen das Land neue Wirtschaftssanktionen zu verhängen;

- Elemente, die wir nicht zur Verfügung haben – gewisse Experten sprechen von einem möglichen Sinneswandel Russlands zwischen dem 21. und dem 23. Februar;

- ein Gelegenheitsfenster, das sich zu schliessen scheint: „Jetzt oder nie!“

In Betracht gezogen als Möglichkeit und angedroht im diplomatischen Poker wurde die Invasion der Ukraine wahrscheinlich entschieden und dann verschoben, vielleicht mehrere Male; die finale Entscheidung wurde wahrscheinlich erst im letzten Moment getroffen, mehrere Wochen wurden verloren, was die sehr schlechten Wetterbedingungen während der Periode der rasputiza erklärt.

Verlauf der Operationen

Kein Plan überlebt die erste Feindberührung. [9]

Was die „informierten“ Beobachter besonders überrascht, ist die Tatsache, dass es vor der russischen Bodenoffensive nur während einigen Stunden zu Luft- und Raketenangriffen kam, welche Kasernen, Luftstützpunkte, Luftabwehrsysteme und ukrainische Radarsysteme zum Ziel hatten [10]. Der Rest ist die Kühnheit des ursprünglichen Planes (der einem gewagten Würfelwurf in einem Kriegsspiel ähnelt). Zu diesem Zeitpunkt ist das Ziel wahrscheinlich eine Kapitulation der Ukraine in einigen Tagen nach einer grossen Hubschrauberoperation gegen einen Flughafen in der Vorstadt Kiews zur Öffnung eines Korridors für ein schnelles Eindringen von Panzern, die Eroberung der Hauptstadt und der Sturz der Regierung. Obwohl die Fallschirmjäger sehr wohl den Flughafen erobern, scheitert die Operation, weil sie durch einen Gegenangriff niedergewalzt werden. Gleichzeitig überqueren an mehreren Punkten Panzerkolonnen die Grenzen und dringen überall ins Land ein, aber ohne Vorsicht oder Schutz, ohne taktische Luftunterstützung und vor allem, eine andere Überraschung, ohne Vorbereitung oder Artillerieunterstützung; trotz der Tatsache, dass „die russische Armee“ als Erbin der sowjetischen Doktrin „vorwiegend eine grosse rollende Artillerie und eine glatte Bomben abwerfende Luftschlagkraft ist“ [11]. Es kommt auch weder zur Zerstörung strategischer Standorte, noch der Infrastruktur zur Stromversorgung oder Kommunikation (in Serbien hatte die NATO 1999 die Kraftwerke und die Brücken angegriffen). Was auch immer die westlichen Medien sagen mögen, Russland führt in den ersten zwei Wochen seiner Offensive einen relativ „zurückhaltenden“ Krieg. Das kann durch den medialen Druck, aber auch durch den Willen Russlands erklärt werden, die Infrastrukturen und die Schwerindustrie in jenen Gebieten zu erhalten, welche es annektieren möchte, und vor allem durch die Absicht, eine russischsprachige Bevölkerung zu schonen, von welcher es sich einen herzlichen Empfang erhofft und die es, so wird es offiziell behauptet, vom Nazijoch befreien will. Doch diese Strategie scheitert letztendlich. Die Analysen des russischen Nachrichtendienstes sind komplett falsch: Die Bevölkerung erweist sich als feindlich gegenüber den Soldaten und improvisiert manchmal Akte des bewaffneten Widerstandes (Wurf von Molotowcocktails). Zudem sieht sich die russische Invasion mit einer ukrainischen Armee konfrontiert, deren Widerstand viel hartnäckiger ist als geplant. Das liegt vorweg an der Tatsache, dass die russische Armee von keinem Überraschungseffekt profitiert; obwohl die wochenlangen Manöver in Weissrussland offensichtlich Unruhe ausgelöst haben, haben die Ukrainer von den amerikanischen Nachrichtendiensten die präzisen Details der bevorstehenden Operation erhalten und sich darauf vorbereitet, besonders indem die Truppen und das Material zur Begrenzung der Effekte der ersten russischen Bombenangriffe zerstreut worden sind.

Die russischen Panzer- und Versorgungslastwagenkolonnen, die vorrücken, als ob das Gebiet bereits erobert gewesen wäre, sind mit einer heftigen Guerilla konfrontiert; sie sind ein erlesenes Ziel, weniger für bewaffnete Zivilisten als für kleine Gruppen von (besonders mit den gefürchteten amerikanischen oder schwedischen Panzerabwehrraketen Javelin oder NLAW [12]) schwer ausgerüsteten Militärangehörigen oder Kampfdrohnen (türkische Bayraktar). Das Fortschreiten wird scheinbar auch durch einen Treibstoff-, Nahrungs- oder gar Munitionsmangel gebremst, d. h. durch eine schwache Logistik und/oder zumindest teilweises unvorbereitetes Handeln. Daher kommt eine relativ tiefe Kampfmoral, v.a. nach wochenlangen ermüdenden Manövern.

Nach zwei Wochen Kämpfen, als das Tauwetter und der Schlamm sich ausbreiten und die Stellungen erstarren, beginnen die Angreifer damit, die Artillerie viel weniger gemässigt zu benutzen, besonders gegen die Vororte der belagerten Städte, wo die ukrainische Infanterie positioniert ist. Die russische Luftwaffe wird weiterhin kaum benutzt, sie scheint über nur wenig Präzisionsmunition zu verfügen, sie muss also auf Sicht und bei klarem Wetter schiessen, aber das Wetter ist schlecht und die Höchstgrenze sehr tief, die Flugzeuge sind also in der Reichweite der ukrainischen MANPADS (Flugabwehr-Lenkwaffen), welche ihnen heftige Schäden zufügen. Zudem kommt der ukrainischen Armee sehr schnell eine bedeutende Unterstützung der NATO zugute, sei es materiell (massive und zunehmende Lieferungen von Waffen und Ausrüstung), hinsichtlich der Ausbildung (dort oder in westlichen Ländern), logistisch (dort [13]), aber auch nachrichtendienstlich [14].

Sehr schnell sprach man von einem Scheitern oder einer Lähmung der russischen Armee, [15] ohne jedoch die ursprünglichen Ziele des Kremls zu kennen; es existiert übrigens ein Unterschied zwischen den politischen Absichten und den militärischen Zielen, die weitgreifender als erstere sein müssen, um die Bemächtigung von Stellungen zu erlauben, welche bei künftigen Verhandlungen als Tauschobjekt dienen werden. Die Invasion der gesamten Ukraine ist wahrscheinlich nicht das Projekt des Kremls: zu teuer, zu komplex (besonders um das Territorium zu besetzen), während es für ihn praktischer wäre, eine auf ihren westlichen Teil reduzierte Ukraine aufrechtzuerhalten (sei es nur, um dort die Millionen Flüchtlinge und die Russland am feindlichsten gesinnten Bevölkerungen aufzunehmen). Die mehr oder weniger verschleierte Annexionsabsicht neuer Provinzen (östliches Dnieprufer, ein Teil oder die Gesamtheit der Schwarzmeerküste) ist wahrscheinlicher. Auf jeden Fall kann Russland, wenn es die Demütigung (gegenüber der Welt und seiner Bevölkerung) vermeiden will, seine Operation nicht unterbrechen, bevor es nicht ein Minimum an strategischen Stellungen erobert hat. „Putin hat auf ein Pferd gesetzt. Er ist eine Wette eingegangen, er hat sie in der ersten Runde verloren. Bis wann wird er den Einsatz erhöhen, um nicht mit leeren Taschen abziehen zu müssen? Genau darum geht es. Und der Westen muss verstehen, dass er nicht mit leeren Taschen abziehen kann, denn wenn er den Eindruck hat, dass er mit leeren Taschen abziehen könnte, wird er den Einsatz erhöhen. Das ist die Fata Morgana des Sieges, die alle Anführer ergreift, die sich in einer militärischen Operation engagieren.“ [16]

