Bitte kein Nachspielen des staatlichen Strafprozesses mit Unschuldsvermutung, Beweisführung und Pipapo

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In der Linkspartei sind inzwischen über 60 Fälle von sexueller/sexualisierter Gewalt und solchen Mißbrauchs (in manchen Fällen vielleicht auch ‚nur‘ Belästigung) bekannt geworden.1 Dazu nahm Autor Marcus Staiger, der sich im linken politischen Lager (Ich als Linker) verortet2, mit einem Artikel, der am 28.03.2020 bei Telepolis erschienen war, Stellung.

 

Meine folgende Replik hatte ich zunächst Telepolis selbst angeboten; denen war der Text aber auch in einer etwa auf die Hälfte zusammengekürzte Version noch ‚zu lang‘.

 

Da einige der von Staiger vorgebrachten Argumente in Bezug auf sexualisierte/sexuelle Gewalt auch unter Linken, die etwas radikaler als die Linkspartei sind, immer wieder auftauchen, möge meine Replik auch hier an geeigneter Stelle sein.

 

Am Ende der .html-Version des Artikels ist eine .pdf-Datei des Artikels verlinkt.

 

 

Marcaus Staiger wiederholt mit seinem Artikel genau die Fehler, die in der Linkspartei schon zur Genüge passiert sind:

 

  • das Verdrehen des Geschlechterwiderspruchs in der Linken (Partei und Bewegung) in einen Generationenwiderspruch vor allem in der Partei;

  • harmonisierendes Gerede über „Einsichts- und Lernfähigkeit“3 statt kämpferischem Feminismus und letztlich die Opferung des Feminismus für die ‚Einheit der Linken‘, welchletztere sich dadurch freilich als anti-feministisch erweist;

  • und als Tüpfchen auf dem i des Zynismus: Es soll Tätern (und TäterschützerInnen) eine „zweite Chance“4 gegeben werden, die nicht einmal einsehen, daß sie überhaupt einen Fehler begangen haben…

 

Der einzige Fall, auf den Staiger etwas genauer eingeht, ist der Fall eines Fraktionsmitarbeiters in Hessen und früheren Partners der verbliebenen Parteivorsitzenden. Auch dieser Fall wird von ihm lückenhaft – allein der Darstellung der Parteivorsitzenden folgend – dargestellt. Er schreibt:

„Wissler erklärte in einer durch die Berichterstattung quasi erzwungenen Stellungnahme sinngemäß, sie habe 2018 von der Nebenbeziehung des Mannes mit einer sehr jungen (anfangs erst 17-jährigen) Frau erfahren, aber nicht von ‚Belästigungen oder Unfreiwilligkeiten‘. […]. Als die junge Frau sie Monate [später] durch Weiterleitung einer E-Mail wissen ließ, dass das Verhältnis fortbestand, habe sie selbst ihre Beziehung beendet – und beiden mitgeteilt, dass sie den Altersunterschied für problematisch halte, auch wenn zu diesem Zeitpunkt beide volljährig gewesen seien.“

 

Staiger läßt hier genauso – wie Wissler selbst – unter den Tisch fallen, daß in der mail vom 24. August 20185 (die erste Nachricht stammt wohl aus dem Mai desselben Jahres6) nicht stand, daß ein „Verhältnis“ fortbestehe, sondern daß die mail-Schreiberin durchdrehe, wenn der Typ noch mal auf ihrem Balkon auftauche und ihr etwas von romantische Gefühlen erzähle.

 

War das Beschriebene eine (verbale oder körperliche; siehe zu diesem Unterschied unten) sexuelle Belästigung? Falls es in Folge des Balkon-Stalkings zu sexuellen Handlungen gekommen ist, vielleicht auch ein sexueller Übergriff oder Gravierenderes im Sinne des § 177 StGB? Oder ‚nur‘ eine Nachstellung i.S.d. § 238 StGB? All dies soll hier nicht im einzelnen diskutiert werden; vielmehr soll es hier um die Reaktion (insbesondere von Linken) auf sexuelle/sexualisierte Gewalt und solchen Mißbrauch generell gehen.

 

Der Klagegesang über die Uneinigkeit der Linken

 

Der politische Fehler des Artikels von Staiger beginnt schon damit, daß der Einstieg in den Text thema-exzentrisch ist – ein Neuaufguß der ewigen Litanei über die Uneinigkeit der Linken, womit die Gründe der Uneinigkeit – in linken Kontexten – schon vor jedem Argument in ein schales Licht und – unter Rechten – in Kontexte der Häme gerückt sind:

„Wieder einmal zerlegt sich die Linke selbst. Das tut sie gerne, sowohl als Partei wie auch als Bewegung. Nur: Dieses Mal scheint sie es besonders nachdrücklich und gründlich tun zu wollen“.

„Grund für die aktuellen Zerwürfnisse in der Linkspartei sind sexuelle Übergriffe, die Parteimitgliedern vorgeworfen werden, durch einen Artikel im Spiegel an die Öffentlichkeit gelangten und nun zu Grabenkämpfen führen werden, die über das Maß der üblichen Macht- und Flügelkämpfe, wie sie auch in anderen Parteien vorkommen, weit hinausgehen.“

So lamentiert (zu ital. lamento = Klagegesang; lat. lāmentum = Wehklage sowie griech. λαλεῖν [lalé͞in] = schwatzen und russ. лала [lála] = Schwätzer) Marcus Staiger. – Dagegen stellte Lenin – der allerdings, wenn Fälle sexueller/sexualisierter Gewalt innerhalb der Bolschewiki auf den Tisch gekommen wäre, zu diesen vermutlich eine ähnlich falsche Haltung eingenommen hätte wie Staiger – seiner Schrift Was tun? folgendes Lassalle-Zitat zustimmend voran:

