35 Jahre: Der 1. Mai als Spiegel der Zeit

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Ob innerhalb oder außerhalb der radikalen Linken: Der (West-) Berliner 1. Mai ist seit 1988 mit dem Vorwurf der Ritualisierung konfrontiert! Sicherlich wird nicht jedes Jahr das Rad neu erfunden, doch über etwas längere Distanz kann man an diesem symbolischen Datum die Entwicklung sowohl der Stadt als auch der radikalen Linken recht gut nachvollziehen.

"Where The Hood At" - Die Frage des Ortes 

Bundesweit war auch jenseits des linksradikalen Mikrokosmos zumindest bis weit in die 00er-Jahre der 1. Mai mit Kreuzberg verbunden und bis dato fanden auch fast sämtliche Auseinandersetzungen in dem Bezirk statt. Umso erstaunlicher, dass die Demos keinswegs immer in diesem Bezirk stattfanden. 1988 ging es vom Oranienplatz nach Nordneukölln und wieder nach Kreuzberg zurück. Eine Route, die auch das maoistisch geprägte 13 Uhr-Bündnis bis zum bitteren Ende verteidigte. Das eher antiimperialistisch geprägte Linksradikale und Autonome Bündnis wollte Kreuzberg aber schon deutlich ungerner verlassen. Und die ab Mitte der 90er szeneführende AAB verlegte ihre weitaus größere Demonstration mehrmals gleich nach Mitte zum Rosa-Luxemburg-Platz und ging dann in den Prenzlauer Berg. Für die Jüngeren schwer vorstellbar, aber dieser Bezirk war wohl noch nicht immer komplett bourgeoises Feindesland und Neukölln in den Jahren zwischen Mauerfall und Gentrifizierung selbst der radikalen Linken wohl einen Zacken zu hart - oder zu trostlos. Gleiches gilt für den Wedding, der aber seit etwa zehn Jahren bei der radikalen Linken mit der inzwischen auch schon traditionellen Demo zum 30. April einen festen Platz findet, während die mit einer einst sehr punkigen Kundgebung beehrte Walpurgisnacht in Friedrichshain nun leer ausgeht. Letztes Jahr um 18 Uhr startete der 1. Mai am Hermann-, nun sogar am Herzbergplatz. Der revolutionäre 1. Mai rückt mehr gen Neukölln. Enden soll es zwar in Kreuzberg, aber letztes Jahr kam es auch zu Auseinandersetzungen in der Sonnenallee und Kreuzberg ging leer aus. Interessant auch, dass der vielfach vor allem für nationalistische und antisemitische Tendenzen kritisierte ehemalige Jugendwiderstand Neukölln schon vor knapp zehn Jahren mit ihrer sehr kleinen 13 Uhr-Demo auf die Karte gesetzt hat, während die großen Massen auf der 18 Uhr-Demonstration sich noch im Umfeld des MyFests in die Kreuzberger Haupt- und Nebenstraßen quetschten und dabei nur gelegentlich den Nachbarbezirk beehrten. Kurzum: Von Kreuzberg (und Neukölln) nach Mitte und dem Prenzlauer Berg zurück nach Kreuzberg und nun immer mehr nach Neukölln.