Ende März, als sich die Lähmung bestätigt und ein allzu schmähliches Scheitern verhindert werden muss, ziehen sich die russischen Truppen aus den rund um Kiew eroberten Gebieten und dem Norden des Landes zurück und verschieben sich wieder in den Osten. Von nun an bezeichnet der Kreml als Ziel die Vollendung der Eroberung des Donbass und die Sicherstellung einer territorialen Kontinuität zwischen diesem Territorium und der Krim, vielleicht sogar mit Transnistrien. Dafür knüpfen die russischen Einheiten wieder an ihre klassische Doktrin an und räumen der Vorbereitung durch Artillerie und die Bombenangriffe aus der Luft einen grossen Platz ein. Ende April rücken diese Truppen zwar langsam aber methodisch vor; die sowohl mechanische als auch menschliche Konfrontation ist heftig, umso mehr, weil das Kräfteverhältnis nun relativ ausgeglichen ist. Moskau, mit in diesem Krieg ziemlich wenig mobilisierten Männern, ungefähr 200‘000 (gegen 200‘000 bis 300‘000 auf Seiten Kiews), profitiert von einer gewissen Überlegenheit in der Luft (die von den gegnerischen Flugabwehrraketen beschränkt wird) und bezüglich der Artillerie (die von den starken Befestigungen der Verteidiger beschränkt wird). Wenn es Moskau nicht schafft, den Widerstand im Donbass zu zerschlagen, wird Russland eine andere Lösung finden müssen, um nicht das Gesicht zu verlieren – umso mehr, weil einige nun schon von der Möglichkeit einer Umkehrung der Situation und ukrainischen Offensiven gegen Transnistrien oder die Krim sprechen. Da scheinbar sehr wenige Länder auf eine Beruhigung der Lage hinarbeiten – ganz im Gegenteil –, ist die Gefahr einer Eskalation heute sehr wohl real.

Die Selbstorganisation der Bevölkerung

Es gibt nunmehr keine Gründe mehr, zu kämpfen, wir haben keine Armee mehr, weder du noch ich, nur noch verschiedenfarbige Lumpen, die bloss noch Uniformen heissen. Wie sehen wir jetzt aus in diesen Lumpen? Es gibt keine Grenzen mehr, keine Regierungen, keine edlen Sachen, somit keine Gründe mehr, zu kämpfen … [17]

Wir haben es gesehen, Russland hatte einen warmen Empfang in den russischsprachigen Regionen im Osten und im Süden des Landes erwartet, doch das Gegenteil geschah. In den ersten Tagen wurde das Gewicht, sei es in den bürgerlichen Medien oder in den aktivistischen Netzwerken, auf die Mobilisierung der ukrainischen Bevölkerung gelegt; diese scheint uns zu zwei verschiedenen Feldern zu gehören.

Zuerst einmal die grundlegende materielle Solidarität in Anbetracht des Desasters: Unterstützung und Beherbergung für Flüchtlinge, die aus den Kampfgebieten fliehen (sie stehen unten an der Tür und kommen aus der Nachbarstadt), Hilfe für Verletzte und Leute, die unter den Trümmern eines Hauses verschüttet sind usw. Man organisiert sich so gut es geht, koordiniert mit den Notdiensten, der lokalen Verwaltung, einer NGO oder schlicht mit Nachbarn. Diese Handlungen wurden manchmal als erste Anzeichen für eine bei kontinuierlicher Ausbreitung und Stärkung zwangsläufig emanzipatorische Selbstorganisation der Proletarier interpretiert. Das scheint uns sehr übertrieben, diese Handlungen sind auf die bei menschlichen Wesen ziemlich gängigen minimalen Reflexe gegenseitiger Hilfe zurückzuführen.

Und es gibt eine Mobilisierung, die man martialisch nennen könnte und die Vereitelung der russischen Offensive zum Ziel hat. Auch hier organisiert man sich, so gut es eben geht, während die staatlichen Dienste komplett überlastet sind: Künstler, die eine Werkstatt zur Herstellung von Molotowcocktails ins Leben rufen, Restaurantbesitzer, die eine Kantine zur Ernährung der Soldaten eröffnen, Unternehmen, die auf die Herstellung von Panzersperren umstellen, Frauen, die gemeinsam Tarnnetze nähen, Rentner, die Sandsäcke füllen, Einwohner, die Barrikaden bauen, usw.

Was für Leute (uns), die den Krieg nicht gewohnt sind, frappierend ist, sind die Zivilisten, die anstehen, um die Uniform der Territorialverteidigung (TV), eines Zweiges der ukrainischen Armee, der aus Reservisten und Freiwilligen besteht, zu tragen und sich ihr anzuschliessen. Zehntausende Sturmgewehre werden an die Bevölkerung verteilt, Knackis werden gegen ihre Teilnahme an den Kämpfen freigelassen usw. Sehr schnell mangelt es an Waffen und Material, nicht an Freiwilligen; am Anfang müssen jene, welche sich engagieren, grösstenteils selbst und auf eigene Kosten in Geschäften für Militärausrüstung einkaufen gehen (Drilch, Canvas, Helm, kugelsichere Weste usw.). Was die folgenden betrifft, besonders jene, welche sich auf Wartelisten gesetzt haben, verlangt die Regierung prioritär von ihnen, ausser wenn sie militärische Erfahrung haben, weiterhin zu arbeiten, eine andere wesentliche Form des Widerstands.

Der taktische Nutzen derartig zusammengesetzter Einheiten ist, man wird es verstehen, eher gering, doch die Rolle der TV ist es vorwiegend, den am besten ausgebildeten Soldaten die undankbarsten und zeitaufwendigen Aufgaben abzunehmen: Überwachung hinter der Front (Lagerhäuser, Brücken usw.), Patrouillen in den Städten, Durchsetzung der Ausgangssperre und Kampf gegen Plünderungen. Allen „Auswüchsen“ sind Tür und Tor geöffnet: Die Checkpoints und Identitätskontrollen häufen sich (unter der Vollmacht eures Nachbarn, Lebensmittelhändlers oder Arbeitskollegen), die aufmerksamen Bürger überwachen und denunzieren, man verfolgt die verdächtigen Zivilisten (Spione, Saboteure, Prorussen?), die verhaftet und wer weiss wohin transferiert werden für die Befragung usw. Da die Gerichte nicht mehr funktionieren, ist es die TV, die manchmal eine Eiljustiz praktiziert, besonders gegen Diebe und Plünderer (jene, welche nicht an Ort und Stelle umgebracht werden, werden mitten auf der Strasse mit bis zu den Fussknöcheln heruntergelassenen Hosen in der eisigen Kälte an einen Pfosten geknüpft).