„Daß die Parteikämpfe gerade einer Partei Kraft und Leben geben, daß der größte Beweis der Schwäche einer Partei das Verschwimmen derselben und die Abstumpfung der markierten Differenzen ist, daß sich eine Partei stärkt, indem sie sich purifiziert, davon weiß und befürchtet die Behördenlogik wenig!“ (LW 5, 355 - 541 [355])

Und in seinen Philsophischen Heften, die Lenin vor allem während des 1. Weltkrieges füllte, notiert er: „Die Einheit (Kongruenz, Identität, Wirkungsgleichheit) der Gegensätze ist bedingt, zeitweilig, vergänglich, relativ. Der Kampf der einander ausschließenden Gegensätze ist absolut, wie die Entwicklung, die Bewegung absolut ist.“ (LW 38, 338 - 344 [339])

 

Nach seinem ‚unleninistisch‘-harmonisierenden Einstieg verdreht Staiger den Konflikt über Ob und Art der Reaktion auf „sexuelle Übergriffe“, der vor allem (aber nicht nur) ein Geschlechterwiderspruch7 ist (genauer: ein Konflikt zwischen Feminismus und Antifeminismus8), in einen „Konflikt zwischen ‚Wokies‘ und alteingesessenen Parteimitgliedern“ und damit in einen

 

„Generationenkonflikt. Es geht um Identitätspolitik. Anhand dieser Vorfälle wird sich nun voraussichtlich der ganze aufgestaute Konflikt, der sich in den letzten Jahren und Monaten abgezeichnet hat, nun endgültig entladen. Die 30.000 neuen Parteimitglieder, die Die Linke in den letzten Jahren in den urbanen Zentren hinzugewonnen hat, werden ihre Stimme erheben, ihr gesamtes Gewicht in die Waagschale werfen und die bürgerlichen Medien, die sich ansonsten einen Dreck um linke Positionen kümmern, werden sich mit Begierde darauf stürzen. Die Älteren werden von den tatsächlich oder gefühlt Jüngeren als Ewiggestrige verschmäht. Einige könnten in Schockstarre verfallen und entgeistert dem Verfall ihrer Partei beiwohnen.“

 

Politisch falsch und historisch-faktisch unzutreffend

 

Dies ist gleich in mehrfacher Weise politisch falsch und historisch-faktisch unzutreffend:

  • Der in einem spezifisch anti-rassistischen Kontext geprägte englische Begriff „woke“9 wird von Staiger in ein allgemeines Synonym für „Identitätspolitik“ verwandelt, und der Terminus „Identitätspolitik“ ist seinerseits durch eine breite Querfront von TraditionsmarxistInnen, RechtssozialdemokratInnen und Rechten längst in eine Pappkameradin10 verwandelt worden, die weder mehr eine bestimmte politische Praxis noch eine bestimmte politisch-theoretische Richtung oder Haltung bezeichnet, sondern – ungeachtet aller theoretischen, politischen und gegenständlichen Unterschiede – alles bezeichnet, was die ‚gute, alte fordistische Ordnung‘ seit 1968 durcheinanderbringt11.

  • Auch ist der Konflikt um Sexualität(spolitik) und sexuelle/sexualisierte Gewalt kein Konflikt, den erst in jüngster Zeit „30.000 neuen Parteimitglieder“ in die Linkspartei hineingetragen haben, sondern ein Konflikt der in der westdeutschen Linken seit dem Flugblatt des Frankfurter Weiberrates, das kurz nach dem berühmten Tomatenwurf von 196812 erstellt wurde, ausgefochten wird:

    „Wir machen das maul nicht auf! wenn wir es doch aufmachen, kommt nichts raus! wenn wir es auflassen, wird es uns gestopft: mit kleinbürgerlichen schwänzen, sozialistischem bumszwang, ..., sozialistischer geworfenheit, schwulst, sozialistischer potenter geilheit, sozialistischem intellektuellem pathos, sozialistischen lebenshilfen, revolutionärem gefummel, sexualrevolutionären argumenten, gesamtgesellschaftlichem orgasmus, sozialistischem emanzipationsgeseich GELABER!

    wenn‘s uns mal hochkommt, folgt: sozialistisches schulterklopfen, väterliche betulichkeit; dann werden wir ernst genommen, dann sind wir wundersam, erstaunlich, wir werden gelobt, dann dürfen wir an den stammtisch, dann sind wir identisch; dann tippen wir, verteilen flugblätter, malen wandzeitungen, lecken briefmarken: wir werden theoretisch angeturnt! kotzen wir’s aus: sind wir penisneidisch, frustriert, hysterisch, verklemmt, asexuell, lesbisch, frigid, zukurzgekommen, irrational, penisneidisch, lustfeindlich, hart, viril, spitzig, zickig, wir kompensieren, wir überkompensieren, sind penisneidisch, penisneidisch, penisneidisch, penisneidisch, penisneidisch. frauen sind a n d e r s!“

    (https://www.emma.de/artikel/68erinnen-sauer-auf-die-genossen-335715)

  • Daß der Konflikt kein Generationenkonflikt ist, wird von Staiger im übrigen unbewußt bestätigt, wenn er zugesteht, daß auch „gefühlt Jüngere“ unter den von Staiger geschmähten „Wokies“ und ‚IdentitätspolitikerInnen‘ sind.

  • Sodann warnt Staiger, daß sich „die bürgerlichen Medien, die sich ansonsten einen Dreck um linke Positionen kümmern, […] sich mit Begierde darauf stürzen“ werden – und suggiert, daß es deshalb besser wäre, die Fälle wären unter dem Teppich geblieben.

