War da was?

Das Jahr 2021 ist zu Ende. Einen anarchistischen Kronstadtkongress im Jahr 2021 in Berlin zu veranstalten ist gescheitert.

Es gibt keine Orgagruppe mehr. Es gibt keine Struktur mehr, die Verantwortung für eine Absage übernimmt. Versuche, einen Text aufzusetzen, wurden entweder gar nicht erst gemacht oder scheiterten. Es gibt kein minimales „Wir“ im Moment. Dieser Text entstand aus der Verantwortung Jenen gegenüber, die ein Recht haben davon zu erfahren, dass dieser Kongress nicht stattfinden wird. Es ist inakzeptabel, wenn Unterstützer*innen nicht davon in Kenntnis gesetzt werden.

Damit ist die Position geklärt, aus der dieser Text einen Einblick in das Scheitern des Kronstadtkongresses geben will.

Die angesprochenen Punkte sind eine Sicht auf das Scheitern, es kann nicht für andere Sichtweisen gesprochen werden.

Warum also kein Kongress?

  1. Es gab eine ungenaue inhaltliche Verständigung darüber, was mit einem solchen Kongress verbunden wird. Es gab kaum oder keinen inhaltlichen Austausch oder politische Diskussion. Differenzen wurden nicht ausgetragen. Aus den diversen Brüchen, derer es viele gab, und die zu Ausstiegen führten, wurden nicht die entsprechenden Konsequenzen gezogen.

  2. Über das Ziel, den Kongress zu machen, wurde der Weg verloren. Es geht nie nur darum ein Ergebnis zu haben, sondern auch der Umgang miteinander bringt uns zum Ziel.

  3. Es waren zu wenige Leute für so ein ambitioniertes Projekt. Einerseits waren wir überarbeitet, andererseits wurde ein Aufruf zur Mitarbeit losgelassen, ohne klar zu haben, was für ein Kongress sich eigentlich entwickeln soll. Die Ansprüche an einen Kongress wurden nicht, mit dem abgeglichen was machbar ist, oder welche Differenzen dabei untereinander pragmatisch umschifft oder ausgetragen werden sollten.

  4. Die politischen unterschiedlichen Positionen zur Pandemie und die Differenzen zum (staatlichen) Umgang damit waren weitgehend ungeklärt geblieben. Dies flog bei der Kundgebung im Juni 2021, die als Zwischenschritt zum Kongress veranstaltetet wurde, der Orga um die Ohren. Schon diese Kundgebung am Mariannenplatz war das Ergebnis vorangegangener Differenzen und Spaltungen der Orgagruppe.

  5. Ohne eine inhaltliche Auseinandersetzung zu der polarisierten Debatte um Coronamaßnahmen konnte das Projekt nicht gelingen. So saß mit einem Vertreter einer bestimmten Antifaströmung eine politischen Linie in der Orga, welche sich auf kritische Untertöne zum staatlichen Umgang mit der Pandemie und den Verordnungen nicht einlassen konnte und wollte. Es gab außerhalb der Orgagruppe pandemieverordnungskritische Töne, die zum Teil zu hinterfragen waren; in ihnen war eine Rechtsoffenheit angelegt oder es schien so.

    Die Orga kannte sich zu wenig um dieses Pulverfass zu bearbeiten. Die Orga gab sich keine Zeit, die diversen Positionen anzusprechen und im politischen Streit auszutragen. Letztlich war die Kundgebung ein politische Desaster. Antifa (also in dem Fall weißes Cis-dominiertes, patriarchales Verhalten) traf auf „Freie Linke“, die mit Coronaleugnern und Rechten auf zum Teil den selben Veranstaltungen auftraten und keine Distanz zu diesen herstellten oder herstellen wollten.

  6. Die Moderation auf der Kundgebung basierte nicht auf einem gemeinsamen Nenner, und hatte auch keinen gemeinsamen Ausdruck. Sie war individualisiert, weil die Differenzen untereinander die Orga politisch bzw. eine gemeinsame Moderation zerlegt hatte. Unter diesen Umständen trotzdem eine Kundgebung zu veranstalten war im Nachhinein nicht die beste Entscheidung. Nach außen mag die Kundgebung gut ausgesehen haben, nach innen war sie der Todesstoß der Kongressidee in dieser Konstellation.

