Umkämpfte Erinnerungen

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Im lettischen Riga findet jedes Jahr im März die vermutlich größte Gedenkveranstaltung zu Ehren von faschistischen Verbrecher*innen und Kollaborateur*innen weltweit statt. Die Durchführung einer solchen Veranstaltung muss vor dem Hintergrund des bestimmenden gesellschaftlichen Geschichtsdiskurses betrachtet werden. Dieser ist stark von geschichtsrevisionistischen und antikommunistischen Strömungen geprägt. Der Artikel unternimmt den Versuch, die Stimmung in der lettischen Gesellschaft einzufangen und deren geopolitische Tragweite darzustellen. Ein Bericht von Felix Broz.

 

Jedes Jahr findet in der lettischen Hauptstadt Riga eine der letzten relevanten faschistischen Großveranstaltungen statt. Bis zu zweitausend ehemalige SS-Angehörige versammeln sich im Stadtzentrum. Anlass ist der Jahrestag der Gründung zweier lettischer SS-Legionen. Gleichzeitig protestieren Antifaschist*innen gegen die möglicherweise weltweit größte Versammlung von Helfer*innen der antisemitischen und faschistischen Vernichtungsmaschinerie. Anders als die SS-Versammlung wird der antifaschistische Protest jedoch von massiven Einschränkungen und politischer Repression begleitet.

 

Basis für eine solche Politik ist die umfassende Leugnung der weitreichenden Kollaboration von Teilen der lettischen Bevölkerung mit dem deutschen Regime. Das entsprechende nationale Geschichtsbild dient vorrangig drei Zielen: erstens dem Aufbau eigener Entlastungsmythen, mit denen die geschichtlich belegbare Beteiligung sowie die politische Verantwortung an der Shoa negiert werden sollen. Zweitens geht die Leugnung der Kolloborationen Hand in Hand mit antikommunistischen Geschichtsbildern und dem Ausbau eines antikommunistischen Diskurses, der die Kollaboration als Teil einer „nationalen Befreiung von der sowjetischen Besatzung" verklärt. Drittens ist eine solche Praxis Teil einer umfassenden ideologischen sowie geopolitischen Abgrenzung gegenüber Russland.

 

Der politische Kern des faschistische Gedenkens

Seit 1991 wird in Riga jährlich am sogenannten „Tag der Legionäre", dem Tag der Gründung der ersten und zweiten lettischen Waffen-SS-Legion, deren Mitgliedern gedacht. An den Veranstaltungen nehmen neben den noch lebenden SS-Angehörigen und ihren Familien ebenfalls Mitglieder gegenwärtiger faschistischer Organisationen und auch kirchliche Vertreter teil. Dementsprechend ist der gemeinsame Gottesdienst obligatorischer Bestandteil der Veranstaltung. Aber wie kann es zu einer solchen breiten Unterstützung für Kriegsverbrecher kommen? Wie in zahlreichen anderen post-sowjetischen Staaten, werden die ehemaligen Kollaborateur*innen der deutschen SS-Einheiten in Lettland als vermeintlich "reguläre Soldaten" verklärt. Auf diese Weise erfolgt eine Legitimation von faschistischer Kollaboration, die entsprechend "gereinigt" Eingang in die nationale Geschichtsschreibung findet. Dabei ist die Aufrechterhaltung eines geschichtsrevisionistischen Selbstbildes sowie die Rehabilitierung der SS oder diverser „Freiwilligenbataillone" nicht von den ökonomischen und geopolitischen Interessen der herrschenden politischen Klasse zu trennen.

 

Die Kundgebung und Ehrung am "Tag der Legionäre" wird von der nationalistischen, neoliberalen und anti-russischen Partei "Nacionālā apvienība" („Nationale Vereinigung - Alles für Lettland“ ) organisiert. Sie ist mit 16 von 100 Sitzen in der Saeima (dem lettischen Parlament) vertreten und stellt drei Minister*innenposten in der aktuellen Regierung. Die Partei ist damit ein wichtiger Teil der neoliberalen politischen Elite Lettlands, was sich ebenfalls daran zeigt, dass in diesem Jahr auch Vertreter*innen der Regierungspartei "Vienotība" an der Versammlung teilnahmen. Nicht zuletzt durch diese enge Verbindung zwischen Gedenken und Repräsentant*innen der offiziellen lettischen Politik ergeben sich deutliche Parallelen zur Gedenkpolitik anderer post-sowjetischer Staaten (bspw. Ungarn, Ukraine). Auch dort beteiligen sich rechte und neoliberale Kräfte aus der herrschenden politischen Klasse aktiv an der Rehabilitierung faschistischer Verbrecher*innen.