Ohne einen einfältigen Pazifismus verherrlichen zu wollen, scheinen uns die manchmal beobachteten Demonstrationen von Zivilisten mit dem Ziel der Blockierung der Fahrbahnen und Panzerkolonnen durch eine gewaltfreie Aktion interessanter (solche Dinge sah man auch im Iran 1979, in Peking 1989, in Slowenien 1990). Aber einmal mehr, was hier zum Ausdruck kommt, ist nicht eine tief verwurzelte Ablehnung des Krieges, ein etwas naiver Pazifismus, sondern ein tiefgehender Nationalismus; man hält dort nicht Friedensfahnen hoch, sondern eben die ukrainische Flagge. Mit dieser Krise beobachten wir wahrscheinlich „live“ die Vollendung des Aufbaus dieser ukrainischen Nation, die das Produkt eines mit der Unabhängigkeit entstandenen Prozesses ist: Eine Bevölkerung, die sich unabhängig von ihrer Sprache plötzlich ihrer historischen, kulturellen oder gar religiösen Besonderheiten bewusst wird (die noch von Moskau abhängige orthodoxe Kirche trennt sich heute davon) und die über die Klassen hinweg stolz auf sich ist – auch wenn diese Besonderheiten in Anbetracht der Geschichte sehr künstlich erscheinen mögen und sie bei Gelegenheit frei erfunden werden (wie nach dem Zerfall Jugoslawiens 1990). Es werden sich jene finden lassen, welche das berührend finden. Auf jeden Fall scheint es etliche westliche Humanisten und Sozialdemokraten, die gewöhnlich für Nationalismus eher unempfänglich sind, nicht zu stören; ein prachtvolles Beispiel dafür ist der Filmemacher Mathieu Kassovitz, der einem Journalisten erklärt, dass die Ukrainer, die er gut kenne, „im guten Sinne ultranationalistisch“ seien, „d. h. sie sind stolz auf ihr Land und wollen es unbedingt beschützen“. Das Gleiche scheint für gewisse linksradikale französische Aktivisten zu gelten (für welche im Allgemeinen die Tatsache, an einer Demonstration eine Trikolore zu schwenken, ein Zeichen für Faschismus ist). Doch es gibt schon ukrainische Anarchosyndikalisten, die einen „befreienden und kreativen Nationalismus“ [18] bewerben!

Ein nationalistisches Empfinden, das logischerweise einhergeht mit der Unterstützung der Bevölkerung für ihre Armee, eine leidenschaftliche und schon alte Unterstützung, verbunden mit einem Verhältnis zur Virilität, das anders ist, als jenes, welches wir in Westeuropa kennen, was „natürlich“ diese Bereitschaft erklärt, zu den Waffen zu greifen, um sein Land zu verteidigen, obwohl „die Ausbildung, der Unterhalt und die Bewaffnung der ukrainischen Armee zusammen mit den Kreditanforderungen des IWF die strukturelle Ursache für Kürzungen bei Krankenhäusern, Schulen und Universitäten sowie für die Armutsrenten und die fehlenden Lohnerhöhungen im öffentlichen Sektor sind“ [19]. Denn die Verteidigung seines Landes ist allen voran, erinnern wir daran, gleichbedeutend mit der Verteidigung der Interessen seiner Bourgeoisie gegen jene der Bourgeoisie gegenüber.

Das mit dem Land, dem Blut und der Demokratie verbundene Hochgefühl hat jedoch einige Grenzen. Seit dem Beginn der Invasion ist die Wehrpflicht angeordnet worden, sie macht die Zwangsrekrutierung aller Männer zwischen 18 und 60 Jahren möglich, dazu kommt ein Verbot, das Land zu verlassen – denn alle Ukrainer wollten sich scheinbar nicht in der Armee oder der TV engagieren. Es gibt tatsächlich Widerspenstige und Deserteure; einige versuchen, sich zu verstecken, falsche Papiere zu erhalten, ins Ausland zu fliehen; die Kontrollen an der Grenze für die Ausreise von Flüchtlingen sind also kein Zufall. Andere engagieren sich vorsichtig in ihrer lokalen TV, hinter der Front, um nicht unter Zwang in eine Einheit integriert zu werden, die sich an Kämpfen beteiligt. Ihr Unglück ist, dass die Lieferungen der NATO (z.B. zehntausende Helme und kugelsichere Westen) die Ausrüstung einer steigenden Anzahl von Rekruten (und Mitgliedern der TV) und ihren Transfer an die gefürchtete Ostfront erlauben – daher kommt ziemlich mechanisch eine steigende Anzahl an Widerspenstigen und vielleicht sogar die ersten Demonstrationen gegen die Wehrpflicht (in Chust, im Westen des Landes).

Doch die Regierung, obwohl die Ukraine einige Wochen der Unentschlossenheit erlebt hat, hat die Dinge ziemlich schnell in die Hand genommen, vornehmlich, das muss man zugeben, dank der Unterstützung ihrer Bürger. Sie haben sich nicht gegen den Staat oder aufgrund seiner Abwesenheit selbst organisiert, sondern um zu verhindern, dass er aufgrund der russischen Offensive zusammenbricht. Das ist eine ziemlich „normale“ Reaktion in einem Land, das ein starkes Gefühl der nationalen Einheit kennt und zu diesem Zweck durch eine improvisierte Propaganda formatiert worden ist. Das bestätigt einmal mehr, dass die Selbstorganisation nicht an sich revolutionär ist.

Was tun – unter den Bomben?

Singend öffnet uns der Sieg die Schranke;Die Freiheit lenkt unsere Schritte. [20]

Wir sind nicht in der Situation der Ukrainer und auch nicht in jener der in der Ukraine lebenden Anarchisten oder Kommunisten; es ist schwierig, zu wissen, was man dort tun sollte, ihr Handeln unmittelbar einzuschätzen, denn (was auch immer unsere Ideen sein mögen) wir wissen nicht, wie wir an ihrer Stelle reagieren würden; der historische Abstand erlaubt häufig diese Art von Urteilen, denn es ist einfach, die Wahrheit zu kennen, wenn man die Fortsetzung und das Ende der Ereignisse kennt [21]. Sollten unsere ukrainischen Genossen nur aufgrund ihrer Situation als „direkt Betroffene“ dennoch von jeglicher Kritik ausgenommen sein? Zwar geht ihre Tätigkeit nur sie etwas an, aber zumindest der damit verbundene, an uns gerichtete und in Frankreich aufgegriffene Diskurs verdient eine ganz andere Aufmerksamkeit.

Die Reaktionen der „radikalen“ ukrainischen Aktivisten scheinen sehr verschieden, manchmal widersprüchlich. Einige antimilitaristische und pazifistische Genossen halten an revolutionär-defaitistischen Positionen fest, aber die Propaganda dafür scheint in der Ukraine nicht minder riskant zu sein als in Russland. Andere engagieren sich in der Unterstützung für Flüchtlinge oder Verletzte [22].