  7. In Folge dieser Differenzen war es folgerichtig das der Antifa (cis, weiß, männlich) innerhalb der Orga nach der Kundgebung den Ausschluss einer queeren-transgender Anarchistin aus der Orga durchzusetzen versuchte, weil diese sich nicht die Polarisierungen zwischen zwei Lagern zu eigen machte. Die dezidierte andere Position, die sowohl kritisch zu den staatlichen Maßnahmen und den Ansätzen eines Ausnahmezustandes stand, als auch in Gegner*innenschaft zu den Rechten und C-Leugnern stand, passte nicht in das Weltbild eines Gut und Böse-Schema. Mit diesem Ausgrenzungsversuch verbaute sich der Rest der Orga eine selbstkritische Aufarbeitung.

    Fazit: Es gab gravierende blinde Flecken und fehlende politische Perspektiven des Anarchismus zu Kolonialismus und Patriarchat. Die sehr Cis-männlich und heterosexuell dominante geprägte Zusammensetzung und Ausrichtung setzte andere Schwerpunkte, in denen der Bezug zu trans- oder queeren Bewegungsansätzen immer wieder verloren ging. Weiße Cis-Männer und Frauen sind zu antikolonialen und antipatriachalen Positionen in der Lage. Hier aber waren diese politischen Voraussetzungen nicht gegeben.

Ein Resümeeversuch

  1. Ambitionierte Projekte sind gut. Überforderungen führen zu Polarisierungen und Streit, wenn die Gruppe sich nicht kennt und keine Erfahrungen miteinander hat. Eine neue Gruppe die sich streitet, oder diese Streits ausblendet, ist nicht stabil und belastbar.

  2. Anarchist*innen gibt es viele und die Herangehensweisen an das Thema sind unterschiedlich. Ein lebendiger Kongress hält Widersprüche aus und macht sie sogar diskutierbar. Eine gute Gruppe verweigert sich identitätspolitischen Polarisierungen (Gut-Böse, Richtig-Falsch). Unbenommen davon; eine klare Meinung haben zu können und diese auch zu vertreten zu können, steht dem nicht im Wege. Sie kann aber nicht, als absolut gelten. Der Weg ist das Ziel, solche Kriterien gelten nicht nur für den Kongress sondern für die Orga und deren Unterstützer*innen. Dies ist doch gerade eine der Lehren aus dem Massaker der Bolschewiki an dem Matrosenaufstand.

  3. Ein anarchistischer Kongress, welcher neben Klassenfragen, Organisationsformen und Nabelschau nicht auch Patriarchat & Kolonialismus zum Thema machen kann (oder diese Lücke wenigstens ehrlicherweise benennt), ist zu hinterfragen. Das betrifft auch die Orgagruppe; ist diese von einer patriarchalen Dominanzkultur geprägt, wird sich dies auch auf den Kongress auswirken. Oder wie in diesem Fall, die Gruppe vorher zerhauen.

  4. Nachwievor ist ein Kongress oder ähnliches wichtig. Es braucht mehr politische Rahmen in denen verschiedene Positionen miteinander diskutiert werden, bzw. auch verknüpft oder verworfen werden können. Diese Diskussionen haben Auswirkungen auf unsere Praxen und können positive Orientierungen bieten. Derzeit hat niemand die Weisheit mit Löffeln gefressen um zu sagen, wo eine umfassende anarchistische Antwort auf die herausfordernden Verhältnisse liegen könnte. Wir müssen also alle Ansätze diskutieren, die wir zusammentragen können um voneinander zu lernen.

  5. Es braucht anarchistische Diskussionen, es braucht vielleicht weniger Cis-Dominanzen und patriarchale Macker*innen.

Hiermit ist der Stab abgegeben für einen bundesweiten, intersektionalen, anarchistischen Kongress. Ein Kongress oder einen Rahmen, der diversen Positionen Raum gibt, sie kritisch diskutierbar macht und graswurzelmäßig, radikalpazifistisch und militant gleichermaßen Unterstützung findet. Aufstehen. Weitergehen.

 

 

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