"Which side are you on?" - Die Anzahl der Veranstaltungen

Bis 1993 gab es am 1. Mai nur eine große Demo. Nach handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Autonomen und Maoisten organisierten letztere ab 1994 weiterhin eine Demonstration zur gleichen Zeit und am selben Ort - jedoch mit sehr viel weniger Bündnispartnern und ebenfalls deutlich weniger Teilnehmern. Es waren statt 10 bis 15 Tausend eher um die 2.000 jedes Jahr und während ab 1996 andere antiimperialistische und vor allem türkisch geprägte marxistisch-leninischte Gruppen wieder teilnahmen, blieben sämtliche eher undogmatische Autonome fern. Für dieses Spektrum gab es ab 1996 die AAB-Demo. Mit Slogans wie "Enough is enough!", "Das Ende der Gewalt!" oder "Macht verrückt, was euch verrückt macht!", deutlich moderneren Layouts sowie teilweise namenhafter popkultureller Unterstützung konnte man wieder fünfstellige Teilnehmerzahlen mobilisieren. Es war die Hochzeit der Pop-Antifa. Mit dem 11. September hatte diese es aber zunehmend schwierig. Bundesweit kam es zur Spaltung, in Berlin mobilisierte die  antideutsch geprägte Hälfte KP B3rlin 2003 im Jahr des Irak-Krieg in AAB-Tradition um 18 Uhr mit dem Motto "Nie wieder Frieden!" zum Rosa-Luxemburg-Platz. Gekommen sind dabei aber nur etwa 3.000 Personen, darunter jedoch auch die sonst nicht allzu aktionistische antideutsche Prominenz der Redaktion Bahamas mitsamt USA- und Israel-Fahnen. Die ALB mobilisierte um 15 Uhr zum Oranienplatz und sorgte damit ganz nebenbei nach exakt zehn Jahren für die Wiederauflage des ganzen breiten Kreuzberger Bündnisses von Maoisten über Antiimperalisten, Autonomen und Antifas bis hin zu den Sozialdemokraten von felS. Im Jahr danach ging es aber weniger um den Irak-Krieg als um Hartz IV und alle außer die Maoisten gingen zum Potsdamer Platz. Die KP B3rlin macht noch einmal am 30. April eine Demo gegen die EU-Osterweiterung, danach ließ sie den Tag links liegne. Nur 2007 machte die faktische Nachfolgergruppe TOP B3rlin noch einmal eine Vorabenddemo am 30. April mit einem launig-adornitischen Aufruf unter dem Konterfrei der frisch rasierten Britney Spears. Die ALB widerstand nach heftigen inneren Kämpfen dem nach wenigen Jahren sich totlaufenden scheinbaren kathartischen Erfolgsprojekt Mayday und mobilisierte im Jahr des G8-Gipfels ähnlich wie 2003 und 2004 im breiten linksradikalen Bündnis wieder nach Kreuzberg, wo es in den beiden Zwischenjahren nur die 13 Uhr-Demo sowe eine abendliche "Spontandemo" mit deutlich weniger Teilnehmern gab. Von 2007 an sollte es jedes Jahr eine meist 5.000 bis 10.000 Menschen große abendliche Demonstration in Kreuzberg geben. Maßgeblich von der ARAB beeinflusst bekam diese einen zunehmend klassischer kommunistischen statt autonomen Charakter. Anders als in den 90er- und vor allem frühen 00er-Jahren war auch die antiimperialistische Ausrichtung eindeutig. Die Teilnahme des BDS sorgten zum Abschied von ÖkoLinX, die man getrost als undogmatischen Flügel der Demo bezeichnen konnte. Fast beiläufig zu erwähnen, dass die 13 Uhr-Demonstration mit dem Ende der 00er-Jahre endgültig jeden Zuspruch verlor und verschwand. Der Unterschied zur 18 Uhr-Demo wurde immer kleiner. Etwas spitzfindig könnte man selbiges nun auch über den Jugendwiderstand sagen. Sicherlich wird die Migrantifa niemals Worte wie "Mitteldeutschland" in den Mund nehmen und Ernst Thälmann hat für sie wahrscheinlich auch eher eine untergeordnete Bedeutung, doch Palästina-Fahnen im Frontblock der größten Berlineer 1. Mai-Demonstration gab es wahrscheinlich nur einmal - und zwar im Jahr des Irak-Kriegs. Aber nicht nur der 11. September, auch die Euro-Krise hat Spuren hinterlassen. Seit exakt 2009 gibt es einen klassenkämpferischen Block auf der DGB-Demo. Den gab es in 80ern auch schon mit anderen Namen, aber nach dem Mauerfall war er es mit der Liebe zum deutschen Proletariat in noch größeren Teilen der radikalen Linken erst einmal vorbei und die marxistisch-leninistischen Grüppchen liefen alle eher so für sich auf der sozialpartnerschaftlichen Kleindemo, die seit 1987 alljährlich weniger Teilnehmer hat als das größte linksradikale Event des Tages. Das große Ärgernis von Nazi-Aufmärschen am Vormittag war vor allem in den 90er- und 00er-Jahren großes Thema, am 30.4. ging es meist um Yuppisierung in Friedrichshain oder Gentrifizierung im Wedding - sowie nun nach über 25 Jahren Pause auch wieder um feministische Kämpfe. Auch hier sind die Tage um den 1. Mai ein hübscher Spiegel des Gemütszustands der radikalen Linken.

"Where is the love?" - Die abendlichen Festspiele

Bis 2004 war abendlicher Krawall die Regel, seit 2005 ist er eher die Ausnahme. Das MyFest war ein sozialdemokratisches Integrationsprogramm par excellence: Große insbesondere migrantisch geprägte Teile der Kreuzberger Bevölkerung verkauften vor der Pandemie überteuertes Dosenbier an die Party-Meute statt sich Straßenschlachten mit den Einsatzkräften zu liefern. Es ist auch kein Zufall, dass es eine rot-rote Stadtregierung war, die den Bezirk befriedete und an deren Erfolgskonzept auch ein Herr Henkel von der CDU nicht vorbeikam. Militante Schlagkraft entfaltete die Demonstration aber auch so immer wieder, zum Beispiel 2009 im Folge der Weltwirtschaftskrise und im gewissen Ausmaß auch letztes Jahr. Mal sehen, was für ein staatlich subventioniertes Volksfest in der Sonnenallee sich die zuständigen Stellen nun dafür ausdenken.

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