Der Wilde Westen Mailands
Wenn sich in den proletarischen Stadtteilen in Mailand die Nachbarschaften miteinander solidarisieren, statt sich von Staat und Politik klein machen zu lassen, dann entstehen Strukturen, in denen ein anderes Leben möglich scheint. Eine Auskopplung aus der neuen Broschüre des malaboca kollektiv.
Das peruanische Trinkspiel la ronda ist simpel. Ein einziges Bierglas wandert schnell von Hand zu Hand – wenn es leer ist, wird sofort nachgeschenkt. Wer zu sehr trödelt, wird mit dem Hinweis angetrieben, dass es sich bei dem Inhalt nicht um Suppe handelt. Da die Runde nicht gerade klein ist, könnte man glauben, es würde eine Ewigkeit dauern, bis ein Effekt spürbar wird. Doch schnell wird klar, dass das eine Fehleinschätzung ist. Die Stimmung im Hof des sozialen Zentrums Burrida, von dessen Dach aus man beinahe ganz Genua überblicken kann, wird schnell ausgelassen. Lateinamerikanische Popschnulzen bringen die Anwesenden in Bewegung und wenn man es nicht besser wüsste, könnte das hier auch eine »ganz gewöhnliche« Gartenparty sein. Doch fast alle hier leben eigentlich im knapp zwei Stunden entfernten Mailand. Die meisten kommen aus Peru oder Ecuador und sind vor einigen Jahren auf der Suche nach Arbeit in die norditalienische Metropole ausgewandert. Und sie sind so arm, dass die vergangenen zwei Tage an der ligurischen Küste für manche der erste Urlaub ihres Lebens gewesen ist.
Alle Feiernden an diesem Abend leben in Quateri populari, wie die Arbeiter*innenviertel auf Italienisch genannt werden und von denen es in Mailand zahlreiche gibt. Zu Beginn der 1950er Jahre entwickelten sich die ersten Migrationsbewegungen vom Süden Italiens in die industriellen Zentren des Nordens. Später bekamen die Quateri populari auch mehr und mehr Zulauf durch globale Migrationsbewegungen. Sie alle eint eine schlechte Anbindung ans öffentliche Verkehrssystem, viele kleine Geschäfte und große Wohnblocks, von denen die meisten in der Zeit des italienischen Faschismus gebaut und seitdem, wenn überhaupt, nur äußerlich renoviert wurden. Die Mietpreise steigen hier schneller, als man das Wort Gentrification buchstabieren könnte. Im Zentrum Mailands kostet eine 1-Zimmer-Wohnung im Durchschnitt derzeit mehr als 1000 Euro Miete monatlich. In den Randgebieten immer noch 700 Euro – Tendenz steigend. Bei einem Durchschnittslohn in der Stadt von rund 1500 Euro, der in den Quateri populari nicht gesondert ermittelt wird, aber weit darunter liegen dürfte, kann sich das hier kaum noch jemand leisten.
In den siebziger Jahren war der öffentliche Wohnungsbau groß, mehr als 75.000 Sozialwohnungen existieren deshalb noch immer in der Stadt. Verwaltet werden sie von der öffentlichen Wohnungsbaugesellschaft Azienda Lombarda Edilizia Residenziale Milano – kurz ALER. 2013 wurde öffentlich, dass einige Angestellte ALERs im großen Stil Gelder veruntreut und Bilanzen gefälscht hatten – einige Verantwortliche wurden daraufhin zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt und insgesamt offenbarte sich ein Finanzloch von mehr als einer Milliarde Euro. Damit ist ALER faktisch insolvent und für viele Politiker*innen bot das die optimale Gelegenheit, auf eine vollkommene Privatisierung des sozialen Wohnungsbaus zu insistieren. Seit ebenfalls vier Jahren nimmt ALER, mit Verweis auf die fehlenden Finanzmittel, deshalb keine Reparatur- und Renovierungsarbeiten der existierenden Wohnungen mehr vor und benutzt den desolaten Zustand vieler Wohnungen als Argument dafür, diese nicht mehr neu zu vergeben, sobald die vorherigen Mieter*innen ausziehen. Pepe, selber aktiv in Kämpfen um Wohnraum in Mailand, schüttelt den Kopf: »Durch diese Entwicklungen entsteht ein absurdes Bild auf dem Wohnungsmarkt Mailands. Mehr als 20.000 Menschen stehen auf der Warteliste für eine Sozialwohnung – manche von ihnen seit mehr als zehn Jahren – während etwa 8.000 dieser Wohnungen leer stehen. Das kann auf die Dauer nicht gut gehen«.