Was jedoch in Frankreich für viel Überraschung sorgte, ist die Tatsache, dass man durch einige Texte und Zeugenberichte erfuhr, dass ukrainische Anarchisten sich in der Armee oder der TV engagiert haben. Einige Gruppen scheinen dadurch von den Waffenverteilungen profitiert zu haben, um Kampfeinheiten aufzubauen; eine Broschüre spricht von der Kreation „zweier Kampfgruppen“; etwa 20 Aktivisten in Drilchen und mit Kalaschnikows posieren auf einem Foto rund um eine schwarze Fahne mit einem A im Kreis, die Legende des Bildes erwähnt vorsichtig, dass diese Gruppen „einen gewissen Grad an Autonomie haben“ innerhalb der TV – was, man wird es verstanden haben, einen gewissen Grad an Unterordnung bedeutet [23]. Sogar nach einer kurzen Periode des Chaos ist es nämlich offensichtlich, dass die Armee versucht, die Gruppen bewaffneter Zivilisten zu kontrollieren, v.a. wenn sie sich offen auf eine politische Ideologie berufen, die a priori kaum mit staatlicher Autorität kompatibel ist. Dennoch bestehen die anarchistischen oder antifaschistischen Militäreinheiten wahrscheinlich aus nicht mehr als einigen Dutzend lokalen Kämpfern (einige Dutzend aus dem Westen haben sich ihnen vielleicht angeschlossen), in einem Gebiet, wo zwei gigantische Armeen, mehrere hunderttausend Männer, miteinander konfrontiert sind [24] … Zur Erinnerung, das berühmte Regiment Asow – einer der militärischen Arme der etlichen rechtsextremen ukrainischen Organisationen – ist eine permanente Einheit der TV, sie besteht aus mehreren tausend Kämpfern und verfügt über Panzer.

Die ersten erfolgreichen Hinterhaltsszenen gegen einen russischen Konvoi führten dazu, dass einige glaubten, dass die russische Armee, sollte der ukrainische Staat zusammenbrechen, mit einer breiten und populären Guerilla konfrontiert sein würde, bestehend aus lokal agierenden autonomen Gruppen; Gruppen, die gewiss mehrheitlich von einem patriotischen Empfinden getrieben werden, doch inmitten welcher anarchistische Gruppen sich vielleicht geschickt aus der Affäre ziehen und eine einflussreiche Rolle spielen könnten … Man vergisst dabei, dass ein solcher Widerstand, um effizient zu sein, besonders strukturiert, diszipliniert und finanziert sein und die Unterstützung von anderen Staaten erhalten muss.

Doch nach einigen Tagen, die von spektakulären Aktionen einer von kleinen Einheiten (von den Amerikanern für diese Art von Aktion ausgebildeter) professioneller Soldaten angeführten Technoguerilla geprägt waren, hatten die Kämpfe sehr schnell einen eher klassischen Charakter, jenen eines Zusammenstosses zwischen breiten und schwer ausgerüsteten Einheiten, innerhalb welcher die Koordination, die Bewegung, die Befestigungen, die Artillerieduelle und die Munitions- und Treibstoffflüsse zentral werden. Was ist in diesem Mahlstrom aus den anarchistischen „Kampfgruppen“ geworden? Es ist kaum wahrscheinlich, dass sich ihre „Autonomie“ vergrössert hat.

Wieso sich also engagieren? In mehreren Texten berichten die ukrainischen Anarchisten und Radikalen, dass sie in den Ereignissen „ins Gewicht fallen“, bereit „für den Fall der Fälle“ und nicht abgeschnitten vom Rest der Gesellschaft sein wollen [25]; sie erklären, dass sie sich an der Verteidigung dieser „Gesellschaft“ beteiligen, aber natürlich nicht an jener des Staates, und wenn übrigens einige erklärt haben, dass sie ihren Kampf gegen den Staat auf Eis gelegt haben, dann nur in der Optik, ihn umso heftiger wieder aufzunehmen, wenn der Frieden einmal zurückgekommen ist. Zuerst den Krieg gewinnen, danach auf die Revolution hinwirken – der Refrain ist bekannt. Obwohl sie offensichtlich keine Lehren aus dem russischen Bürgerkrieg oder dem Spanienkrieg ziehen, erwähnen einige zur Rechtfertigung die Erinnerung an die Kriege vor den russischen Revolutionen 1905 und 1917 – man kann auch an 1871 denken – oder auch die mutmassliche Rolle des Afghanistankrieges für den Zusammenbruch der UdSSR. Doch es ist, obwohl der Ablauf der Kriege und besonders ihre Folgen eine Revolution auslösen können, notwendig, dass die Situation schon sehr reif ist; das ist alles andere als mechanisch. Und v.a. erkennt man nicht wirklich, inwiefern die Tatsache, sich aktiv durch das Engagement in einer der betreffenden Armeen an einem solchen Konflikt zu beteiligen, irgendetwas ändert [26].

„Historisch schloss sich die überwältigende Mehrheit der Proletarier bei jedem kriegerischen Konflikt ihrem nationalen Kapital und jener imperialistischen Front an, zu welcher sie gehörten (während der Epoche des Imperialismus ist jedes Kapital potenziell imperialistisch, genau wie jeder Krieg definitionsgemäss imperialistisch ist). Erst wenn der Konflikt sich bis zu einem Punkt verlängerte – über die Erwartungen eben dieser Regierungen hinaus, welche ihn unterstützt hatten –, wo die Auswirkungen auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen sich heftig zeigten, stellten sie sich mehr oder weniger entschlossen dagegen.“ [27]

Es soll trotzdem daran erinnert werden, dass die Geschichte mit Kriegen gespickt ist und dass in fast allen Fällen ihre Folgen für die Proletarier katastrophal sind.

Könnte Russland unter dem Druck eines proletarischen Überdrusses oder einer proletarischen Revolte nach seiner Armee zusammenbrechen? Die schwache Moral der Invasionstruppen liess anfangs einige glauben, es wehe ein Wind der Meutereien über der russischen Armee im Einsatz, das war nicht der Fall. Der Rückzug der Kräfte rund um Kiew verlief übrigens in bester Ordnung und die im April lancierte Offensive im Donbass zeigt, dass die Irrungen und Fehler der ersten Wochen korrigiert worden sind.

Es gab freilich pazifistische Demonstrationen in mehreren Städten Russlands, doch ein grosser Teil der öffentlichen Meinung (auch gewisse Parteien der Opposition) unterstützt dort die laufende Invasion. Man weiss, dass ein äusserer Krieg im Allgemeinen ein gutes Mittel ist, um die Bürger wieder hinter einer Regierung zu vereinen und sie die alltäglichen Probleme unter einem Schwall an Propaganda vergessen zu lassen (siehe z.B. den Krieg in Libyen 2011). Obwohl die Bevölkerungen in diesem Kontext aufgrund der Wirtschaftssanktionen verarmen, führen diese häufig dazu, dass das Nationalgefühl und somit das herrschende Regime gestärkt wird (Kuba, Irak usw.).