    Dies ignoriert zweierlei:

    • Zum einen, daß es nur deshalb etwas zum Draufstürzen gibt, weil es die Taten gibt und – zunächst – das Unterlassen von politischen Reaktionen darauf und dann bloß unzureichende bis falsche Reaktionen.

    • Zum anderen: Selbstverständlich ordnen das bürgerliche Medien in ihr Weltbild ein – in welches sonst?!

      Aber es steht allen frei, Taten und Reaktionen besser zu kontextualisieren; aber machen halt nur wenige in der Linkspartei – und Autor Staiger macht es auch nicht.

 

Staigers Exkurs zur Kampagne DW enteigenen

 

Sodann macht Staiger einen Exkurs zur Kampagne DW enteigenenund schreibt:

„Als im Sommer 2021 der Vorwurf gegenüber einem führenden Mitglied der Kampagne erhoben wurde, eine junge Frau sexuell bedrängt zu haben, zeichnete sich relativ schnell ab, dass auf einen solchen Vorwurf nur der Ausschluss des Beschuldigten erfolgen kann. Das wollten einige, vor allem ältere Personen, nicht einfach so hinnehmen, weswegen es in Folge zu großen Zerwürfnissen innerhalb der Kampagne kam. Übrig blieb ein überwiegend junges, diverses Team, das mit seiner radikal feministischen Haltung auch durchaus attraktiv auf eine junge und akademische Zielgruppe wirkt, darüber hinaus aber den Charme einer breiten Volksbewegung verloren hat.“

Auch das stimmt doppelt nicht:

 

Denn zum einen war es in dem Fall die führende bürgerliche Zeitung Berlins, Der Tagesspiegel (TSP), die den Ausgeschlossenen verteidigte:

 

  • Der TSP gab dem Ausgeschlossenen – sogar als Zwischenüberschrift hervorgehoben – mit folgender Äußerung Raum: „Prütz beklagt ‚sektenhaftes und dschihadistisches Verhalten‘“.

  • Des weiteren versuchten die beiden Tagesspiegel-Autoren mittels folgender Ausführungen Zweifel an der Schilderung der Betroffenen und dem Vorgehen der Initiative zu säen: „Der Beschuldigte wurde gedrängt, sich aus der Kam­pagne zurückzuziehen. Seinen De-facto-Austritt solle er bei Fragen in der Öffentlichkeit, so die Aufforderung der Aktivisten, mit einem ‚Burnout‘ begründen. Der Vorwurf wiegt schwer, schließlich wurde Prütz eines Sexualdelikts beschuldigt – warum riet man ihm dann zu der ‚Burnout‘-Lüge?“

    Ich weiß nicht, ob die Behauptung des Tagesspiegels zutrifft; falls ja, wäre dies freilich kein Indiz dafür, daß die Beschuldigung gegen den Ausgeschlossenen unzutreffend ist, sondern würde darauf hindeuten, daß die Initiative oder Teile der Initiative dem Beschuldigten – vllt. u.a. aus Sorge um das Image der Initiative selbst – einen gesichtswahrenden Abgang ermöglichen wollten – was vielmehr Anlaß für feministische Kritik an der Initiative wäre, aber nicht gegen die Betroffene spricht.

  • Schließlich ließ der TSP eine Gewerkschafterin, ohne kritische Einordnung, wie folgt über Ausschluß-BefürworterInnen (konkret: die Interventionistische Linke [IL]) zu Wort kommen: „Am Dienstag bezeichnete eine gut vernetzte Gewerkschafterin die ‚Interventionistische Linke‘, die in der Kampagne mittlerweile den Ton angeben soll, als ‚wohlstandsverwahrloste Narzissten-Truppe‘ und deren Aktivisten und Aktivistinnen als ‚eitle Berufsquatscher‘, denen die Mieter der Stadt letztlich offenbar egal seien. Zumindest in Verdi sagen einzelne nun, man hätte sich auf die in der Kampagne aktiven ‚Sekten‘ nie einlassen sollen.“

  • Einige Tage später klassifizierte derTagesspiegel (allerdings, ohne Bezug auf die Belästigung und den Ausschluß einzugehen) die IL – unter Berufung auf den Berliner Innen-Staatssekretär als „linksextreme Gruppierung“, die versuche, bei der Initiative mitzumischen.

 

Also nichts von wegen Staigers These, es scheine so, als hätten „diejenigen, die augenblicklich über Geld und Macht verfügen, die Identitätspolitik geradezu erfunden, um sie mit Absicht in progressive Strömungen einzupflanzen, nur um diese zu spalten“. Vielmehr erscheint der Ausschluß des Ausgeschlossen – in der Gesamtbetrachtung beider TSP-Artikel – als Praxis von ‚sektiererischen Linksextremisten‘ und nicht etwa als Erfüllung des Wunsches des Berliner Verbandes der Haus- und GrundeigentümerInnen.

 

Zum anderen fand die Abstimmung über das Volksbegehren (parallel zur Berliner und Bundestags-Wahl) statt als der Fall längst aufgedeckt war – und dessen ungeachtet wurde das Volksbegehren (1.) überhaupt und (2.) mit einem überraschend hohen Stimmanteil vom „Volk“ angenommen – ‚trotz‘ des „überwiegend junge[n], diverse[n] Team[s …] mit seiner radikal feministischen Haltung“.

 

Letztere Charakterisierung des Teams („mit seiner radikal feministischen Haltung“) dürfte im übrigen auch eine starke Übertreibung sein – oder einfach eine Einschätzung sein, die auf des Autors Unkenntnis der verschiedenen feministischen Strömungen13 beruht.