Weil diese neoliberale Misswirtschaft eine existentielle Notlage produziert, besetzen viele Familien eine Sozialwohnung, schätzungsweise 4000 solcher Besetzungen gibt es aktuell. Im öffentlichen Diskurs der Stadtobersten wird diese Wohnungskrise gerne als eine »Besetzungskrise« bezeichnet, was zwar den Bock zum Gärtner macht, aber zu allerlei populistischen Abenteuern einlädt. Eines davon beginnt im November 2014, als Bürgermeister Giuliano Pisapia mit großer Geste und maximaler Medieninszenierung verkündet, man würde sich dem »Besetzungsproblem« jetzt so richtig annehmen und als allererstes binnen weniger Wochen 200 besetzte Wohnungen räumen lassen. Eine der ersten Wohnungen, die geräumt werden sollte, lag in Giambellino, einem der Quateri Populari im Südwesten der Stadt.
Im Nachhinein bezeichnen die Mitglieder des Nachbarschaftskomitees von Giambellino es als das größte Geschenk, das die Stadt ihnen hätte machen können. Ihre Erzählungen dieser Tage beginnen alle nahezu identisch, um der Szenerie die nötige Dramatik zu verleihen: »Es war grau und nieselig. Niemand war auf der Straße und als wir an der Wohnung ankamen, war die Polizei schon im Gebäude«. Doch dann lief alles anders als gedacht. Innerhalb weniger Minuten waren hunderte Nachbar*innen auf der Straße, zogen aufgebracht zur Wohnung und als Flaschen und Steine auf die Beamten der Kommunalpolizei flogen, machten diese sich unverrichteter Dinge aus dem Staub. Am nächsten Tag titelte die regionale Presse über Bildern kämpfender Anwohner*innen »Der wilde Westen Mailands«.
Die gleichen Szenen, nicht selten von noch heftigeren Auseinandersetzungen begleitet, spielten sich in den folgenden zwei Wochen bei fast jeder Räumung ab, die im Auftrag ALERs durchgesetzt werden sollte. Um zu verdeutlichen, wie aufgeheizt die Stimmung dieser Tage war, wird oft die Geschichte des anarchistischen Zentrums SAO Rosa Nera im Stadtteil Corvetto erzählt: Das besetzte Zentrum war traditionell subkulturell isoliert, es gab weder von Seiten der Anwohner*innen noch von Seiten der Besetzer*innen ein gesteigertes Interesse an einem nachbarschaftlichen Verhältnis, was über den täglichen Kioskbesuch hinausging. Doch als die kommunale Polizei gemeinsam mit den Carabinieri am 17. November 2014 anrückte, um das Gebäude zu räumen, löste das plötzlich einen stundenlangen Aufstand des ganzen Viertels aus – jedoch nicht, weil die Nachbar*innen spontan ihre Meinung über das Rosa Nera geändert hatten, sondern weil sie angenommen hatten die Polizeiarmada sei gekommen, um eine der besetzten Sozialwohnungen zu räumen.
Im ersten Moment war die Überraschung über die vielerorts aufflammende Wut und Kampfbereitschaft groß. Doch schnell wurde den Beteiligten klar, welch beschleunigenden Effekt diese Dynamik auf schon zuvor existierende politische Experimente der Nachbarschaftsorganisierung hatte, die bis dahin eher ein trauriges Dasein fristeten. In Giambellino hatten diese gut ein Jahr zuvor mit der Besetzung der ersten Base begonnen: Ein Gebäude im Wohngebiet, in dem sich eine Handvoll Besetzer*innen aus dem Nachbarviertel traf und vergeblich versuchte in engeren Kontakt mit der lokalen Bevölkerung zu kommen.
»Als wir in Giambellino angekommen sind, um mit den Leuten im Viertel zu reden, wirkten wir für diese in einer gewissen Weise wie Aliens. Wir sind hier angekommen und haben angefangen über Revolution und Kommunismus zu reden – dabei haben diese Dinge für die Leute vor Ort einfach überhaupt keine Bedeutung«, erinnert sich Luigi. Als die Polizei nach einigen Monaten das Gebäude räumte, war das Interesse daran so groß, wie an dem Projekt zuvor: Gen null. Daraufhin wurde ein zweites Gebäude besetzt – diesmal gegenüber des lokalen Wochenmarktes gelegen und dadurch wesentlich sichtbarer und somit Teil des öffentlichen Lebens. Ein paar Leute aus dem Viertel kamen auch, zwar mehr als vorher, aber den großen Durchbruch brachte erst der November 2014.