Wenn aufgrund einer Verlängerung des Krieges die russische Regierung geschwächt wäre, sich eine proletarische Revolte abzeichnen würde und die Repression ineffizient wäre, würde die Führungsschicht dennoch versuchen, den Protest zu einer politischen Alternative hinzulenken: entweder extrem (seitens der Falken des Kremls, die finden, dass es der Invasion an Entschiedenheit mangelt) oder demokratisch (ohne jedoch für den Ziehsohn des Westens zu optieren).

Die Wahrscheinlichkeit einer Revolte scheint in der Ukraine noch geringer. Wir haben gesagt, was wir über die Selbstorganisation der Bürger auf der Grundlage eines Nationalgefühls denken; der Staat ist davon gestärkt worden, genau wie die Regierung bis jetzt durch ihre Krisenverwaltung legitimiert ist. Eine grosse Volksbewegung, die das Nationalgefühl stärkt, ist von Natur aus interklassistisch und konterrevolutionär.

Es ist schwer, vorauszusagen, ob der Demokratisierungsprozess trotzdem gestärkt werden wird. Bis jetzt beobachtet man v.a. eine (wahrhafte) Militarisierung der Gesellschaft, die Zensur der Medien, das Verbot der linken Oppositionskräfte, eine Jagd auf die Widerspenstigen usw.; es sind insbesondere die nationalistischen und reaktionären Kräfte, die Rückenwind haben, was in der Ukraine nichts Neues ist. Wäre Anatole France noch am Leben, würde er die Sache wohl so zusammenfassen: „Man glaubt, für die Demokratie zu sterben, man stirbt für die Industriellen.“

Man könnte sich fragen, wieso so viele Zeilen dieser Frage gewidmet werden, obwohl die Rolle der ukrainischen Anarchisten und Radikalen in diesem Konflikt letztendlich ziemlich unbedeutend ist. Das Interesse eines Themas misst sich erst einmal nicht an der Anzahl beteiligter Personen. Weiter sprechen auch viele bürgerliche Medien und offensichtlich die sozialen Netzwerke von diesem Engagement; die Aktivisten vor Ort kommunizieren ausgiebig und ihre Prosa trifft auf ein gewisses Echo in Frankreich; es wäre also nicht erstaunlich, wenn die Figur des anarchistischen Kämpfers in der Ukraine nach jener des kurdischen Soldaten in Rojava zur Referenz bezüglich politischer Radikalität würde. Das wäre unserer Meinung nach – man wird es verstanden haben – sehr bedauerlich.

Was tun – in Frankreich?

Zunächst einmal, sich nicht von der Unmittelbarkeit der Ereignisse, von der Propaganda, von allzu bequemen Vereinfachungen, mitreißen zu lassen. Es gibt Zeiten, da hat man keinerlei Einfluß auf den Lauf der Dinge. Es ist besser, sich dessen bewußt zu sein und nicht die eigene Ohnmacht hinter wildem Herumgefuchtel zu verbergen oder, schlimmer noch, auf einen Zug zu springen, der nicht der unsere ist. [28]

Das Problem ist, dass man konkret nicht viel tun kann. Am klassischsten und am ehesten vereinbar mit den alten Prinzipien des revolutionären Defätismus, zumindest wenn man denkt, dass die Proletarier kein Vaterland haben, wäre der Kampf hier gegen unsere eigene Bourgeoisie. Das wäre logisch, denn Frankreich ist praktisch Kriegspartei. Während diese internationalistische revolutionäre Position von verschiedenen anarchistischen, ultralinken, linkskommunistischen oder sogar trotzkistischen Gruppen oder Gruppierungen weiterhin verteidigt wird, ist es alles andere als sicher, dass sie unter den Aktivisten und Bewegungsanhängern eine Mehrheit hat. Man kennt den aktuellen Zustand des Klassenkampfes in Frankreich; daher einmal mehr ein trostloses Gefühl der Ohnmacht. Es scheint tatsächlich, dass das Pflichtgefühl, etwas zu tun, je schlechter die Zeiten sind, umso stärker ist: Es würde darum gehen, effizient zu sein, „einen Einfluss“ auf das Reale „zu haben“, obwohl die revolutionäre Bewegung vielleicht noch nie so wenig davon hatte… Daher kommt diese Anziehung für die fernen Kampffelder und die Notwendigkeit, auf die Gefahr hin, Kompromisse zu akzeptieren, ein Lager zu wählen, und, ausser bei schlechtem Gewissen, die moralische Verpflichtung, jenen zu helfen, welche eben genau etwas tun, was auch immer. Ein auf Twitter gefundener bissiger Kommentar betreffend des Aufrufs von Genossen, an den letzten Präsidentschaftswahlen teilzunehmen (indem man für einen linken Kandidaten stimmt) könnte ebenfalls auf einen Teil der Positionsbezüge zum Ukraine-Krieg zutreffen: „Diese Leute denken wirklich, dass ihr Aufruf […] einen Bruch mit ihrem gewohnten Aktivismus darstellt, während er in Wirklichkeit die logische Folge davon ist.“ Bissig …

Was also tun? Es ist schwierig, zu demonstrieren, wie es gewisse Libertäre für Rojava getan hatten, um von der NATO Waffenlieferungen zu verlangen – es werden bereits tausende Tonnen davon geliefert, begleitet von Milliarden von Dollars. Es ist schwierig, die Entsendung, wie es dennoch einige Humanisten tun, französischer Soldaten vor Ort zu verlangen oder gar die Durchsetzung einer Flugverbotszone oberhalb der Ukraine, Akte, die gleichbedeutend mit einer Kriegserklärung an Russland wären.

Diese Sichtweise vom Lager des Guten, das von jenem des Bösen angegriffen wird (viel weniger subtil als in den Werken Tolkiens), hat die Notwendigkeit zur Folge, über gute Armeen zu verfügen, jene, welche aufmarschieren, um die Demokratie und „unsere Werte“ zu verteidigen, und somit die Nützlichkeit der NATO [29] und die Wichtigkeit konsequenter Verteidigungsbudgets und eines leistungsfähigen und innovativen militärisch-industriellen Komplexes, der seinen chinesischen und russischen Pendants voraus ist. Man muss wissen, was man will.

Der Burgfrieden rund um die Figur der Demokratie und allgemeiner um das Lager des Guten ersetzt offensichtlich jenen, welcher damals um das Vaterland geschlossen werden konnte; man präsentiert die Patrioten – die zur Not von den Nationalisten unterschieden werden können – besser als Freiheitskämpfer, als freedom fighters. Eine Logik, die mittlerweile auch die radikalsten Aktivistenmilieus erreicht hat [30] – es ist festzuhalten, dass auch eine vertraulichere Tendenz existiert, die aus ziemlich primärem Antiamerikanismus die Positionen Moskaus verteidigt.