 

Unkenntnis des geltenden Strafrechts

 

Hinzu zur vermutenden Unkenntnis der verschiedenen feministischen Strömungen kommt erkennbare Unkenntnis des geltenden Strafrechts: Staiger behauptet, es gäbe „im Strafrecht eben nur hopp oder topp […]. Entweder es liegt eine Vergewaltigung, eine Nötigung und somit eine Straftat vor oder eben nicht. Dazwischen gibt es nichts.“

Schon lange gibt es neben Vergewaltigung und sexueller Nötigung alters-spezifische Delikte und Bestimmungen wegen der sexuellen Ausnutzung von institutionellen Abhängigkeitsverhältnissen14 sowie außerdem wegen Widerstandsunfähigkeit des Opfers15. Letztgenannte Norm wurde 2016 – nunmehr als Teil des § 177 StGB – begrifflich und inhaltlich in den Tatbestand des „sexuellen Übergriffs“ transformiert. Hinzugekommen ist 2016 außerdem der Tatbestand der (körperlichen) „sexuellen Belästigung“(§ 184i StGB) – unterhalb der jeweiligen Schwelle der vorgenannten Delikte –; schon früher wurden (und werden weiterhin) einige verbale sexuelle Belästigungen als Beleidigungen verfolgt.

 

Unschuldsvermutung oder Definitionsmacht?

 

Der Autor vertritt die Auffassung:

„Auf der anderen Seite ist aber auch das Vorgehen, das sich in den letzten Jahren durchgesetzt hat, wenn es um diese Art von Vorwürfen geht, ebenfalls als ein Rückschritt zu bezeichnen. Der einfache Ausschluss von beschuldigten Personen, ohne konkrete Beweisführung, einfach nur aufgrund eines Vorwurfs, ohne Verhandlung, fällt eben hinter rechtsstaatliche Errungenschaften wie die Unschuldsvermutung zurück.“

 

Auch diese Auffassung ist in mehrfacher Hinsicht irrig:

  • Erstens verkennt der Autor, daß eine politische Reaktion (auch ein Ausschluß) durch eine zivilgesellschaftliche Struktur (auch durch eine Parlamentspartei) etwas ganz anderes ist als eine staatliche Strafe.

    Bei einem Ausschluß geht es um Schutz des Opfers vor Retraumisierung; darum, dem Opfer den evtl. zuvor von Täter und Opfer geteilten sozialen Raum zu erhalten16; geht es um politische Positionierung der diesen Raum ‚tragenden‘ Leute; geht es um Schutz des Opfers und etwaiger künftiger Opfer vor Tatwiederholung – und allenfalls am Rande darum, den Täter dadurch etwas zu piesacken, daß er sich über einen Ausschluß ärgern wird.

    Folglich ist auch eine Analogie mit der strafrechtlichen Unschuldsvermutung fehl am Platze.

  • Und während ich skeptisch bin, ob es eine gute Idee wäre, das Konzept der zivilgesellschaftlichen Definitionsmacht auf den staatlichen Strafprozeß zu übertragen17 (hinsichtlich der Definition des eigenen Willens ganz bestimmt!), gilt auch für staatliche Prozesse außerhalb des Strafrechts, daß eine Umkehr der Beweislast in bestimmten Bereichen einen emanzipatorischen Fortschritt darstellt, da die Umkehr eine Stärkung der schwächeren (strukturell in Beweisschwierigkeiten steckenden) Prozeßpartei ist.

 

Zwei Lesarten des Konzeptes der Definitionsmacht

 

Des weiteren schreibt Staiger:

 

„In diesem Zusammenhang sei dann auch die Art und Weise erwähnt, wie mit Abweichlern umgegangen wird, die mit dieser Art des parteiischen Verfahrens nicht einverstanden sind. Auch sie werden verurteilt und als Täterschützer:innen oder Antifeminist:innen gebrandmarkt. Es gilt ein Entweder-oder. Wer nicht dafür ist, ist dagegen. Eine sachliche Diskussion ist fast nicht mehr möglich. […]. Bei dieser Art der Argumentation geht es vornehmlich um die Frage, wer spricht, anstatt darum, was gesagt wird. Es geht darum, dass die Deutung einer Situation ausschließlich aus der Sicht der Betroffenen getroffen wird und allen anderen ein Mitspracherecht versagt wird.“

 

Auch dazu ist zweierlei anzumerken:

  • Bereits in dieser Passage deutet sich eine – jede Gesellschaftsanalyse und jede emanzipatorische Parteilichkeit vermissen lassende – Gleichordnung von Tätern und TäterschützerInnen einerseits und Opfern und Opfer-UnterstützerInnen andererseits an. ‚Statt entweder-oder müsse doch irgendwie ein gerechter Ausgleich gefunden werden…‘.

    Was würde Staiger zu einer Übertragung dieser Sichtweise auf das kapitalistische Klassenverhältnis sagen?

  • Zum anderen ist vielleicht erkenntnis-fördernd zu erwähnen, daß es mindestens zwei Lesarten oder Verständnisse von „Definitionsmacht“ gibt (die aber oft nicht klar unterschieden werden, sondern vielfach fließend in einander übergehen):

    • Eine eher standpunkt-epistemologischen Lesart, nach der die Wahrheit bei den Betroffenen/Opfern liege.

      Diese Konzeption müßte eigentlich – auf der konzeptionellen Ebene – alle standpunkt-epistemologischen MarxistInnen à la Bogdanow, Schdanow und Lukàcs begeistern (‚Die Wahrheit liegt bei den Unterdrückten / der Arbeiterklasse.‘)

      Allerdings sind solche Standpunkt-Epistemologien zirkulär: Welche Leute sollen bestimmen dürfen, daß sie die ‚wahren‘ Unterdrückten sind, daß daher bei ihnen die Wahrheit liege?