Auch die zweite Base wird schließlich von der Polizei im Vorfeld der 1.Mai-Proteste 2015 gegen die in Mailand stattfindende Weltausstellung Expo geräumt. Doch diesmal regt sich Widerstand bei den Leuten, die mittlerweile eine Beziehung zu dem Ort und seinen ursprünglichen Benutzer*innen aufgebaut haben. Auch wenn die Reaktion medial im Schlachtenlärm des 1. Mai untergeht, dauert es nicht lange bis die Mitglieder des mittlerweile gegründeten »Nachbarschaftskomitees Giambellino« eine dritte Base besetzen, die sie auch heute noch nutzen. Gegenwärtig sind mehr als 60 Familien, die in besetzen Wohnungen leben, im Komitee organisiert – zunächst aus der akuten Angst vor einer Räumung. Aber mit der Zeit wurde mehr daraus, als nur eine Nothilfe-Struktur gegen ALER und die Polizei. Die Base ist ein wichtiger Ort des sozialen Zusammenlebens geworden, ein Ort der kollektiven Selbstorganisierung in Giambellino. Jede Woche gibt es eine medizinische Sprechstunde, zweimal Hausaufgabenhilfe, einmal Fußballtraining des eigenen Vereins Ardita Giambellino, ein gemeinsames Essen und natürlich die wöchentliche Versammlung des Komitees. Die Art, mit der man hier gemeinsam und selbstorganisiert Lösungen für die Misere des alltäglichen Lebens findet, hat einen enormen Effekt auf die politische Sozialisation derer, die daran teilhaben. Doch mitnichten ist dieser Lernprozess allein auf die »unpolitischen« Anwohner*innen begrenzt – im Gegenteil »Ich denke, vor allem wir haben uns verändert. Denn als wir in Giambellino ankamen, gab es bereits diese anderen Formen des kollektiven Lebens jenseits von unseren Ideen. Nur wir mussten sie eben erst selbst noch kennenlernen«, erzählt Marco.
Leben und Kämpfen in einem Territorium bedeutet, dass du bereits jetzt in einer neuen Welt lebst.
AUS »TERRITORIES TO INHABIT, WORLDS TO CREATE«
Hilfe bei der Kinderbetreuung, Stärke gegen Vermieter*innen und Polizei oder ein gratis Gesundheitscheck sind ganz konkrete Nutzen, die eine Mitgliedschaft im Komitee bedeuten und für viele hier überlebenswichtig sind. Und durch den politischen Diskurs, der anfangs von den Initiator*innen mitgebracht, aber längst ein kollektiv weiterentwickeltes Produkt geworden ist, haben diese ein enorm widerständiges Potential bekommen, deren zentrale Botschaft ist: Staat und Kapital haben kein Interesse daran, unsere Bedürfnisse zu befriedigen – dann machen wir es eben selbst! Marco beschreibt diesen Prozess wie folgt: »Die Leute bemerken nach und nach, was passiert. Am Anfang werden sie vielleicht aktiv, weil sie ein persönliches Ziel verfolgen, nämlich eine Wohnung haben zu wollen. Aber dort hört unsere Arbeit nicht auf – sonst würden wir uns auf der selben Ebene der Wohltätigkeitsarbeit bewegen, wie die Kirche oder andere Organisation sie machen. Aber das reicht höchstens aus, um sein Gewissen rein zu waschen«.
Es wird deutlich, dass das Komitee weitaus mehr als eine bloße Anbieterin selbstorganisierter Sozialleistungen mit revolutionärem Touch ist. Es geht hier nicht bloß um die Befriedigung ökonomischer Grundbedürfnisse. Es geht darum eine andere Art des Zusammenlebens zu kultivieren, die nicht nur die materiellen Schäden kapitalistischer Verwertung zu mildern versucht, sondern gerade auch ihren sozialen Zurichtungen etwas entgegen zu setzen.