Sollen die Anarchisten und Antifas, die in den Reihen der ukrainischen Armee kämpfen, (finanziell) unterstützt werden? Wenn einige diese Entscheidung treffen und Partys und Konzerte organisieren, so tendieren sie allgemein dazu, den militärischen Charakter der Frage kleinzureden, und wagen, wahrscheinlich ein bisschen geniert, ungewisse lexikalische Verrenkungen: Irgendeine Aktivistenzeitschrift, die 2016 den Aufbau einer Nationalgarde der Reservisten in Frankreich verurteilt hatte, rühmt heute die Verdienste jener, welche in der Ukraine existiert; man spricht übrigens eher von „Widerstand“, „bewaffneten Freiwilligen“ oder, Spanien 1936 evozierend, einer „Milizstruktur“ (obwohl sich hier zwei nationalistische Lager bekämpfen), man relativiert das Gewicht der extremen Rechten, die jedoch in der Armee Kiews sehr präsent ist [31] usw. Man übersetzt und verbreitet Texte, die von der Situation sprechen, mit einem leichten Unbehagen und viel Nachsicht, vielleicht sogar mit einer Spur jener Herablassung, welche sich betreffend der Kurden in Syrien äusserte, mit dem Unterschied, dass es in der Ukraine nicht mal den Anschein einer Illusion einer gesellschaftlichen Veränderung gibt.

Was einmal mehr den Standpunkt und die Analyse verzerrt, ist offensichtlich die Tatsache, dass Menschen die Entscheidung treffen, zu den Waffen zu greifen, ihr Leben zu riskieren, während wir über sie eingesunken in einem malvenfarbenen Sofa diskutieren. Und das Prestige der Uniform, des Kämpfers, des Typen, der mit einem Sturmgewehr hantiert – den man mühelos kritisiert, wenn es sich um die extreme Rechte handelt – kann auch bei den Anhängern der gesellschaftlichen Emanzipation existieren (von Spanien bis nach Rojava via Nicaragua).

Die Deserteure unterstützen? Das ist zumindest eine klassische revolutionäre Tätigkeit in Zeiten des Krieges (Netzwerke organisieren, um die Grenzen zu überqueren, falsche Papiere erhalten, Flüchtige beherbergen), die eher in den angrenzenden Ländern praktizierbar ist. In Frankreich sieht man freilich Transparente und Unterstützungsinitiativen für die „russischen Deserteure, Widerspenstigen und Verweigerer“, aber nicht, so scheint es, für ihre ukrainischen Pendants, deren Anzahl allerdings steigt. Die Situation kann sich entwickeln, aber bis jetzt erinnert sie uns daran, dass jene Kurden im Krieg in Syrien, welche den obligatorischen Militärdienst in den YPG verweigerten, im entscheidenden Moment vergessen wurden, obwohl zahlreiche von ihnen in die grossen europäischen Städte flüchteten [32].

Wir wiederholen es, es geht hier für uns nicht darum, die Art und Weise zu kritisieren, wie Leute auf die Bombardierung ihrer Stadt oder ihres Landes reagieren, sondern gegebenenfalls um die an uns gerichteten Diskurse und v.a. jene über sie.

Die Bereitschaft ist mittlerweile im Aktivistenmilieu solide verankert, überall revolutionäres „Potenzial“ zu sehen, v.a. wenn die Region weit weg und exotisch ist – ein Standpunkt, der hier besonders an den Haaren herbeigezogen ist. Doch jenseits dieses Reflexes sind die Gespenster, welche die ukrainische Frage auf sehr verführerische Art und Weise und vielleicht offener als andere „Operationsfelder“ heimsuchen, nichts anderes als der Militarismus, der Nationalismus und das Konzept des Burgfriedens, morbide Varianten des Interklassismus. Ideologien, von denen sogar die erfahrensten und theoretisch bewandertsten Aktivisten mitgerissen werden können, wenn die Umstände passen, die Geschichte hat es auf traurige Art und Weise gezeigt. Es ist aber so, dass wir keine Bombenangriffe erdulden müssen, dass in unseren Strassen keine Kämpfe stattfinden und dass wir nicht Gefahr laufen, jede Minute getötet zu werden. Wir haben also keine Entschuldigung, keine Entschuldigung, um den Kopf zu verlieren. Wir können von relativ komfortablen Rahmenbedingungen profitieren, um ruhig über die laufenden Ereignisse nachzudenken. Es wäre falsch, sie nicht zu missbrauchen, denn diese Rahmenbedingungen verschwinden vielleicht schneller als wir glauben.

Die Rückkehr des Krieges [33]

He said Son, don’t you understand now [34]

Implizit evoziert die Formel die Rückkehr des Krieges in Europa. Doch war er je weg? Der Unterschied ist, dass es 2022 eher das Zentrum Europas betrifft denn seine Peripherie, wie es in den 1990er Jahren in Ex-Jugoslawien bis zur Offensive der NATO gegen Serbien 1999 der Fall war. Wer könnte heute an der Tatsache zweifeln, dass diese Kriege letztendlich sowohl für die Europäische Union (EU) als auch für die NATO sehr vorteilhaft waren, sei es nur für die Integration neuer Mitglieder [35]. Sarajevo mag näher bei Paris liegen als Kiew, aber Serbien hat nie die Vorherrschaft der USA und der EU über Europa in Frage gestellt; genau das tut jedoch heute Russland. Im Gegensatz zum Schicksal Bosniens damals ist die Frage der Ukraine zentral, denn sie berührt den Kern Europas, wo sich eines der wichtigsten industriellen, finanziellen und geschäftlichen Zentren der Welt befindet. Sie ist zentral, denn ihretwegen sind mit die wichtigsten Mächte, auch Atommächte, miteinander konfrontiert, sie mobilisiert beträchtliche mechanische und menschliche Kräfte – falls es eine Rückkehr geben sollte, dann jene des Krieges hoher Intensität – und sie hat jetzt schon gigantische wirtschaftliche Auswirkungen.

Gegenwärtig ist der wahrscheinlichste Ablauf und jener, welcher der „vernünftigste“ wäre, dass Russland kurzfristig die Eroberung der Oblaste des Donbass vollendet, dass die Kämpfe aufhören, dass Verhandlungen beginnen und auf ein Friedensabkommen und die Aufnahme dieser Regionen in die Föderation Russlands hinauslaufen; eine territoriale Anpassung, die 2021 durch Verhandlungen hätte erreicht werden können und heute sowohl für die Russen als auch die Ukrainer vorteilhaft wäre. Niemand möchte nämlich, dass der Krieg sich in die Länge zieht und Russland wie in Afghanistan steckenbleibt. Niemand, ausser die USA, aber es sind eben genau sie, welche über die Fortsetzung der Ereignisse entscheiden werden. Werden sie sich für die Gewährung eines armseligen Sieges Russlands entscheiden, darauf achten, dass der Konflikt noch ein paar weitere Monate andauert oder kämpfen bis zum letzten ukrainischen Soldaten?