    • Die andere Lesart (und das ist m.E. die vorzuziehende) ist dagegen gesellschaftsanalytisch und prozedural: Es wird an dem Anspruch auf objektive (nicht subjektivistische / nicht standpunkt-epistemologische) Gesellschaftsanalyse festgehalten – und wenn analysiert ist, welche Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse es in einer bestimmten Gesellschaftsformation gibt und welche Leute/Gruppen darin jeweils die Herrschenden und Ausbeutenden einerseits und die Beherrschten und Ausgebeuteten andererseits sind, dann gilt es anschließend – auf der politischen Ebene – einen prozeduralen Ausgleich des Machtverhältnisses für die beherrschte und ausgebeutete Seite zu schaffen. – Das ist keine Revolution, aber immerhin etwas.

      Mit anderen Worten: Ich fände es ziemlich absurd, in einem Verhältnis zwischen zwei Leuten in etwa gleichen Alters und ähnlichen Einkommens und gleichen Geschlechts und derselben Rassifizierung einer Person „Definitionsmacht“ zu gewähren (nach welchem Kriterium?18).

      Sehr wohl ist es aber ein emanzipatorischer Akt im Verhältnis zwischen einem mittel-alten, männlichen Fraktionsmitarbeiter und einem gerade erst 18 Jahre alt gewordenen, weiblichen Parteimitglied der Frau die Definitionsmacht zu geben, ob ihr Wille gebrochen wurde und unter welchen Umständen dies ggf. geschah.

      Entsprechendes gilt auch im Falle eines ältlichen Bundestages-Abgeordneten (noch dazu: mit einem gewissen Vermögen) und einem jungen männlichen Parteimitglied.

 

Monismus oder Intersektionalität?

 

Kommen wir nun vielleicht zu des Pudels Kerns: „Diese Art der Beschimpfung“ der Täter und TäterschützerInnen durch die ‚IdentitätspolitikerInnen‘,“ so meint Staiger, „untergräbt ein wichtiges Konzept der Linken, das in der Vergangenheit eines ihrer stärksten Waffen war. Das Konzept der Solidarität.“

 

Fragt sich nur: Welche Leute gehören zur Linken?

  • Klar kann die Frage in etwa so beantwortet werden, wie Linke das klassischerweise machen: ‚Links sind die Lohnabhängigen oder diejenigen, die Lohnabhängigkeit generell abschaffen wollen, oder alle, die für den Erhalt des ‚Sozialstaats‘ eintreten – und die Lohnabhängigen sind auch das Subjekt, das die Frauen, Schwachen, Gebrechlichen und … befreit – und deren Befreiung von Patriarchat und Rassismus ist auch erst möglich, wenn die Knechtschaft durch die Lohnabhängigkeit beseitigt wird.‘

    Damit sind wir dann beim klassischen marxistischen Nebenwiderspruchs-Denken, das keine Spezialität der maoistischen K-Gruppen der 1970er ist. Vielmehr kennzeichnet(e) dies schon den klassischen Marxismus von Marx und Engels selbst, die Positionen von Lenin und Zetkin und auch des Trotzkismus19 (von den StalinistInnen gar nicht erst zu reden).20

  • Wenn wir dagegen von einer ‚intersektionalen‘ Analyse21 ausgehen, die m.E. dem historisch-materialistischen Anspruch des Marxismus besser gerecht wird als der Marxismus selbst, dann können die Lohnabhängigkeit oder der Antikapitalismus nicht mehr das Maß der linken (oder vielleicht besser: der emanzipatorischen) Einheit sein. Vielmehr ist dann zu erkennen, daß wir es mit mehreren, historisch (genetisch) und kausal von einander unabhängigen – wenn auch, soweit gleichzeitig existierend, wechselwirkenden – Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen zu tun haben (ich würde – anhand des materialistischen Kriteriums „Arbeitsteilung“ sagen: Es sind drei22) – und außerdem noch jede Menge Diskriminierungsverhältnisse.

    Dann können wir erkennen, daß auch innerhalb der Linken Lenins These gilt:

    „Die Einheit (Kongruenz, Identität, Wirkungsgleichheit) der Gegensätze ist bedingt, zeitweilig, vergänglich, relativ. Der Kampf der einander ausschließenden Gegensätze ist absolut, wie die Entwicklung, die Bewegung absolut ist.“

 

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1 „Wir wissen im Jugendverband gerade von über 60 Betroffenen“ (Charlie Birner; https://twitter.com/berlindirekt/status/1518267346254761985 – gleich am Anfang).

 

 

2 Ich verortete mich ebenfalls im linken politischen Lager und bin nicht Mitglied der Linkspartei; ob Staiger dort Mitglied ist, weiß ich nicht.

 

 

3 „könnte auf Einsichts- und Lernfähigkeit gesetzt werden“ (Bild-Unterschrift).

 

 

4 „Nichtsdestotrotz sollte der aktuelle Aufarbeitungsprozess auch unter dem Gesichtspunkt erfolgen, dass jeder und jede auch eine zweite Chance verdient hat und dass Menschen lernfähig sind.“

 

 

5 https://twitter.com/Rafanelli/status/1515603778392756227 (Tweet des Spiegel-Reports Rafael Buschmann mit screen shot der Nachricht an Wissler).

 

 

6 „Zutreffend ist, dass ich eine der beiden betroffenen Frauen kenne und sie mich 2018 kontaktiert hat. Einmal am 16. Mai 2018, am 23. August 2018 und am 7. September 2018. Sie schrieb mich an, das ist belegbar, die Kommunikation habe ich noch.“ („23. August 2018“ scheint ein Tippfehler oder Irrtum Wisslers zu sein; jedenfalls gibt es ausweislich Foto [auch] eine mail vom 24. August 2018).

