Das skandalöse Verbot der Demonstration am 22. August 2020 in Hanau

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Höhepunkt der bundesweiten Kampagne zur Erinnerung an das rassistische Nazi-Massaker in Hanau vor einem halben Jahr sollte eine Großdemonstration und Kundgebung mit Angehörigen, Freund*innen der Ermordeten in Hanau am 22. August sein. Dazu war seit mehreren Wochen aufgerufen und mobilisiert worden. Bis zu 5.000 Demonstrierende wurden erwartet.

Mit dem Ordnungsamt der Stadt Hanau und dem SPD-Oberbürgermeister hatte die „Initiative 19. Februar”, die die Proteste organisierte, wochenlang verhandelt. Viele Zugeständnisse für ein Demo-Konzept gemäß den Corona-Vorschriften (mit Masken- und Abstandsregeln, die durch Ordner kontrolliert werden sollten usw.) wurden gemacht.

Trotz dieser gewaltigen Zugeständnisse an Ordnungsamt und Polizei bzgl. der Demo-Auflagen wurde am Freitagabend, nur etwa 16 Stunden (!) vor Demobeginn am Samstag um 13 Uhr (somit auch ohne Zeit für eine rechtliche Überprüfung der Entscheidung) von der Stadt Hanau die Demonstration verboten – aus Gesundheitsschutz wegen Corona. Fadenscheinige Begründung war, dass die Zahl der positiven Corona-Tests bis auf 49 je 100.000 Einwohner im Wochendurchschnitt gestiegen sei. Das ist eine typische Methode der Angstmacherei mit willkürlich festgelegten Zahlen.

Sechs Monate nach dem rassistischen Nazi-Massaker am 19. Februar 2020 in Hanau, bei dem neun Menschen ermordet und fünf zum Teil schwer verletzt wurden, fanden bereits am 19. August bundesweit in über 30 Städten Kundgebungen und kleinere Demonstrationen antirassistischer und antifaschistischer Organisationen statt, in Hanau, Berlin, Hamburg, Frankfurt und anderen Städten. Unter dem Motto „Kein Vergeben, kein Vergessen!” wurde die Tat als „Produkt des strukturellen Rassismus dieser Gesellschaft” bezeichnet, Angeprangert wurde, dass Rassismus nicht nur in Nazi-Netzwerken herrscht, sondern auch in zunehmender alltäglicher Polizeigewalt deutlich sichtbar wird, vor allem gegen „undeutsch” aussehende Menschen bis hin zu zahlreichen Polizeimorden an People-of-Colour in den letzten Jahren,

Es ist sehr bezeichnend, dass seit Beginn der politisch verordneten Maßnahmen gegen Corona ab März diesen Jahres Aktionen, Demonstrationen und Kundgebungen mit antirassistischem oder antifaschistischem Inhalt, ja selbst traditionelle Aufmärsche zum 1. Mai, unter dem Vorwand „Gesundheit hat Priorität” nur sehr eingeschränkt erlaubt, verboten wurden oder mit Polizeigewalt unterdrückt worden sind. Bestes Beispiel dafür sind die Solidaritätsaktionen für die Refugees an den Außengrenzen Europas in mehreren Städten Anfang April. Allerdings wurden, trotz vorherrschender staatstreuer Untertanenmentalität bis hinein in fortschrittliche „linke” Kreise, z. B. in Frankfurt auf mutige Weise entgegen dem polizeistaatlichen Demonstrationsverbot erste politische Proteste initiiert und durchgefuhrt (Siehe dazu unser Flugblatt Nr. 55 vom April 2020: „Trotz Demonstrations- und Versammlungsverbot: Vorbildliche Solidaritäts-Aktionen für die Refugees an den Außengrenzen Europas!”).

Bezeichnend für das aktuelle Vorgehen des Staats ist aber auch: Am selben Tag als die Demonstration in Hanau verboten wurde, durften sogenannte Corona-Leugner in Darmstadt aufmarschieren. Vor allem aber gab es in Berlin sowohl am 1. August und später am 29. August zwei der größten, zum Teil von organisierten Nazis dominierten und geführten Aufmärsche mit insgesamt mehreren zehntausend Beteiligten, darunter u. a. Trump-Anhänger, sogenannte „Reichsbürger”, Judenfeinde und Holocaust-Leugner. Bis auf einzelne Zwischenfälle wurden diese Demonstrationen weitgehend von der Polizei geduldet und geschützt. Immerhin hatten sich am 29.08. in Berlin rund tausend Protestierende gegen Rassismus, Antifas und „Omas gegen Rechts” zu einer Gegendemonstration formiert. Diese wurde jedoch von der Polizei drangsaliert und abgedrängt. Eine ursprünglich geplante zentrale Gegenkundgebung vor dem Denkmal für die von den Nazis ermordeten Sinti und Roma Europas gegenüber dem Reichstagsgebäude war nicht erlaubt worden. Die polizeiliche Begründung war, es habe Drohungen von Nazis gegeben, die Kundgebung zu überfallen (taz, 01.09. 2020).