Währenddessen akkumulieren sich die schon vor der Invasion beträchtlichen militärischen Lieferungen der NATO an die Ukraine zu Tausenden von Tonnen Stahl und Milliarden von Dollars. Aber nicht nur. Ein seit schon mehreren Jahren fühlbarer Prozess beschleunigt sich plötzlich. Obwohl Russland gerade seine Schwächen gezeigt hat, werden wir eine Erhöhung der Militärbudgets in den EU- und NATO-Ländern beobachten können, sie drängen sich schon, um ihre Bestellungen an die Militärindustrie der USA aufzugeben (Panzer, Kampfflugzeuge usw.). Letztere sind bis jetzt die grossen Gewinner des Krieges. Während das Grab der Militärindustrien des alten Kontinents gegraben wird, wird auch die Idee der europäischen Verteidigung letztendlich zugunsten einer wieder belebten NATO begraben. Etliche Länder optieren nunmehr offen für ihre Unterjochung unter Washington. Eine freiwillige (und sehr teure) Unterwerfung, die nur unterbrochen werden könnte, wenn z. B. eine neue Militärmacht in Europa entstünde, doch das ist eher unwahrscheinlich, denn eine der Funktionen der NATO ist es, eben genau das zu verhindern [36]. Unter den überraschenden Konsequenzen des Krieges in der Ukraine muss die Remilitarisierung Deutschlands unterstrichen werden, es kündigt schon zusätzliche Mittel von 100 Milliarden Euro für das Jahr 2022 an (für ein Verteidigungsbudget von ungefähr 50 Milliarden, jenes Frankreichs beträgt 40 Milliarden); eine Investition, die sich bis jetzt nur durch Bestellungen amerikanischen Materials konkretisiert. Die Angelegenheit sollte man im Auge behalten …

Einige westliche Regierungen wären freilich versucht, Russland in der Ukraine festfahren zu lassen und zu ruinieren, doch es sollte vermieden werden, dass die am Rande beteiligten Mächte in eine militärische Eskalation hineinschlittern, dass der Konflikt ausartet, sich ausbreitet und letztendlich die NATO, und somit die USA, zu einer direkten Beteiligung verpflichtet; wie im Falle eines Zwischenfalls rund um Kaliningrad und den Suwalki-Korridor (z.B. des Versuches einer Blockade) oder einer Invasion der baltischen Staaten durch ein in äusserste Bedrängnis geratenes Russland. Das wäre nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit einem Atomkrieg, aber vielleicht mit der Tatsache, dass die Amerikaner ihrerseits in Europa steckenbleiben, was nicht sehr zweckmässig wäre, denn der Dritte Weltkrieg muss im Pazifik stattfinden [37]. Die Frage ist also: Wie weit kann man gehen, ohne zu weit zu gehen?

Tristan Leoni, 8. Mai 2022

Übersetzt aus dem Französischen von Kommunisierung.net

Quelle

Anmerkungen

[1] Montéhus, La Butte rouge, 1923.

[2] Ein ukrainischer Soldat, der einen französischen Journalisten bezüglich Artilleriefeuer beruhigt, Le Figaro, 4. März 2022.

[3] Erwähnen kann man z. B. die Bolschewiken und die Menschewiken in Russland, Karl Liebknecht und dann Otto Rühle in Deutschland. Zu diesem Thema, siehe die Broschüre Les anarchistes contre la guerre. 1914-2022.

[4] Im September 1939 erklären Grossbritannien und Frankreich Deutschland den Krieg, letzteres ist soeben in Polen eingefallen. Einige Monate später planen die beiden Länder eine bedeutende Militäroperation gegen die prinzipielle Verbündete des Dritten Reiches, die UdSSR, die ihrerseits soeben Finnland angegriffen hat. Es handelt sich um die Operation Pike, ein ausgedehntes Programm von Bombenangriffen auf die Erdölquellen von Baku; die deutsche Offensive vom 10. Mai 1940 führt zur Aufgabe des Projekts.

[5] Es genügt, zum Zeitpunkt, wo wir diese Zeilen schreiben, die von den USA an den Tag gelegten Anstrengungen zur Verhinderung der Unterzeichnung eines Verteidigungsabkommens zwischen den Salomon-Inseln und China zu beobachten.

[6] Zu dieser Frage, mit den Beispielen der Kriege im Kosovo, im Irak, in Afghanistan und in Libyen, siehe: Serge Halimi, Mathias Reymond (et al.), L’opinion, ça se travaille… Les médias et les “guerres justes”, Agone, 2006.

[7] Louis Mercier Vega, Reisende ohne Namen, Nautilus, 1997 (1936), S. 78.

[8] Man weiss heute, dass die amerikanische Diplomatie 1990, einige Wochen vor der Invasion Koweits durch die Truppen Saddam Husseins, ihren irakischen Amtskollegen verstehen liess, dass die USA im Falle einer Militäroperation dieser Art nicht intervenieren würden.

[9] Helmuth Karl Bernhard von Moltke, preussischer Generalfeldmarschall (1800-1891).

[10] Die amerikanische Armee und ihre westlichen Aushilfskräfte riskieren ihrerseits im Allgemeinen keinen Bodeneinsatz, bevor sie nicht die feindlichen Stellungen und Städte während Wochen oder Monaten bombardiert haben (Irak 1991, Serbien 1999, Irak 2003, Mossul 2017 usw.). Was die Armeen wirklich voneinander unterscheidet, ist das Verhältnis zum Tod, zu jenem ihrer eigenen Soldaten.

[11] Michel Goya.

[12] Bis zum 23. Februar 2022 waren Einheiten der amerikanischen, britischen und kanadischen Spezialkräfte offiziell in der Ukraine präsent, um die Soldaten für den Einsatz dieser Waffen auszubilden; sie verlassen das Land einige Stunden vor der russischen Offensive.

[13] Gewisse amerikanische oder britische Spezialkräfte tendieren leidigerweise dazu, sich verfügbar zu zeigen und sogleich eine neue Nationalität anzunehmen, die ukrainische in diesem Falle. Journalisten haben z.B. gezeigt, dass es die Amerikaner sind, welche das Engagement der ausländischen Freiwilligen in der ukrainischen Armee verwalten und kontrollieren. Siehe Régis Le Sommier, „Avec des volontaires français“ in Le Figaro magazine, 8. April 2022, S. 55-57.

[14] Während die westlichen Überwachungssatelliten im Einsatz sind, gilt das gleiche für die elektronischen Aufklärungsflugzeuge und -drohnen der NATO, die seit dem Beginn der Invasion den ukrainischen Grenzen und den russischen Hoheitsgewässern entlangfliegen (man sieht sie manchmal auf der Homepage Flightradar24) und Kiew in Echtzeit für die Kämpfe entscheidende Informationen liefern.

[15] Wenn man den französischen Medien glauben möchte, bombardieren die russischen Truppen nur Schulen, Kinderkrippen, Entbindungsstationen und Krankenhäuser – man kann also verstehen, dass sie Mühe haben, den ukrainischen Kräften beizukommen.
Es gehört zu den Eigenschaften der modernen Kriege, dass sie sich in städtischem Gebiet abspielen, somit inmitten der Zivilisten, in ihren Wohnungen und Arbeitsplätzen. Und wenn die ukrainischen Truppen einen Ort von den Russen zurückerobern, dann nachdem sie die gleichen Methoden wie sie benutzt haben, fast das gleiche Material (ohne die Luftwaffe) und fast die gleiche Doktrin.
Für einen seriösen und technischen Standpunkt, siehe z. B. Gaston Erlom, „Force ou faiblesses de l’armée russe“ in Raids, Nr. 430, S. 29-42.