 

 

7 Die allermeisten sexualisierten Straftaten (jedenfalls unter Erwachsenen) werden von Männern an Frauen* begangen [*]; einige auch unter (Cis-)Männern und kaum welche von Frauen an Männern. – Warum? Weil die Taten – insb. im ersten Fall; bedingt im zweiten Falle (insb. im Falle von Vergewaltigungen aus Homophobie) – mit einem gesellschaftlichen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnis, dem Patriarchat, konform gehen.

[*] Vgl. dazu das dortige: http://theoriealspraxis.blogsport.de/2011/08/05/aus-gegebenen-anlass-gegen-queere-politische-und-gesellschaftsanalytische-indifferenz Zitat aus Monika Schröttle, Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen, in: Streit. Feministische Rechtszeitschrift 2009, 147- 158 (152 f.): Lt. der irischen nationalen Gewaltprävalenzstudie „haben Frauen etwa doppelt so häufig schwere Ausprägungen körperlicher Gewalt durch Partner erlebt wie Männer (9% vs. 4%) und sie waren 8 Mal häufiger von sexueller Gewalt durch Partner betroffen (8% vs. 1%, siehe Abbildung); wobei sexuelle Gewalt gegen Männer sicherlich ein Tabuthema ist, bei dem mit vergleichsweise größeren Dunkelfeldern zu rechnen ist.“

 

 

8 da sich oft auch Frauen – z.B. wegen fehlender Ressourcen oder Eingebundenheit in das patriarchale Geschlechterverhältnis nicht feministisch, sondern täterschützerisch verhalten – wie auch (um MarxistInnen verständlich zu bleiben) nicht alle Lohnabhängigen KommunistInnen oder auch nur Gewerkschaftsmitglieder sind, da soziale Lage (gesellschaftliche Stellung) nicht zwangsläufig zu einer bestimmten politischen Haltung / Einstellung / Praxis führt.

Vgl. zur Eingebundenheit von Frauen in das patriarchale Geschlechterverhältnis die feministische MittäterInnenschafts- bzw. Täter-Opfer-Debatte der 1980er Jahre; die beiden grundlegenden Texte waren damals:

  • Frigga Haug, Frauen – Opfer oder Täter? Über das Verhalten von Frauen, in: Das ArgumentH. 123, Sept./Okt. 1980, 643 - 649.

  • Christina Thürmer-Rohr, Aus der Täuschung in die Ent-Täuschung. Zur Mittäterschaft von Frauen, in: dies., Vagabundinnen. Feministische Essays, Fischer: Frankfurt am Main, 1999 (1. Auflage: Orlanda Frauenverlag: [West]Berlin, 1987, 38 - 56; als Zeitschriften-Aufsatz zu erst: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis 1983, 11 - 25).

 

 

9 „wie gesagt woke ist ein aave begriff von black lives matters geprägt, wo es dezidiert um die ermordung von schwarzen personen durch cops geht, das hat erstmal nichts mit dt. linksliberalen oder szene-linken in deutschland zu tun“ (https://twitter.com/david_doell/status/1505669428607868937)

 

 

10 So wird bspw. oft „Identitätspolitik“ mit „Postmoderne“ in einen Topf geworfen, und gleichzeitig „Postmoderne“ sehr breit verstanden (unter Einschluß nicht nur der „Postmoderne“ im engeren Sinne, sondern auch von Poststrukturalismus und De-Konstruktion; außerdem ohne Rücksicht darauf, ob „Postmoderne“ von ihren VertreterInnen als vermeintlich schon eingetretene Realität oder vielmehr als Kritik an vermeintlich noch fortbestehenden „modernen“ Zuständen verstanden wird).

Wenn nun unter „Identitätspolitik“ auch noch pauschal alles verstanden wird, was irgendwie mit „Identitäten“ zu tun hat, dann befinden wir uns endgültig in einer Nacht, in der alle Katzen grau sind: Dann werden nämlich De-Konstruktion von Identität einerseits und Affirmation und Essentialisierung von Identitäten andererseits in einen Topf geworfen, obwohl es sich um gegensätzliche Positionen handelt.

Im übrigen spielt „Identität“ auch im Klassenkampf oft eine Rolle – dort dann (mit positiver Konnotation) „Klassenbewußtsein“ (von Lukàcs-Anhänger auch „Klasse für sich“ genannt) oder (mit negativer Konnotation) „Arbeitertümelei“, Ouvrierismus (s. http://inkrit.de/neuinkrit/mediadaten/archivkwm/KWM05.pdf, S. 977 - 978) oder „workerism“ (im hier gemeinten Sinne zu unterscheiden von „workerism“ als englische Übersetzung für Operaismus [ebd., 955 - 957]; vgl. für die hier nicht gemeinte Bedeutung: https://en.wikipedia.org/wiki/Workerism) genannt.

 

 

11 Vgl. dazu meinen Beitrag zum Thema „Leninismus und Irrtum“ zu einer Vorlesung von Frieder Otto Wolf „Kontexte und Perspektiven Radikaler Philosophie“ an der Freien Universität Berlin: http://www.friederottowolf.de/688/kontexte-und-perspektiven-radikaler-philosophie-7/ (ab Min. 54:45: „Krise und dann das Ende des Fordismus“ usw.) (bei ca. Min. 55:38 war mir ein Versprecher unterlaufen [statt „1996“ hätte es dort „1976“ heißen müssen]).