Die „Initiative 19. Februar” wurde faktisch erpresst und sagte die Demonstration in Hanau ab. Die Initiative handelte mit der Stadt als Kompromiss aus, wenigstens die Kundgebung stattfinden zu lassen, um den ungeheuren Schmerz und die Wut der Angehörigen, Freundinnen und Freunde der Ermordeten in würdiger Atmosphäre laut werden zu lassen. Diese wurde jedoch nur „im kleinen Rahmen” mit maximal 249 Zuhörenden erlaubt, die sich auf pinkfarbenen Punkten mit Abstand und Masken vor der Bühne versammeln durften. Allen erreichbaren Gruppen in anderen Städten wurde die Demobilisierung mitgeteilt. Gleichzeitig wurde organisiert und sichergestellt, dass die Kundgebung in über 50 Städten als Videostream auf zentralen Plätzen live übertragen und gezeigt wurde. Allein im benachbarten Frankfurt gab es elf Kundgebungen mit einer anschließenden spontanen Demonstration mit fast tausend Beteiligten. Auch in Dortmund, Potsdam, Hamburg und Kassel fanden solidarische Aktionen und Demonstrationen mit jeweils mehreren hundert Teilnehmenden statt. In Offenbach, Nachbarstadt von Hanau, war eine Demonstration mit der absurden Begründung verboten worden, dass der Anschlag von Hanau sechs Monate her sei und es daher keinen Grund für eine spontane Demonstration gebe.

Unter den Angehörigen der Ermordeten gab es unüberhörbare Stimmen der Empörung gegen das Verbot. Ein Angehöriger kritisierte in seiner Rede auf der Kundgebung die kurzfristige Absage der Demonstration als „respektlos” und rief wütend zu diesem Verbot: „Das ist einfach nur beschämend für diese Stadt und für Oberbürgermeister Claus Kaminsky.” Ein wachsendes Misstrauen gegenüber staatlichen Behörden und vor allem der Polizei, welche die Hinweise auf die rassistischen Absichten des Nazi-Mörders ignorierten und ihm sogar noch einen Waffenschein ausstellten, war aus den Reden der Angehörigen, Freundinnen und Freunde der Ermordeten deutlich zu spüren: „Wir werden von der Polizei als ‚Menschen zweiter Klasse‘ behandelt, wir haben ‚kein Vertrauen mehr‘.“ (FR & taz, 24.08. 2020).

Gleichzeitig zur Kundgebung war die Innenstadt Hanaus voller Menschen, die in Cafes saßen und zum Shoppen unterwegs waren. Im Statement der Initiative vom 19.2.2020 heißt es: „… ein Demoverbot, das … die Absurdität der herrschenden Prioritätensetzung zeigt. Einer Prioritätensetzung, die genauso falsch ist, wie sie uns nicht überrascht. Es trifft als erstes die, die es eben immer als erstes trifft. Und nebenan darf weiter in überfüllten ‚Konsumzonen‘ geshoppt werden.“ (Statement der Initiative Hanau 19. Februar zum 22. August 2020; siehe www.19feb-hanau.org)

Sicher war es gut, die Kundgebung durchzuführen, auf der die Angehörigen, Freundinnen und Freunde der Ermordeten ihren tiefen Schmerz und ihre unbändige Wut über Nazis und Staatsapparat für alle laut hörbar und sehr beeindruckend zum Ausdruck bringen konnten. Es wurde auch ein starkes Zeichen der Solidarität gesetzt, indem die Kundgebung als Live-Video in über 50 Städten für Zehntausende hörbar und miterlebbar übertragen wurde.

Aber das Demoverbot war Erpressung, der vielleicht nachgegeben werden musste. Aber sicher durfte diese Verbotsmaßnahme nicht als „keine politisch motivierte Absage“ eingeschätzt werden. Denn genau das war sie.

Das Demonstrationsverbot ist skandalös und zu verurteilen. Durch die Kurzfristigkeit wurde zudem keine Chance gelassen, die Demonstration juristisch zu erzwingen. Wieder wurde ein polizeistaatliches Verbot, das sich der Repression des Staats unterwirft, durchgesetzt unter dem Vorwand der angeblichen Prioritätensetzung „Gesundheitsschutz hat Vorrang vor Demonstrationsfreiheit”. Diese Prioritätensetzung ist nicht nur absurd und falsch, sondern auch heuchlerisch, wenn gleichzeitig für extrem entrechtete (vor allem osteuropäische) Arbeiter* innen in den Fleischfabriken und der Landwirtschaft, für Geflüchtete in Massenlagem oder gar in den unmenschlichen Camps an Europas Außengrenzen die sogenannten „Corona-Vorschriften” nicht mehr gelten und dort eben keine Priorität haben.

Jede fortschrittlich-demokratische Bewegung, die sich der staatlichen Willkür – wenn auch nur zeitweise – unterwirft und sich freiwillig selbst beschneidet, angeblich aus sozialer Rücksicht und Verantwortungsgefühl oft nur noch digital sichtbar ist und keine größeren Demonstrationen mehr durchführt, oder sich willkürlichen staatlichen Anordnungen unter dem Vorwand von Corona fügt und sich das Demonstrationsrecht nehmen lässt, hilft faktisch den um sich greifenden staatlichen Unterdrückungsmaßnahmen. Das stärkt die in der Bevölkerung heute weit verbreitete Gläubigkeit an die Staatsautorität. Der demokratische Kampf gegen staatliche Bevormundung und Unterdrückung, gegen zunehmende polizeiliche Willkür und Gewalt, gegen strukturellen Rassismus und Nazi-Netzwerke im Staatsapparat sowie gegen die zunehmend in der Gesellschaft Einfluss gewinnenden Nazi-Ideologien und organisierten Nazi-Mordbanden muss hingegen gestärkt werden.

Nehmen wir uns die großartige spontane „Black Lives Matter”-Solidaritätsbewegung zum Vorbild, die sich von keinen polizeistaatlichen Maßnahmen aufhalten ließ und bundesweit in vielen Städten in großen Demonstrationen mit Zehntausenden gegen rassistische und mörderische Polizeigewalt und Naziterror in Deutschland, gegen deutschen Nationalismus und deutschen Rassismus auf den Straßen und Plätzen deutlich sichtbar ankämpfte.

Es gilt nach wie vor das bekannte Motto: „Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt!“

gewantifa

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