 

Gleichzeitig verstehen viele Teilnehmende die Kundgebungen in Riga als deutliches Abgrenzungssignal gegenüber Russland, welches das Gedenken wiederum seinerseits als Provokation auffasst. Der anti-russischen Tendenz folgend begreift sich eine Mehrheit der ehemaligen SS-Angehörigen nicht als Teil des faschistischen Machtapparates, sondern vielmehr als "Veteranen" des Kampfes gegen die Rote Armee. [1] Folgerichtig werden Wehrmacht und SS innerhalb des Marsches als „Befreier" stilisiert, die das notwendige militärische Korrektiv darstellten, um Lettland seine Souveränität nach der Okkupation durch die Sowjetunion 1940 wiederzugeben. [ebd.] Vor diesem Hintergrund werden die „Legionäre" mit ihren Verbrechen zu Bewahrern einer nationalen Unabhängigkeit umgedeutet. Dabei fügen sich die geschichtsrevisionistischen Ansichten der Teilnehmenden größtenteils nahtlos in den herrschenden lettischen Geschichtsdiskurs ein. So entsteht der Eindruck, dass die Kundgebung im Zusammenspiel mit einer sich politisch zuspitzenden anti-russischen Stimmung nicht zuletzt einer schleichenden Mobilmachung reaktionärer Positionen gegenüber dem "gefürchteten" Nachbarstaat dienen. Widerspruch wird dabei nicht geduldet, sodass antifaschistische Gegenproteste bereitwillig von den lettischen Repressionsorganen unterdrückt werden. Bündnisse wie „Lettland ohne Nazismus" werden immer wieder am Protest gehindert und deutsche Antifaschist*innen sogar widerrechtlich bei der Einreise abgewiesen bzw. abgeschoben.[2]

 

Kollaboration als indivduelles Moment?

Trotz der dominanten Tendenzen, die nationale Geschichte im Sinne politischer Überlegungen von den Spuren faschistischer Kollaboration zu befreien, lassen sich die bekannten Fakten nur schwer leugnen. Während der Besatzung standen unterschiedlichen Angaben zufolge 160.000 – 200.000 Lett*innen im militärischen Dienst der Besatzungsmacht. Diese arbeiteten häufig der Vernichtung jüdischer Bewohner*innen Lettlands zu und stellten eine wichtige Ressource für die Verfolgung. Deportationen und Massenmorde wurden dabei von Sondereinheiten der deutschen Sicherheitspolizei, vor allem der „Einsatzgruppe A", durchgeführt. Darüber hinaus initiierten deutsche Einheiten „spontane" Progrome, indem sie antisemitische Lett*innen in paramilitärischen Einheiten organisierten und bewaffneten. [3] Mehrere hundert Jüd*innen sind bei diesen „Aufständen" im Land getötet worden. Insgesamt sind schätzungsweise 80.000 lettische Jüd*innen in der Shoa ermordet worden. Allein 13.000 von ihnen fielen unmittelbar der Einheit um den Letten Viktors Arājs zum Opfer. Darüber hinaus waren die bis zu 1.200 von ihm geführten Kollaborateure an Massenerschießungen in den Wäldern des Rigaer Umlandes beteiligt, die 12.000 Menschen das Leben kosteten. [4] Neben der direkten und administrativen Beteiligung an der Verfolgung von Jüd*innen, waren die Aussichten auf ökonomische Vorteile ausschlaggebend. Gerade die Aussicht auf materielle Bereicherung nach der Vertreibung bzw. der Räumung des Rigaer Ghettos Ende 1943 ermutigte Nicht-Jüd*innen zu politischem Opportunismus.