 

 

12 Die Tomaten wurden geworfen aufgrund des männlich-linken Umgangs mit einer Rede von Helke Sanders auf der 23. Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) „die Forderung Helke Sanders verhallte zunächst ungehört auf der SDS-Konferenz. Die männlichen SDS-Delegierten weigerten sich schlicht, ihren Redebeitrag zu diskutieren. Dass sich die Gemüter dann doch noch erhitzten, lag in der ‚Aktion‘, die die SDS-Delegierte Sigrid Rüger daraufhin vornahm. Diese warf mehrere Tomaten auf die männlichen Vorsitzenden des SDS und erregte damit sowohl die nötige innerverbandliche Empörung als auch das öffentliche Interesse.“ (https://www.1000dokumente.de/pdf/dok_0022_san_de.pdf, S. 3)

 

 

13 Siehe dazu:

 

 

14 Siehe § 174 bis 176e StGB: http://www.gesetze-im-internet.de/stgb/BJNR001270871.html#BJNR001270871BJNG005002307.

 

 

15 Der frühere § 179 StGB – letzte und vorletzte Fassung: https://lexetius.de/StGB/179,3.

 

 

16 Vgl. dazu meinen Kommentar unter einem Blog-Artikel von 2010: „Also, Jan, wenn es also tatsächlich mal vorkommen sollte, daß Du mit einer Person gegen deren Willen Sex hast, ohne daß Du merkst, daß Du Dich gerade über den Willen dieser Person hinwegsetzt, dann verlangt das Konzept ‚Definitionsmacht‘ von Dir in erster Linie,

  • […]

  • daß Du die Person fernerhin in Ruhe läßt, falls diese Person aufgrund dieses vermeintlichen Mißverständnis nichts mehr mit Dir zu tun haben will,

  • daß Du dementsprechend auch die sozialen Räume meidest, die die Person normalerweise aufsucht, falls sie das so wünscht,

  • […].

Wenn Dir tatsächlich an der Person etwas liegt und Du sie nicht verletzen wolltest, dann ist das nicht etwa zuviel verlangt, sondern sollte das völlig selbstverständlich sein. Dies zu akzeptieren wäre, sozusagen ein praktisches Indiz dafür, daß Du tatsächlich – und nicht nur vorgegebenermaßen – guten Willens handelst.“

 

 

17 Die Bundesarbeitsgemeinschaft Frauen der Grünen forderte 1989 – weit unterhalb von weiblicher Definitionsmacht, „eine Änderung der Strafprozeßordnung“, damit

  • „Frauen nicht mehr gezwungen werden können, über ihr sexuelles Vorleben Aussagen zu machen,

  • sie die Möglichkeit der Nebenklage und damit die Möglichkeit des aktiven Eingreifens in den Prozeß haben,

  • […] der Täter auf Verlangen der Frau zeitweilig aus dem Prozeß ausgeschlossen werden kann“

  • damit „opferbeschuldigende Strategien“ „nicht mehr ziehen“ (Das Ende eines Kavaliersdelikts; anscheinend vorgetragen von Martha Rosenkranz; veröffentlich in: taz v. 10.06.1989).

Die Nebenklage-Bestimmungen in der StPO wurden seitdem mehrfach geändert und ermöglichen jetzt auch Nebenklagen wegen Sexualstraftaten: https://lexetius.de/StPO/395 (s. dort und bei den folgenden Paragraphen jeweils unterhalb der aktuellen Fassung: dort sind die Geltungszeiträume der vorgehenden Fassungen des jeweiligen Paragraphen genannt und der damalige Wortlaut verlinkt).

 

 

18 Das Kriterium Opfer einer sexuellen/sexualisierten Tat zu sein, taugt als Kriterium nicht, weil die Definitionsmacht ja gerade dazu dienen soll, auch bei Beweisschwierigkeit zu bestimmen, welche Person als das Opfer zu behandeln (besser: zu schützen) ist. (Person A als Opfer einer Falschbeschuldigung oder Person B als Opfer einer sexuellen/sexualisierten Tat?)

„welche Person als das Opfer zu behandeln (besser: zu schützen) ist“, bedeutet: Es handelt sich um eine – aufgrund der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Mechanismen, mit denen diese reproduziert werden – plausible Annahme (‚Hypothese‘ / „Fiktion“ im juristischen Sinne [*]).

Eine „Fiktion ist keine Lüge, nicht einmal eine Unwahrheit, sondern eine Fiktion ermöglicht ein Handeln auf hypothetischer Grundlage“ (https://linksunten.indymedia.org/de/node/108153/index.html#comment-100892). „Auch wenn die Wahrheit weder bei den ‚Unterdrückten‘ noch bei den Beherrschten und Ausgebeuteten liegt, so ist es doch in bestimmten Kontexten politischen sinnvoll, von der Fiktion auszugehen, sie läge bei den Beherrschten und Ausgebeuteten – und zwar als Kompensation eines Machtgefälles.“ (https://linksunten.indymedia.org/de/node/108153/index.html#comment-100797)

Weil wir wissen,

  • daß wir in einer patriarchalen Gesellschaft leben;

  • daß Frauen weitaus mehr von sexualisierter Gewalt durch Männer betroffen sind als umgekehrt;

  • daß es Frauen in patriarchalen Gesellschaft schwerer haben, ‚gehört‘ zu werden und ihre Interessen durchzusetzen als Männer;

  • daß die Beweisführung im Falle von Sexualstraftaten schwierig ist,

ist es richtig, Frauen – jedenfalls für das politische Verhalten – einen gewissen ‚Gehörsvorteil‘ qua Anerkennung von weiblicher Definitionsmacht zu verschaffen.