Hier im Garten in Genua wird genau das spürbar, was vorher viele eher abstrakt ausgedrückt haben. Ein solches Wochenende hat keinen »direkten politischen Effekt«, noch stellt es eine widerständige Geste des Protests dar. Es ist die praktische Überwindung der Einsamkeit vieler hier, der Vereinzelung und Isolation, in die sie die moderne Metropole zwängt. Hier entsteht ein Kollektiv, eines das sich kennt, das teilt, das sich vertraut. Plötzlich tauchen drei junge Geflüchtete aus dem Senegal auf, die von einem anderen Squat in der Stadt hier her geschickt wurden. Nach einigen Minuten des Fremdelns bekommen sie volle Teller in die Hand gedrückt, nach höchstens einer halben Stunde sind sie bereits Teil von la ronda – und am Ende des Abends tanzen alle immer noch ausgelassen zu Salsa und Reggeaton.
Kristina, die vom ersten Tag an Mitglied des Komitees ist, sitzt derweil am Rand und blickt nachdenklich durch die Tanzenden hindurch. »Was ihr durch den Kopf gehe, wenn sie den Abend hier betrachte?« Sie schweigt. So lange, dass wir schon denken, sie hätte unsere Frage gar nicht gehört. Doch schließlich sagt sie zufrieden feststellend: »Wir leben einen alltäglichen Kommunismus während wir versuchen ihn aufzubauen, weil es gar nicht anders funktioniert, als ihn in der Praxis zu erlernen«
Uniti Possiamo Tutti
Zur Broschüre »Uniti Possiamo Tutti. Selbstorganisierung und soziale Kämpfe in Mailand«
Das malaboca kollektiv hat in den letzten Jahren immer wieder Genoss*innen und Aktivist*innen vor Ort besucht und die Gespräche mit ihnen dokumentiert. Ohne zu sehr der daraus entstandenen Broschüre vorgreifen zu wollen: Sie haben sich intensiv mit der politischen Praxis der Aktivist*innen vor Ort beschäftigt und dabei für die Arbeit in den eigenen Kontexten wichtige Lehren gezogen. In ihrer Einleitung zählen sie vier Punkte auf:
»Konkrete Probleme sind der Ausgangspunkt der politischen Arbeit, anstatt die Kritik an abstrakten Strukturen und Mechanismen, die für die meisten Menschen schwer zu greifen und zu vermitteln sind. Kritik an fehlenden Grünflächen, hohen Mietpreisen, schlechter Gesundheitsversorgung, fehlenden Aufenthaltstiteln, übergriffigem Verhalten in einer Kneipe, ausstehendem Lohn oder Prüfungsstress in der Schule und Uni sprechen Menschen in ihren Erfahrungen direkter an als eine abstrakte Übersetzung dieser Symptome in das, was sie de facto sind: Rassismus, Sexismus und kapitalistische Verwertung.
Vertrauen schaffen und eine real erfahrbare Kollektivität aufbauen, anstatt den Fokus auf eine anonyme Medienöffentlichkeit zu legen, die mit Hochglanzkampagnen adressiert werden soll. Kritik ist nur dann vermittelbar, wenn einem auch jemand zuhört. Und, dass uns jemand zuhört und im besten Fall auch noch glaubt, passiert nur, wenn es ein Vertrauensverhältnis zwischen uns und den potentiellen Zuhörer*innen gibt. Das lässt sich nur durch gemeinsame Erfahrungen aufbauen und funktioniert am besten in einem territorial begrenzten Gebiet, wie einer Nachbarschaft, einem Betrieb, einer Uni, einem Häuserblock.
Selbstorganisierte, konkrete Lösungswege finden und Erfolge verbuchen, anstatt alles auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben. Vertrauen in Solidarität und Selbstorganisation entsteht vor allem dann, wenn sie funktioniert. Erfolgserlebnisse, das heißt die tatsächliche Lösung realer Probleme, sind der Schlüssel dazu, dass Menschen durch diese Erfahrungen gestärkt werden, weitermachen und möglicherweise selber zu Multiplikator*innen dieser Idee werden.
Auf politisches Lernen durch Erfahrung, anstatt ausschließlich auf theoretische Bildung vertrauen. In den eigenen konkreten Alltagserfahrungen ernst genommen zu werden, auf Menschen zu treffen, deren Ziel nicht in erster Linie die Instrumentalisierung für die eigenen Interessen ist, sondern tatsächliche Solidarität – und bestenfalls auch noch die erfolgreiche Lösung konkreter Missstände – ist oft enorm politisierender als ein Buch, Vortrag oder Film.«
Download der Broschüre: Uniti Possiamo Tutti auf englisch | deutsch
malaboca kollektiv | malaboca.noblogs.org