[16] General Vincent Desportes zitiert im Artikel „Guerre en Ukraine : quelle est la stratégie militaire de Poutine ?“ in Le Figaro, 3. März 2022.

[17] Montgomery Pittman, „Tag 1 des Jahres 6“, erste Episode der dritten Staffel von The Twilight Zone, 1961.

[18] Perrine Poupin, „L’irruption de la Russie en Ukraine. Entretien avec un volontaire de la défense territoriale de Kiev“ in Mouvements, 29. März 2022.

[19„Ukraine-Korrespondenzen“, erster Teil.

[20] Marie-Joseph Chénier, Chant du départ, 1794.

[21] Aber was hätten wir in Frankreich im August 1914 oder im Juni 1940 wirklich getan? Zu diesen Fragen sei die Lektüre des Buches von Louis Mercier Vega, Reisende ohne Namen oder jenes von Pierre Lanneret, Les Internationalistes du „troisième camp“ pendant la Seconde Guerre mondiale (Acratie, 1995) empfohlen.

[22] Siehe besonders den Blog Une autre guerre.

[23Entre deux feux. Recueil provisoire de textes d’anarchistes d’Ukraine, de la Russie et de la Biélorussie à propos de la guerre en cours, 13. März 2022.

[24] Wir benutzen das Wort Männer als überholtes Synonym für Soldaten, denn die streitenden Kräfte scheinen für die jüngsten westlichen Entwicklungen hinsichtlich der Geschlechterrollen kaum empfänglich zu sein. Hier, obwohl wir in Europa sind, ist das Schema viel klassischer: Jene, welche kämpfen, sind Männer (ausser vielleicht einige wenige Ausnahmen in der TV) und jene, welche fliehen, sind Frauen, Kinder und Alte.

[25] „Wenn wir abseits der zwischenstaatlichen Konflikte verbleiben, verbleiben wir abseits der wirklichen Politik. Es handelt sich heute um einen der bedeutendsten gesellschaftlichen Konflikte, die in unserer Region stattfinden. Wenn wir uns von diesem Konflikt isolieren, isolieren wir uns vom gegenwärtigen gesellschaftlichen Prozess. Wir müssen uns also auf die eine oder andere Weise daran beteiligen.“ Siehe „Entretien : “Les anarchistes et la guerre en Ukraine”“.
„[…] jegliche Kraft, die sich in die kommende politische Entwicklung einbringt, muss hier und jetzt neben den Leuten präsent sein. Wir wollen Fortschritte machen, um zu den Leuten eine weitergehende Beziehung aufzubauen, um uns mit ihnen zu organisieren. Unser langfristiges Ziel, unser Traum ist es, eine sichtbare politische Kraft in dieser Gesellschaft zu werden, um eine wirkliche Gelegenheit zu erhalten, eine Botschaft der sozialen Befreiung für alle zu befördern.“ Siehe „Entretien : Comité de Résistance, Kyiv“, März 2022.

[26] Wie viele Proletarier, welche die Uniform einer sehr wenig demokratischen Reichsarmee trugen, hätten damit gerechnet, dass sie sich danach (zumindest einige davon) an der Pariser Kommune oder an der deutschen und russischen Revolution beteiligen würden?

[27] Ein italienischer Genosse von Il lato cattivo, „Du moins, si l’on veut être matérialiste”.

[28] Louis Mercier Vega, op. cit., S. 77-78.

[29] Da es um Werte und Demokratie geht, ist es immer angemessen, daran zu erinnern, dass die NATO auf ihren Ruf als LGBTQI+-friendly achtet: „Die NATO ist der Diversität verpflichtet. Die Politik der Organisation verbietet Diskriminierung basierend auf sexueller Orientierung sowie Geschlecht, Ethnie oder ethnischer Herkunft, Religion, Nationalität, Behinderung oder Alter. Die NATO war auch weltweit führend in der Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe. Die Organisation weitete die gleichen Eherechte im Juli 2002 auf gleichgeschlechtliche Paare aus, zu einer Zeit, wo nur ein Land in der Welt – die Niederlande – die gleichgeschlechtliche Ehe anerkannte.“ „NATO Headquarters hosts first-ever conference on LGBTQ+ perspectives in the workplace“, Homepage der NATO, 19. März 2021.

[30] Nach dem Krieg gegen Serbien veröffentlicht Claude Guillon Dommages de guerre. Paris-Pristina-Belgrade, 1999 (L’Insomniaque, 2000), ein bissiges Buch, das auf das Zögern und die Zugeständnisse eines Teiles der französischen „Radikalen“ gegenüber der NATO zurückkommt.

[31] Man relativiert, während in Frankreich Marine Le Pen oder Éric Zemmour Nazis genannt werden; obwohl neben den Mitgliedern des Regiments Asow die Aktivisten des RN wie scheue Sozialdemokraten aussehen würden; obwohl abgesehen von der Ukraine in der Welt ziemlich wenige Länder existieren, wo rechtsextreme Organisationen über ihre eigenen in die nationale Armee integrierten militärischen Einheiten verfügen.

[32] Was die Deserteure der französischen Armee betrifft, belaufen sie sich auf ungefähr 2‘000 jedes Jahr, sie ziehen die Flucht und die Illegalität der Fortsetzung ihres Engagements vor; einige enden vor Gericht. Doch das interessiert niemanden. Das könnte sich künftig ändern.

[33] Zu diesen Fragen sei auf unser Buch verwiesen: Manu militari ? Radiographie critique de l’armée, Le Monde à l’envers, 2020 (2018).

[34] Bruce Springsteen, Born in the USA, 1984.

[35] Abgesehen vom Jackpot, welcher der Krieg für den militärisch-industriellen Komplex der USA und ihre Gasindustrie darstellt und obwohl er wahrscheinlich ein wirtschaftliches Desaster für die EU auslösen wird, ist er ein Glücksfall für gewisse Erwerbszweige, besonders aufgrund der Ankunft der ukrainischen Flüchtlinge; das gilt besonders für den Sektor der Prostitution (in Deutschland) oder den industriellen und handwerklichen Sektor in Polen (ein Land, dem es an Arbeitskraft mangelt, da all seine Proletarier in den Ländern Westeuropas arbeiten gehen).

[36] Gemäss den Worten ihres ersten Generalsekretärs, Lord Ismay, besteht die Rolle der NATO darin, „die Amerikaner drinnen, die Russen draußen [zu] halten - und die Deutschen am Boden“. Siehe Wikipedia.

[37] Die gigantischen Waffenlieferungen an die Ukraine, welche die USA planen, verlangsamen jetzt schon jene, welche für Taiwan bestimmt waren. Siehe Laurent Lagneau, „Taïwan s’inquiète de possibles retards pour ses commandes d’équipements militaires américains“, Zone militaire, 3. Mai 2022.
Die Ukraine hat schon ungefähr 7‘000 Panzerabwehrraketen Javelin erhalten, was ungefähr einem Drittel des amerikanischen Bestandes entspricht, die Ersetzungsfrist wird auf drei bis vier Jahre geschätzt. Siehe Matías Maiello, „Quelques éléments d’analyse militaire sur la guerre en Ukraine“, Révolution permanente, 28. April 2022.

 

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Ergänzungen