[*] Vgl. zum Beispiel § 41 I 1, 3VwVfG: „Ein schriftlicher Verwaltungsakt, der im Inland durch die Post übermittelt wird, gilt am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. […]. Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen.“

(Weil Post üblicherweise spätestens am dritten Tag nach Absendung ankommt [oft sogar schon am ersten], wird davon ausgegangen, daß sie am dritten Tag ankommt. Kommt sie erst am vierten Tag an, hat der/die EmpfängerIn Pech [und von der Widerspruchs- oder Klagefrist geht ein Tag verloren]; kann der/die EmpfängerIn dagegen beweisen, daß die Post gar nicht oder später ankommt, wird vom tatsächlichen Sachverhalt ausgegangen. Kommt die Post bereits am ersten Tag an, hat der/die EmpfängerIn Glück und bekommt zwei Tage Klage- oder Widerspruchsfrist ‚geschenkt‘. – Die konkrete Ausgestaltung [widerlegbar oder nicht?, Auf welcher Seite liegt die Beweislast für die Widerlegung oder für die Bestätigung der gesetzlichen Annahme etc.] von gesetzlichen Fiktionen ist je nach Fiktion unterschiedlich.)

 

 

19 Siehe dazu beispielhaft meine Kritik

 

20 Siehe

 

 

21 Vgl.

  • https://www.gender-glossar.de/post/intersektionalitaet (es ist allerdings nicht nötig, Intersektionalitäts-Analysen im Rahmen einer – hinsichtlich der politischen Implikationen bzw. Konsequenzen zu Reformismus tendierenden – [stratfikatorisch-deskriptiven] ‚Soziologie der Ungleichheit‘ zu betreiben, sondern es ist auch möglich, den relationalen Charakter des Verhältnisses zwischen den jeweiligen Beherrschten und Ausgebeuteten einerseits und Herrschenden und Ausbeutenden andererseits zu betonen)

    und

  • mein Blog-Artikel: Intersektionalität und Gesellschaftstheorie.

Siehe – am Beispiel des Klassenverhältnisses – zum relationalen statt startifikatorischen Charakter von Herrrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen:

  • „Beide Historiker [Genovese und Thompson] haben einen hervorragenden Sinn für den Verhältnis-Charakter von Klasse, der die Analyse bereits über das Niveau sozialdemokratischer Auffassungen hebt (als statische Struktur oder ‚Stratifikation‘); aber sie haben keine entwickelte Auffassung davon, daß diese Verhältnisse über oder in etwas sind.“ (Richard Johnson, Edward Thompson, Eugene Genovese und sozialistisch-humanistische Geschichtsschreibung, in: Das Argument H. 119, Jan./Feb. 1980, 39 - 49 [43]; gekürzte Übersetzung aus: History Workshop. A Journal of Socialist Historians Iss. 6, 1978, 79 - 100).

‚Relationaler statt startifikatorischer Charakter‘ heißt z.B.: Es besteht nicht nur einfach ein Oben und Unten, sondern:

  • die Einen haben eine sehr hohes und die Anderen ein niedrigeres Einkommen, weil die Einen die Produktionsmittel besitzen und die Anderen nicht, und die Anderen deshalb für die Einen an den Produktionsmitteln der Letzteren arbeiten;

  • die Einen haben die besseren Chancen auf dem Arbeitsmarkt (hinsichtlich Einkommen und Jobposition) als die Anderen, weil die Anderen den Einen zu Hause den Dreck hinterherputzen und sich überwiegend um die gemeinsamen Kinder kümmern.

 

 

22 Höre dazu

  • meinen Beitrag bei der Veranstaltung am 30.01.2016 zum 20. Jubiläum von „trend. onlinezeitung“: https://archive.org/details/trend20jahre300116schulze ab Min. 8:29 (vgl. dazu auch das Ende [ab Min. 27:35] der Antwort von Georg Klauda, der bei der Veranstaltung vor mir einen Beitrag gehalten hatte, auf mein auf input)

    und

  • meinen bereits in FN 11 genannten Vortrag ab Std.:Min.:Sek. 1:20:19 (Antwort auf eine Teilnehmer-Frage).

An beiden Stellen betone ich die Bedeutung der Arbeitsteilung für die Beantwortung der Frage, was die materiellen Grundstrukturen sind, und die unterschiedliche Stellung der races, classes und genders in der Struktur der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Dagegen schlagen sich z.B. die Unterschiede hinsichtlich der sexuellen Orientierung nicht oder kaum in der Struktur der gesellschaftlichen Arbeitsteilung nieder (z.B. sind schwule, bi-, oder pansexuelle Männer in dieser Struktur nicht groß anders positioniert als heterosexuelle Männer; Lesben sind zwar hinsichtlich der häuslichen Arbeitsteilung anders positioniert als Heteras (erstere leisten die Hausarbeit nicht für Männer – es sei denn, sie leben in einer geschlechter-gemischten WG); aber in der Erwerbsarbeit gibt es keine klaren Unterschiede); trotzdem gibt es weiter Homophobie. Unterschiede nach Alter schlagen sich zwar sehr wohl in der Arbeitsteilung nieder; aber soweit Menschen in etwa die durchschnittlich Lebenserwartung erreichen, durchlaufen sie alle die wichtigsten Stufen (Ausbildung, Erwerbsalter, Renten). Während der Wechsel der Altersstufe von allein erfolgt, ist das Wechseln von Klasse oder Geschlecht (weiterhin) jedenfalls deutlich schwieriger.

In ähnlicher Weise dürften sich wohl auch für die weiteren Diskriminierungsverhältnisse Unterschiede gegenüber den drei – von mir als Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen bezeichneten – Widersprüche feststellen lassen.

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