 

Viele dieser Verbrechen finden in der offiziellen oder dominanten lettischen Geschichtsschreibung kaum einen Platz. So ist bspw. das freifinanzierte lettische „Okkupationsmuseum" in Riga bemüht, die Verantwortung für Verbrechen im „Reichskommissariat Ostland" auf Individuen und einzelne Biographien herunterzubrechen. Nicht zu leugnende Verbrechen, wie die der Gruppe um Arājs, werden so zu Einzeltaten in einem vermeintlich nicht-faschistischen Staat. Gleichzeitig werden andere Kollaborateur*innen noch als „nationale Partisanen“ verherrlicht, wie das Rigaer Museum „Eckhaus“ als ehemaliger Ort des Riager Hauptquartiers des Komitees für Staatssicherheit (KGB) bemüht.

 

Umkämpfte Erinnerungen und ihre Funktionen

Der Mythos von der „Befreiung" von der Sowjetunion, die Lettland nach dem Hitler-Stalin-Pakt okkupierte, ist weiterhin bestimmend. Die Leugung weitgehender Kollaborationen im Rahmen der Shoa sowie die Rehabilitierung der daran beteiligten faschistischer Einheiten erfüllen im Rahmen des Status Quo wichtige Aufgaben. In Lettland sowie vielen ehemaligen sowjetischen Teilrepubliken ist der Kampf um die geopolitische und -strategische Ausrichtung seit 1989 neu entfacht. Der antikommunistische Diskurs gegen die Sowjetunion dient heute dazu, um ideologisch gegen Russland mobil zu machen. Die baltischen Länder sind wie viele osteuropäische Staaten inzwischen NATO-Frontstaaten und Orte zunehmender Konzentration von entsprechendem militärischem Gerät und Personal. Die große Veteranen-Veranstaltung ist als Teil einer umfassenden Strategie zu verstehen, die politische Grenzziehung zwischen der EU/ NATO und Russland weiter festzuschreiben. Während aktuell Kriegsschiffe der NATO-Bündnispartner in der Stadt ankern, geht der ideologische Kampf nur wenige hundert Meter vor dem zentralen „Freiheitsdenkmal" im Rahmen der Gedenkveranstaltungen weiter. Auch in den benachbarten Staaten Litauen und Estland sind vergleichbare rechte Diskurskämpfe zu beobachten. Neben der zunehmenden Militarisierung durch NATO-Präsenzen nehmen reaktionäre Gewschichtsdeutungen als Teil umfassender Abgrenzungsbewegungen weiter zu.

 

So stellt die ideologische Grenzziehung mit Blick auf die ethnische Zusammensetzung Lettlands eine große gesellschaftliche Herausforderung dar. Fast 27 Prozent der Lett*innen bezeichnen sich selbst als Russ*innen. Sie sehen sich von lettischen Nationalist*innen immer wieder mit Anschuldigungen konfrontiert, „Agent*innen des Nachbarlandes zu sein". Politische Auseinandersetzungen und Bewertungen um die Geschichte des Landes werden vor diesem Hintergrund häufig ethnisiert. Das provokante, faschistische Gedenken im politischen Zentrum des Landes bildet somit nicht nur eine politische, sondern auch eine gesellschaftliche Demarkationslinie. 2018 wird das lettische Parlament neu gewählt. Ein weiterer Ausbau des Stimmenanteils von Parteien, die den Fachismus relativieren oder verherrlichen sowie anti-russischer Positionen vertreten, ist angesichts der Spannungen wahrscheinlich. Die neoliberale und reaktionäre lettische Elite wird mit allen Mitteln weiter an der „Westanbindung" halten, die revisionistische Veranstaltung ist ein nicht zu vernachlässigendes Glied davon. Es wäre die Aufgabe einer solidarischen antifaschistische Bewegung, sich auch Gedanken zur möglichen Unterstützung der lettischen Genoss*innen zu machen, um dem pro-faschistischen Backlash international zu begegnen.

 


 Anmerkungen:

[1] Julian Feldmann: Lettland: Jubel für SS und Bundeswehr, https://daserste.ndr.de/panorama/aktuell/Lettland-Jubel-fuer-SS-und-Bund...

[2] Thomas Willms: Keine Ehrung der lettischen Waffen-SS!, https://vvn-bda.de/keine-ehrung-der-lettischen-waffen-ss-2/

[3] Jörg Baberowksi: Pogrome und Exekutionen tagein tagaus, http://www.deutschlandfunkkultur.de/pogrome-und-exekutionen-tagein-tagau...

[4] Katrin Reichelt: Between initiative an oppertunism: the role of Latvians in the persecution of the jews under Nazi occupation, Riga 2015.

 

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